Sie merken's nicht mal!

von Wolfgang Behrens

3. Februar 2015. Als ich noch ein Zuschauer war, da hasste ich die Kritiker. Nicht alle, aber doch viele von ihnen. Denn sie waren alt, und sie schrieben nicht über das Theater, das ich sah. Das heißt, natürlich schrieben sie über das Theater, das ich sah, aber sie sahen es nicht. Was sie sahen, diese Herren Iden, Henrichs und Stadelmaier (die Ältesten unter uns werden sich ihrer noch entsinnen, etwa dann, wenn sie morgens die Frankfurter Allgemeine aufschlagen), das war ihre Erinnerung an Aufführungen, die sie vor langer, langer Zeit gesehen hatten. Für das großartige, fantastische, bewegende, aufregende, bewunderungswürdige, grundstürzende, einfach nur geile Theater, das gerade hier – HIER! – und jetzt – JETZT! – stattfand, hatten sie kein Auge und kein Ohr.

Eiskalt in die Glieder fahrender Spott

In ihren Kritiken zu einem "Hamlet" von Heiner Müller, einem "Faust" von Schleef oder den "Räubern" von Castorf standen dann Wendungen wie: "aber damals, in den 1970ern an Peter Steins Schaubühne", "wie anders war das bei Barlog", "bei Kortner sah das noch so aus", "wer sehnte sich hier nicht in Reinhardts Zeiten zurück" (bitte nicht googeln, alles frei erfunden!), und einige von ihnen – da war ich mir sicher – hatten ein so kolossales Gedächtnis, dass sie sich sogar an die Uraufführung der "Perser" des Aischylos erinnern konnten.

kolumne wolfgangMag ja sein, dachte ich, dass diese ollen Fehlings und Lietzaus auch ganz gutes Theater gemacht haben, was freilich interessiert mich dieser Schnee von gestern? Was wir heute, in den 80ern und in den 90ern erleben, das ist es doch! Aber eben das übergossen diese grundbösen Kritikermenschen mit ihrer hell auflodernden Verachtung und mit ihrem eiskalt in die Glieder fahrenden Spott, und – ja-ha-ha! – sie beschworen gar die Krise des Theaters herauf und riefen zu seiner gegenwärtigen Verteidigung nur noch manchmal japsend die Namen anderer alter Männer: "Za-dek!" "Grü-ber!" "Bon-dy!"  Und da saßen sie also, an den Schaltstellen der großen Zeitungen und priesen eine Theaterkunst, die vor Jahrzehnten stattgehabt hatte! Wie ich sie hasste!

Glücklicherweise bin ich nun selbst in die Lage gekommen, ab und an meine Stimme in den kritischen Chor zu mischen. Ach, das ist wirklich etwas Anderes! Jetzt kann ich es endlich laut herausschreien, wie toll diese Dinger damals waren, als ich noch Zuschauer war, die Inszenierungen von Müller, Berghaus, Schleef, Castorf, Schlingensief und wie sie alle heißen. Manchmal hält zwar noch ein alter Mann dagegen, aber ich habe den Eindruck, dass die irgendwie weniger werden. Bald hat sich das gewissermaßen von selbst erledigt (oh, Entschuldigung!, das war jetzt wohl zynisch), und mein Kanon von damals hat sich ja ohnehin schon durchgesetzt.

Entspann dich mal, Alter

Was mich nur ein wenig irritiert, sind diese jungen Leute, die jetzt manchmal kommen und von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Sie sehen etwa irgendeine ganz und gar dümmliche Aufführung von "Kasimir und Karoline", finden die klasse, und wenn ich dann sage: "Moment mal, denkt doch mal an die Aufführung von Marthaler, damals, 1997!", dann sehen sie mich verständnislos an. Und was ich am schlimmsten finde: Diese unerfahrenen, geschichtsvergessenen Menschen merken noch nicht einmal, wie unbedeutend, unwichtig und ästhetisch belanglos all dieses Zeugs ist, das man heute auf der Bühne sieht. Ha, damals, bei Günther Rühle am Schauspiel Frankfurt, am Berliner Ensemble unter Müller, das waren noch andere Zeiten! Als Schlingensief und Schleef noch lebten, da lebte auch das Theater, da BEDEUTETE es noch etwas! Aber ich brauche das den nachwachsenden Generationen gar nicht zu erzählen, die zucken nur mit der Schulter und sagen: "Entspann Dich mal, Alter, Solberg ist doch auch sehr cool!"

O, wie ich sie hasse, diese jungen Leute!

 

behrens2 kleinWolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin.
Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 80er und 90er.

Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war

Wolfgang Behrens

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 am Staatstheater Wiesbaden tätig - zunächst als Dramaturg, inzwischen als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

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Kommentare  
Kolumne Wolfgang Behrens: An den gleichen Orten suchen
Wenn man sich die TT-Auswahl ansieht, dann denkt man: so schwach war es selten. Weil man statt was Neues zu suchen immer noch versucht Klassiker wie Schlingensief ( obwohl er nur einmal da war) Schleef etc an den immer gleichen Orten aufzutreiben.
Kolumne Wolfgang Behrens: Cool
Ja cool. Schöne Beschreibung.
Kolumne Wolfgang Behrens: Zeitgenossenschaft ist noch kein Verdienst
Ja, lieber Wolfgang Behrens, aber wenn die Alten, als Sie jung und noch kein Kritiker waren, vielleicht recht hatten bezüglich Kortner oder sogar Meyerhold oder Artaud - wäre es nicht denkbar, dass die Jungen heute ebenso irren wie Sie einst? Wo endet die berechtigte Skepsis gegenüber dem eigenen Urteil und die Anbiederung an die Jugend? Müssen wir uns zwischen dieser Alternative entscheiden? Muss ich bei jeder S-Bahn-Fahrt ein Smartphone anstarren, bloß weil meine Mutter mich einst bat, das Radio leiser zu stellen (wofür ich überhaupt kein Verständnis hatte)? Man kann doch Solberg cool und Piscator trotzdem bemerkenswert finden - oder zumindest zur Kenntnis nehmen. Übrigens: ich habe mich auch als junger Mensch und ganz gewöhnlicher Zuschauer für die Filme von Eisenstein und Bunuel begeistert. Die waren gut zwei Jahrzehnte vor meiner Geburt entstanden. Zeitgenossenschaft ist noch kein Verdienst.
Kolumne Wolfgang Behrens: auch doof
ich bin jung und finde Solberg auch doof
Kolumne Wolfgang Behrens: Der Kolumnist legt nach
Lieber Herr Rothschild,
ich glaube nicht, dass die Alten damals in Bezug auf Kortner und Konsorten irrten, ich glaube aber, dass sie sich bei Stein, Grüber oder wem auch immer eine Theaterprägung erworben haben, die sie blind machte gegenüber Handschriften, die neuer als Stein und Grüber waren. (Eine kleine Nebenbemerkung übrigens: So einen Verriss von Henrichs etwa konnte man ja auch lieben, selbst wenn man komplett gegenteiliger Ansicht war als er, denn es teilte sich darin zumindest eine sehr heftige Reaktion mit. Henrichs' Totalverriss der "Schauspieler"-Inszenierung von Schleef - die ich nicht gesehen habe - hat mir mehr über die Intensiät dieser Produktion erzählt als alles, was ich sonst darüber gelesen habe.)
Die Frage, die ich mir jenseits jeder Anbiederung an "die Jugend" stelle, ist: Wie verhindert man, dass man selbst seiner Prägung, die ohne Zweifel vorliegt, ein zu großes Übergewicht zugesteht? M.E. ist das nur schwer zu bewerkstelligen. Außer einer permanenten Selbstbefragung (der sich keiner gerne unterzieht, denn auf ein paar Sicherheiten möchte man ja irgendwann einmal zurückgreifen können) habe ich da noch keinen plausiblen Weg gefunden.
Kolumne Wolfgang Behrens: Prägungen nicht unüberwindbar
Lieber Wolfgang Behrens,
wohl wahr. Aber muss die Prägung unbedingt negativ sein? Ist die Prägung durch die Gegenwart (unbefragt) im Recht? Um ein Beispiel zu nennen, das mich nicht dem Verdacht aussetzt, in eigener Sache zu sprechen, und um über den Tellerrand des Theaters zu schauen: Sollten jene, die vom Pazifismus der Zwischenkriegszeit "geprägt" waren, verhindern, dass sie ihrer Prägung ein zu großes Übergewicht zugestehen - zugunsten der Prägung durch die HJ? Ich denke, Urteile - ob sie nun durch eine Prägung in der Jugend, aktuelle Moden oder einen aparten Geschmack determiniert sind - sollten permanent befragt, überprüft, verglichen werden. Wieder persönlich: Ich habe in meiner Jugend weder mit Bruckner, noch mit Landschaften, noch mit Spinat viel anfangen können. Das hat sich, trotz Prägung, geändert. Und im Übrigen: das Burgtheater vor Benning fand ich trotz meiner Jugend tödlich. Wir sind doch nicht nur Produkte unserer Biographie. Es soll sogar sehr junge Menschen geben, die lieber Bob Dylan hören als Helene Fischer. Und was Schleef betrifft: nach meiner Beobachtung gehen da Ablehnung und Zustimmung quer durch die Generationen. Elfriede Jelinek, die im gleichen Jahr geboren wurde wie Benjamin Henrichs, hält ihn für eins der wenigen Genies - wie den nicht weniger umstrittenen Fassbinder. Sogar die Begründungen für die Ablehnung von Schleef unterscheiden sich ästhetisch wie politisch. Will sagen: es ist alles nicht so einfach. Wären Prägungen unüberwindbar, müssten wir verzweifeln. Sind die Pegida-Anhänger unveränderbar geprägt? Ich hoffe, nicht.
Kolumne Wolfgang Behrens: nicht für die Ewigkeit
Wenn wir von Prägungen reden: Ich selbst bin über zehn Jahre in einer mittelgroßen Stadt durch biederstes psychologisch realistisches Theater geprägt worden, dass am dortigen Theater als einzige Form zu besichtigen war - und das Mitten in den neunziger Jahren. Ich hielt das für den Nabel der Welt und liebe es. Das spätere Studium in großen Metropolen änderte den Blick grundsätzlich. Was ich damals toll fand, würde mich heute nur noch langweilen, aber auch der Thalheimer meiner ersten Studienjahre ist für mich heute kein Referenzrahmen mehr - sie irren lieber Herr Behrens, Prägungen sind nicht für die Ewigkeit - vielleicht ist es auch für Sie an der Zeit der Volksbühne der neunziger Jahre adieu zu sagen...
Kolumne Wolfgang Behrens: Bob Dylan vs. Helene Fischer?
Lieber herr Rothschild sie scheinen aber schon sehr geprägt zu sein wenn sie die Gleichung aufmachen alt= Bob Dylan // jung = Helene Fischer.
Kolumne Wolfgang Behrens: Gedankenspiel
@6
Lieber Herr Rothschild,
Sie werfen da aber ganz schön viel durcheinander: Spinat, Helene Fischer, Übergewicht, Pegida. Puhh, da wird einem ganz schwindelig. Das nenne ich eine gelungene Flucht in die Beliebigkeit. Sie vergessen, vermute ich, dass es sich hier um eine selbstironisch zugespitzte Kolumne handelt, die das Gedankenspiel ausführt, ein Kritiker sei kein Zuschauer und umgekehrt. Es geht hier, denke ich, nicht darum, wer Recht hat oder nicht. Diese Vorstellung ist lustig: Dass in einer Theateraufführung ausschließlich KritikerInnen sitzen (sagen wir mal 600). Ist das dann ein Theater ohne Zuschauer?
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