Wie die Karnickel

von Georg Kasch

Berlin, 4. Februar 2015. Treffen sich ein paar russische Juden, ein kurdischer Türke und ein deutscher Amerikaner in Berlin, um Weihnachten zu feiern. Der Witz hat keine Pointe? Stimmt. Aber jede Menge Konfliktpotential. Doch das steckt in dieser post-religiösen Runde gerade nicht in den Nationalitäts- und Religionsunterschieden, sondern eher zwischen den Generationen, in alltäglichen innerfamiliären Zerrüttungen.

Gestörte Verhältnisse, wie sie im Buche stehen

Kann sein, dass diese Konstellation, hätte die Premiere wie geplant im Dezember stattgefunden (sie wurde wegen eines Trauerfalls verschoben), etwas mehr Funken geschlagen hätte. Jetzt, wo Weihnachten so unendlich lange zurückzuliegen scheint, hat Marianna Salzmann ihrem neuen Stück "Wir Zöpfe" (oder Regisseurin Babett Grube oder das Ensemble, wer weiß) einen Prolog vorangestellt, der in seiner Lässigkeit Gutes verheißt: Da geht Anastasia Gubareva ans Mikro am Bühnenrand, erklärt kurz die Situation und stellt die Protagonisten vor.

Doch dann schnurrt auf der engen Vorbühne des Berliner Gorki-Theaters das Stück ab, wie es auf dem Blatte steht: Wera hat ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Tochter Nadeshda, weil sie früher von Russland aus für lange Zeit zum Arbeiten nach Deutschland weggefahren ist. Nadeshda rächt sich, indem sie ihr Kind zwar Ljubov nennt, wie es sich Wera gewünscht hatte – aber erst, nachdem sie es abgetrieben hat. Ljubovs "Vater" ist ein Amerikaner mit deutschen Wurzeln, der – wie es der Zufall so will – nicht nur mit Nadeshda, sondern auch mit ihrer Mutter vögelt (was am Ende irgendwo zwischen Seifenoper und Vaudeville herauskommt). Außerdem gibt's noch den Großvater Konstantin, der noch bei der Roten Armee kämpfte, den türkischen Kurden Imran, den die Ärztin Wera im Krankenhaus trifft, weil Neonazis ihn krankenhausreif geschlagenen haben, zudem einen zugedröhnten Krankenhausengel namens Chris, der ohne Eigenschaften auskommt. Und Ljubov, das ungeborene Kind.

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Gubareva als Nadeshda © Ute Langkafel

Zusammengepflocktes Karnickel

"Wir Zöpfe" wirkt, als wolle uns Salzmann sagen: Wir sind zwar verschieden, müssen uns aber alle mit den gleichen Problemen rumschlagen, die weniger was mit Nationalitäten als mit menschlichen Verletzungen zu tun haben. Was ebenso mit dem Holzhammer der Überdeutlichkeit zusammengepflockt ist wie viele der Details: Die Namensreihung der Frauen etwa bedeutet Glaube, Hoffnung, Liebe, was schon ziemlich viel Ballast für eine innerfamiliäre Figurenkonstellation ist. Dazu flicht Salzmann Haare als verbindendes Glied in den Text – die einen wollen lange, die anderen kurze, die dritten schneiden sie den anderen ab. So ungefähr. Und dann ist da noch Berlin, die Stadt, zu der sich die Schauspieler regelmäßig zusammenrotten und vielstimmig ein hippsterbashendes, Wim Wenders zitierendes Panorama entwerfen (was szenisch genau gearbeitet ist).

Salzmann schreibt – wie schon in ihren Hits Schwimmen lernen und Muttersprache Mameloschn – oft kreuzsympathische Dialoge, die lässig im gewollt zusammengezimmerten Dramengerüst schwingen. Doch sie kommen nicht an gegen all die Stereotype und Klischees, die Salzmann anhäuft. Babett Grube lässt das alles auf dem vorderen Bühnenstreifen spielen, weil das gesamte Portal vom Bauch und einem Hinterlauf eines Kaninchens ausgefüllt ist, das Léa Dietrich da hingezirkelt hat – geht es im Stück doch auch darum, dass alle rammeln wie die Karnickel und keiner die Konsequenzen tragen will (oder kann). Zunehmend klettern die Schauspieler auf, hinter und um den Fellberg herum. Alle sehnen sie sich ja nach einer Geborgenheit, die es erst im Jenseits zu geben scheint, wo Ljubov am Ende mit dem Großvater kuschelt.

Weggedrückt und aufgebläht

Vorne jedenfalls bleibt ein relativ schmaler Grat, auf dem die sieben Schauspieler wie aufgebläht wirken von den weggedrückten Emotionen. Am wunderbarsten gelingt das Dimitrij Schaad, der als ungeborene Ljubov Witze ins unerträglich Schwarze steigert und überhaupt voller Wut steckt, ein fieses Springteufelchen aus dem Jenseits, das eigentlich nur seiner Mutter sagen will, dass es gern gelebt hätte. Die ist bei Anastasia Gubareva eine dauerangefressene junge Frau, die sich genervt an Weras gestressten Zwangsoptimismus reibt. Davon bleibt in der Weihnachtsszene (mit riesigen Kartoffelknödeln – ist ja Deutschland hier) bei İlknur Bahadır nur ein pfeifendes Stöhnen zwischen Lachen, Schluckauf und Schrei. Wenn Tim Porath seinen Konstantin als eine Art sexbesessenen Opa Hoppenstedt hinknattert, gibt's wenigstens was zu schmunzeln.

Ansonsten ist diese Komödie ebenso wenig zum Lachen wie das Leben, obwohl ständig Witze gerissen werden und Grube das Tempo hoch hält wie in ihrer Radikal-jung-Gewinner-Inszenierung demut vor deinen taten baby. Aber das funktioniert mit diesem Text nicht, der sich – wenn überhaupt – wohl allenfalls durch noch mehr Groteske und radikale Striche retten ließe.

 

Wir Zöpfe (UA)
von Marianna Salzmann
Regie: Babett Grube, Bühne: Lea Dietrich, Kostüme: Daniela Selig, Dramaturgie: Aljoscha Begrich, Musik: Clemens Mädge.
Mit: Mehmet Ateşçi, İlknur Bahadır, Anastasia Gubareva, Tim Porath, Taner Şahintürk, Dimitrij Schaad, Mehmet Yılmaz.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Das Hasenbühnenbild "atmet, der Bauch pumpt sich auf, sackt zusammen. Was soll der Hase? Warum lebt er?" Es gebe keine keine Antwort darauf. "Alle Menschen, die an diesem Abend an diesem Hasen herummachen, quält diese Fragen: wozu? warum?", so Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (6.2.2015) über die "brave, fast schüchterne, wenn nicht einfallslos der Vorlage hinterherhoppelnden Inszenierung". Fortwährend werden Differenzen markiert, die zugleich folgenlos sein sollen, "Unterschiede zwischen Deutschen und Russen, Juden und Nicht-Juden, Alten und Jungen, Toten und Lebenden". Lauter an den Haaren (!) herbeigezogene Figuren in papiernen Konflikten. "Die Schauspieler haben entsprechend fortwährend Probleme zu bewältigen, für die sie nur Notlösungen finden können: Finger kneten, Augen aufreißen, am Rock zupfen. So Sachen."

"Salzmanns Stück ist auch ein Resonanzraum für ein Miteinander, dem weniger kulturelle Unterschiede als die Emotionen im Weg stehen". Alle Figuren tun so, als wollten sie immer nur Spaß. Was dann auch zum Problem des Abends werde, schreibt Simone Kaempf in der taz Berlin Kultur (6.2.2015). Regisseurin Grube und die Spieler packen das Stück als Komödie mit viel Blödelei und Randgruppenwitzen, die allerdings nicht so recht zünden wollen. "Die misslungene Weihnachtsgans ist für ein paar Scherze gut. Wenn Geborgenheit gesucht wird, klettert man auf einem Fellberg - das Hinterteil eines riesigen liegenden Tiers, das sich Bühnenbildnerin Lea Dietrich ausgedacht hat und ein Fremdkörper der Inszenierung bleibt." Fazit: Die Schmerzens- und Herzenssehnsüchte des Texts bekommen Schauspieler und Inszenierung nicht zu fassen.

"Uraufführungsregisseurin Babett Grube und das Gorki-Ensemble setzen voll auf die Komödie, die zweifellos auch in 'Wir Zöpfe' steckt", so Eva Behrendt in der Sendung Fazit im Deutschlandradio (4.2.2015). "Manche Szenen versinken komplett im Klamauk, etwa die zarte Annäherung von Imran und Wera, bei der Ilknur Bahadir ihre Wera mit in den Mund gestopftem Lebkuchen zum Verstummen bringt." Anastasia Gubareva und Dimitrij Schaad dürften dagegen durchaus zeigen, dass die Gratwanderung zwischen psychologischem Realismus und figurendistanzierter Performance möglich ist. Einmal erzähle Dimitrij Schaads Ljubow eine ganze Serie von immer übleren Witzen. Als letztes erzähle er einen bösen Mutterwitz, "und in seiner Stimme liegt die ganze Wut und Trauer des zurückgewiesenen Kindes. Die Szene dauert nicht mal zehn Minuten, aber in ihr verdichtet sich das ganze Stück."

Regisseurin Babett Grube verpasst dem Stück eine schauspielerische Lockerungskur, bei ihr wirken die Figuren vor allem lustig bis skurril, so Hartmut Krug auf DLF Kultur heute (5.2.2015). "Das rattert so dahin und bleibt doch öfter in Spannungslöchern stecken." Und habe mit einer langen Szene eine überflüssige Hinzufügung, in der die geschmacklosesten und bösesten Witze über und gegen allerlei, vor allem über Frauen und Homosexuelle erzählt werden. Es gebe einen offenen Schluss eines Theaterabends, dessen Text recht vorhersehbar aufgemotzt wirke, "in einer Inszenierung, die vergeblich versucht, das Stück in 90 langen Minuten mit komödiantischer Aufgedrehtheit zu retten".

 

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