Frische Onlinefische!

Virtueller Raum, 12. Februar 2015. Seitdem Kay Voges die Leitung des Schauspiels Dortmund übernommen hat, wird dort das Stadttheater so dermaßen permanent neu erfunden, dass man es schon mit der Angst zu tun bekommen kann. Kaum hat man mal 10 Minuten nicht nach Dortmund geschaut, hat man den nächsten Knaller verpasst (und damit ist nicht der bevorstehende Ligawechsel des BVB gemeint).

Was gab's da nicht schon alles an heftigen Avantgarde-Setzungen zu sehen: per Börsenspiel konnte man die Nordstadt erkunden, Live-Programmierer machten sich auf der Bühne breit, ein Film wurde kurzerhand als Theater verkauft, ehe man dazu überging, direkt Live-Filme zu produzieren, bei denen die Zuschauer überdies per App das Handlungsfinale mitbestimmen konnten, ein andermal durfte das Publikum Applaus via Twitter spenden, und ein Dogma-Manifest hat man auch gleich mal rausgehauen. Und ja, ja, ja – das Ganze hat Erfolg, nicht zuletzt auch deswegen, weil das Schauspiel Dortmund wie kein anderes Theater die Virtualität als einen Teil seines künstlerischen Raumes begreift. Anstatt etwa nur über den Theater-Live-Stream zu reden, hat man's in Dortmund halt einfach mal probiert – wenn auch (irgendwie blöd gelaufen!) aus Urheberrechtsgründen die Chose gerade nicht im Internet, sondern nur im Rahmen einer geschlossenen Veranstaltung steigen konnte.

Aufs Vokabular kommt's an

Aber was soll's, denn das ganz große Ding kommt ja erst heute! Wer den Spielplan des Schauspiels Dortmund studiert (und das sollte man fleißig tun, denn sonst: siehe oben!), der stößt unter dem Datum des 12. Februar 2015 auf eine "Onlinepremiere", Beginn 8 Uhr. Juhu, es ist also soweit, das Theater findet jetzt voll und ganz im Netz statt, brennt die Häuser nieder! Das Ganze ist so epochal, dass wir von nachtkritik.de sogar unsere ehernen Prinzipien gebrochen und uns (dank Presse-Link) eine Voraufführung angesehen haben. Ganz exklusiv sitze ich also in meinem virtuellen Theaterraum und sehe die Vorabpremiere von Wenn Gott die Wiederholung nicht gewollt hätte von Mario Simon.

wenn gott filmstill 560 mario simonFilmstill "Wenn Gott die Wiederholung nicht gewollt hätte" von Mario Simon

Aber, nanu, was ist das denn? Das Filmchen dauert zwar immerhin eine knappe halbe Stunde, aber inhaltlich ist diese Backstage-Dokumentation über Das goldene Zeitalter (die avantgardistische Dortmunder Vorzeige-Produktion, die ihr Endlosschleifen-Material jeden Abend neu zusammensetzt) nichts weiter als ein längerer Trailer: ein Programmheftbeitrag in filmischer Form, angereichert mit ein paar Stimmen aus dem Publikum. Also jetzt mal im Ernst, liebes Dortmunder Team: Ihr macht ja echt gute Arbeit da im Pott, aber wenn ihr demnächst jeden Filmschnipsel, den ihr ins Netz stellt, als "Onlinepremiere" bewerbt, dann entwertet ihr euer Vokabular. Spart euch die großen Worte lieber für Großes auf! Der gute Marktschreier hat nicht nur Wucht in der Kehle, sondern auch fette Goldmakrelen auf der Theke.

(Wolfgang Behrens)