Wenn das Herz schimmelt

von Christian Rakow

Berlin, 19. Februar 2015. Es gibt Sätze, die stehen so aufrecht und fest, so alt und doch so kraftvoll wie ein bejahrter Lebensbaum, die könnten sowohl in einen Tschechowschen Kirschgarten als auch in den abgerockten Görlitzer Park im Berlin von Heute passen. Solche wie sie Susanne ihrem Sohn im Brief schreibt: "Pass' immer gut auf Deine Hoffnung auf. Noch hast Du welche. (...) Ich hoffe für Dich, dass Deine Hoffnung erst dann stirbt, wenn auch Du stirbst." Es sind schlichte Sätze, immergrüne Sehnsuchtsformeln, meinetwegen. Aber in dem Moment, da sie gesprochen werden, künden sie von einem ganzen Leben, beschwören sie den Spross der Hoffnung in der Zeit des Welkens.

"Deine Haut färbt ja gar nicht ab"

In Olivia Wenzels eindrücklichem Rumpffamilien-Drama "Mais in Deutschland und anderen Galaxien" gibt es zahllose solcher Sätze, die man festhalten möchte, schon weil die Figuren so wie Treibholz durch ihre Leben schlingern: Susanne hat in den 1980er Jahren auf diverse Arten probiert, dem grauen Alltag der untergehenden DDR zu entkommen: Selbstmordversuch, Einstieg in die Punkbewegung, Alkohol. Mit dem Angolaner George zeugt sie ihren Sohn Noah, um sich – so das Kalkül – per Familienzusammenführung ins Ausland absetzen zu können.

Das Vorhaben misslingt, weil die Stasi sie längst auf dem Kieker hat. Und Noah wächst auf als Kind, das sich von Gleichaltrigen anhören darf: "Deine Haut färbt ja gar nicht ab", das von der überforderten Mutter mehr geduldet als geliebt wird und von den Großeltern alle Zuneigung erhält, wenngleich nach Spießerart: "Das Dunkle, das ist doch nicht so schlimm. / Das kriegen wir schon hin!" Es sind Großeltern, die sich auch mal bei der SED-Kreisleitung von ihrer rebellierenden Tochter pflichtbewusst förmlich "distanzieren".

mais 560b wagnercarvalho uNoah und der Rest der Welt: Atilla Oener, Toks Körner, Theo Plakoudakis © Wagner Carvalho

Wenzel rückt Noah als Erzähler und Protagonisten in den Mittelpunkt, spannt über ihn in kurzen Szenen den Familien-Bilderbogen von der Vergangenheit über die bundesdeutsche Gegenwart bis in die Zukunft hinein auf. Der Text ist in einer "postmigrantischen Literaturwerkstatt" (koordiniert mit Marianna Salzmann und dem Gorki Theater) entstanden und läuft im Ballhaus Naunynstraße im Rahmen eines Schwerpunkts zur Kolonialgeschichte Deutschlands.

Mal Witz, mal Kindermund

Aber sein Diskursgewicht trägt er in keiner Sekunde vor sich her, nirgends türmen sich Sach-Monologe auf. Alles hat Wenzel mit federleichtem Strich in die Momentaufnahmen ihrer Figuren verlegt. Gelegentlich lagern ein fiktives Stasi-Überwachungsprotokoll oder ein Brief der Eltern den historischen Hintergrund an; Parabelhaftes zur postmigrantischen Rolle Noahs (!) schleicht sich in unprätentiösen Dialogen, mal als Witz, mal als Kindermund herein.

Mit zunehmender Dauer sprengt Wenzel den Realismus ihrer Szenen auf und etabliert einen surreal anmutenden Strang, in dem eine hereingewehte Frau namens Lila als rätselhafte Schicksalsfigur Noah und seiner Mutter zur Seite tritt. Ein schräger Paradiesvogel ist diese Lila (auf der Bühne der Naunynstraße lustvoll verkörpert von Isabelle Redfern), randvoll gefüllt mit Alltagswissen Marke Zeitschriftenillustrierte ("Wussten Sie, dass man aus Mais Popcorn machen kann?"), in das sich gelegentlich ein Hauch von Ewigkeit verliert: "Wusstet Ihr, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das weint?"

Liebevolle Beobachtungen

Für die Uraufführung von "Mais in Deutschland und anderen Galaxien" hat Regisseur Atif Mohammed Nor Hussein mit seiner Ausstatterin Petra Korink ein Iglu-Zelt in den intimen Saal des Ballhauses Naunynstraße gestellt, das ab und an mit Kindheitsprojektionen beschienen wird. Vor diesem Symbol des Unbehausten entwickelt er in Windeseile Szenen aus dezenter Komik, in denen anchargierte Figuren immer wieder durch genaue, liebevolle Beobachtungen aufgewertet werden. Wenn Theo Plakoudakis (als Großvater und Großmutter in einer Person) einmal mit störrischem Sinn und linkischer Hand minutenlang ein Geschenk von Noah öffnet, dann kommt der Abend in seinem entspannten Humor ganz zu sich.

Die Hauptfigur Noah hat Hussein auf mehrere Spieler verteilt: Toks Körner stattet ihn in allen Lebensaltern mit einer jungenhaften Zartheit aus; Dela Dabulamanzi gewinnt dem im eigenen Erwachsenen- und Familienleben frustriert dahintreibenden Noah einige schmerzhafte Selbsterkundungen ab; Asad Schwarz-Msesilamba kämpft sich als Noah in der Midlife-Crisis mit Mutter und der penetranten Lila ab. Mit dickem, schwarzem Kajalstrich unter den Augen trudelt Lisa Scheibner ihm als ausgebrannte, meist leicht entrückte Punkmutter Susanne an seinen Stationen entgegen.

mais 560c wagnercarvalho uIm Punk-Iglu: Asad Schwarz-Msesilamba, Lisa Scheibner, Isabelle Redfern © Wagner Carvalho

Schroffe Konfliktzuspitzungen meidet der Abend. Ein in einer früheren Arbeitsfassung angedachter handgreiflicher Streit zwischen Noah und seinem Freund Freddy fehlt in der Uraufführung ebenso wie eine längere Wutrede Noahs gegen alle und jeden von den U-Bahnschnorrern bis hin zu pädophilen katholischen Priestern, mit der die Regie im Probenprozess experimentierte. Markierungen verlaufen eher subkutan als offensiv rassistisch, wenn Freddy Noah kosend als "Schokohasen" anspricht. An diesem Punkt verpflichtet sich der Abend seinem Protagonisten, von dem die Mutter behauptet, er sei "besorgniserregend harmlos".

(Ost-)Deutsche Enge

Aber eben, auch das scheinbar Harmlose kann Besorgnis erregen. Wenn der Abend ruhig, manchmal auch sentimental, aber nie ölig, über verkorkste Ausbruchswünsche erzählt, dann zeichnet er zugleich das Bild einer (ost-)deutschen kleinbürgerlichen Enge, einer Psychostruktur, geprägt aus Angst vor Abweichung und Fremdheit. Sie hat sich eingeschrieben in das Leben dieser Antihelden Susanne und Noah, sie füttert ihr Unbehagen. So spannt "Mais in Deutschland und anderen Galaxien" eine heutige postmigrantische Verortung und einen Versuch zur Vorwendezeit zusammen – eine frische Heimatansicht kurz nach dem Mauerfalljubiläum. Zum Höhepunkt (oder in ihrem Falle: andauerndem Tiefpunkt?) legt Susanne eine Punkhymne aus den Wendejahren von der Cottbusser Band Sandow auf: "Mein Herz schimmelt."

 

Mais in Deutschland und anderen Galaxien
von Olivia Wenzel
Uraufführung
Regie: Atif Mohammed Nor Hussein, Ausstattung: Petra Korink, Dramaturgie: Katja Wenzel und Nora Haakh.
Mit: Dela Dabulamanzi, Theo Plakoudakis, Lisa Scheibner, Toks Körner, Isabelle Redfern, Atilla Oener, Asad Schwarz-Msesilamba.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.ballhausnaunynstrasse.de

 

Mehr über Olivia Wenzel? Die Autorin schreibt u.a. für machina eX (Blind Variation #3) und war sowohl 2013 in der Langen Nacht der Autoren der Berliner Autorentheatertage als auch 2011 in der Münchner Langen Nacht der Neuen Dramatik vertreten.

Kritikenrundschau

"Das Unfertige, nicht ganz Passende, das allen Kostümen von Petra Korink eigen ist, wird zu Noahs Eigenschaft - nie kommt er ganz bei sich an", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz Berlin Kultur (23.2.2015). Sich in der eigenen Familiengeschichte umzuschauen, um sich des Selbst zu vergewissern, sei ein wiederkehrendes Motiv in den Ballhaus-Stücken. Regisseur Hussein verfahre liebevoll mit seinen Figuren, auch dort, "wo der Text sie eigentlich nur in groben und etwas klischeehaften Strichen zeichne". Dort allerdings, wo es surrealer werde und Figuren und Dialoge eher symbolisch angelegt seien, verliere auch das Spiel seinen sicheren Grund.

Wenzel, 1985 in Weimar geboren, erzähle kein Drama über die DDR, auch keins über Rassismus und Ausgrenzung, sondern von der unüberbrückbaren Entfernung zwischen Menschen, schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (21.2.2015). "Die Stärke des Textes liegt in der sprachgewaltigen Pointiertheit, mit der er durch die Stationen eines Lebens zappt, von der Kindheit bis ins Alter. Schlaglichtartig, sprunghaft und mit surrealen Einsprengseln." Regisseur Hussein übersetze den Text mit schlanker Fantasie auf die Bühne von Petra Korink, einem raumkapselartiges Zelt.

Das Stück "versammelt in ständigen Vor- und Rückblenden allerlei Psychologisches und Politisches", wobei, abgesehen von einigen Handlungsmomenten, "schwarze Hautfarbe kein Problem oder kein Thema" sei, berichtet Ute Büsing im Inforadio des rbb (20.2.2015). Atif Husseins "Inszenierung gelingen einige anrührende Momente", aber im Ganzen sei "vielleicht ein bisschen viel Poesie hineingezwungen in Text wie Inszenierung – in der dann allerdings durchaus lustvoll die verschiedenen Ebenen durchmischt werden."

"Wäre da nicht der wunderbare Regieeinfall, diesen Noah im dauernden Wechsel von zwei Darstellern und einer Darstellerin mit wechselnden Haltungen und Entwicklungen spielen zu lassen, würde dies allzu nüchtern konstruiert wirken", so Hartmut Krug auf Deutschlandradio Kultur (19.2.2015). Den knappen Klischees, "Problem des Stücks", wehren der Regisseur und seine Darsteller mit einigem Erfolg. Fazit: "Die Aufführung besitzt etliche schöne Momente. Leider aber hat man spätestens nach einer der anderthalb Aufführungsstunden das Gefühl, es sei längst alles gesagt."

 

Kommentare  
Mais in Deutschland, Berlin: feiner Humor
Wirklich ein ganz besonderer Theaterabend mit guten Schauspieler_innen. Mir gefiel besonders, wie selbstverständlich mit den Themen Migration und Rassismus umgegangen wird. Es ist wie es ist. Das muss nicht schöngeredet oder dramatisiert werden. Der feine Humor der Inszenierung ist ganz ausgezeichnet.
Mais in Deutschland, Berlin: Thesentheater
Die Aufspaltung der Noah-Figur in drei Darsteller – von denen vor allem Toks Körners verzweifelt ohnmächtige Wut in Erinnerung bleibt – ermöglicht die szenische Parallelität und führt zu eindringlich verkörperter Selbstreflexion, wenn sich das reflektierende vom reflektierten Ich trennt, die Zerrissenheit des Protagonisten veranschaulicht sie nicht, zu sehr sind den drei Noahs spezifische Rollen vorgegeben. Asad Schwarz-Msesilamba etwa sind die Fantasiesequenzen überlassen – ein Grund, warum dieser doch zentrale Bestandteil der Geschichte Fremdkörper bleibt. Hussein weiß damit wenig mehr anzufangen als ein schönes Bild mit bunten blinkenden Bällen zu schaffen, und fühlt sich sichtlich wohler, wenn es zurück geht in die „Realität“. Überhaupt hat die Inszenierung über weite Strecken die Lebendigkeit einer szenischen Lesung. Hussein lässt vortragen, bebildert, illustriert, aber er findet – und sucht ihn vielleicht auch nicht – keinen eigenen Zugang zu diesem Text, der, so sehr er in den Mittelpunkt rückt, den Zuschauer doch auf Distanz hält, weil er eben nie wirklich in Spiel übersetzt wird. Am Ende bleibt Stückwerk, ein wenig blutleeres Thesentheater, dem ein mutigerer Regiezugriff zu wünschen wäre, der etwas weniger Ehrfurcht vor dem Text hat. Bei all dem komischen und absurden Potenzial, das er aufweist, sind die Samthandschuhe, die sich Hussein übergestreift hat, fehl am Platz.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/02/20/o-mother-where-art-thou/
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