Geboren aus Blut und Hass

von Tim Slagman

München, 21. Februar 2015. Hier geht es sofort um Leben und Tod – nun, um ehrlich zu sein, vor allem um den Tod. Katja Bürkle hetzt an einer riesigen Wand entlang auf die Bühne, ein gleißender Lichtkegel erfasst sie, es knallt, sie stürzt. Abram ist tot.

Martin Kušej hat aus Martin Sperrs sozialrealistischen "Jagdszenen aus Niederbayern" ein tiefschwarzes, durchaus artifizielles Schauerstück gemacht. Kušej, der Intendant des Münchner Residenztheaters, inszeniert es an den benachbarten Kammerspielen – im Juni 2014 hatte Kammerspiele-Intendant Johan Simons bereits im alten Resi, dem Cuvilliéstheater, Elfriede Jelineks FaustIn and Out eingerichtet. Nun kreuzen sich auf der Drehbühne zwei Wände zum Buchstaben T, steil von oben fällt das Licht auf die Menschen, die unbeweglich an ihre Plätze in den Nischen geklemmt scheinen. Zwischen ihnen, auf ihnen klaffen düstere Schatten.

Im Rückdurchlauf

Der Anfang ist hier das Ende: Martin Kušej und sein Dramaturg Jeroen Versteele werfen die tödliche Eskalation in den Raum und arbeiten sich dann erst zurück an den Anfang einer fatalen Woche, die ins Sterben mündet und in Blut. Die Kugeln fetzen Löcher in Abrams Körper, und Tonka, die sie die Dorfhure nennen, wird von Abram erstochen, weil sie ihn demütigt und weil sie sein Kind im Körper trägt. Dazwischen nimmt sich Rovo, den sie den Dorftrottel nennen, das Leben, weil seine Mutter den Vater, der wohl im Krieg gefallen ist, mit einem anderen ersetzen will und in diesem neuen Heim für Rovo kein Platz mehr ist.

Martin Sperr hat sein 1966 uraufgeführtes Stück, einen der bekanntesten Vertreter des kritischen Volksstücks, im Jahr 1948 angesiedelt, als der Zweite Weltkrieg Familien in Stücke gerissen hatte und homosexuelle Handlungen nicht nur formell unter Strafe standen. Abram ist ein Rückkehrer in das Dörfchen Reinöd, in der großen Stadt soll er gesessen haben, weil er angeblich schwul ist. Er leugnet es nicht, seine Mutter will ihn deshalb nicht im Hause, die meisten im Ort wollen, dass er gleich wieder verschwindet. "Ich komme aus exakt einem solchen Dorf und kenne das alles zu genau", hat der gebürtige Kärntner Kušej gesagt, der dennoch wusste, dass dieser Stoff einen festen inszenatorischen Zugriff braucht, um ihn ins pseudotolerante 21. Jahrhundert zu holen.

Von der Jagd zur Kreatur gemacht

Von immenser atmosphärischer Dichte sind daher gerade die Bilder, die sich lösen vom Erklären und Erzählen: die bewegungslose Pirsch der gutdorfbürgerlichen Jagdgesellschaft, die das Kopfgeld von 2500 Mark für Tonkas Mörder einstreichen will. Der tote Rovo, die Schlinge noch um den Hals – das Entsetzen lähmt Mutter und Geliebten nur kurz, sogleich beschließt man, nun endlich zu heiraten. Je stärker der Aufruhr der Geschichte ist, desto erstickender legt sich eine niederschmetternde Stasis auf die Menschen. Wie Schachfiguren verharren die Schauspieler auf ihren Bühnenfleckchen, ihre Sätze holpern mechanisch. Nur der gehetzte Abram scheint hier einen Körper zu haben: Katja Bürkles Blicke springen, der Kopf zuckt, eine Überspannung liegt auf jeder Geste, das Messer hält sie angriffsbereit, wie ein in die Enge getriebenes Tier die Zähne fletschen mag. Die Jagd erniedrigt Abram zur Kreatur.

jagdszenenausniederbayern1 560 ju ostkreuz u Arbeitsplatz Metzgerei: Typische Szenen aus Niederbayern © JU/Ostkreuz

Gemütlich im Großstadt-Sitz

Diese Intensität erweist sich jedoch als flüchtig. Während sich das Beziehungsgeflecht der Dörfler im chronologischen Rückschritt auffächert, während sich die Verstrickungen von Wünschen und Missgunst entheddern, während der Bühnenraum gleichmäßig heller, die Erzählung realistischer und das Spiel aller natürlicher wird, entstellt sich die Entschleunigung bisweilen zur Zähigkeit. Genau darin liegt einer der größten Fallstricke einer zeitgenössischen Inszenierung: Im Glauben, nichts mehr erfahren zu müssen über die Mechanismen der hinterwäldlerischen Bigotterie, lässt es sich im großstädtischen Theatersitz allzu gemütlich zurücklehnen.

Kušej weiß das, deshalb hat er Sperrs hoffnungsloses Stück in der Umdrehung der Geschehnisse noch ein wenig hoffnungsloser gemacht – im Originaltext kommt der geplagte Abram noch mit dem Leben davon. Die Besetzung der Hauptrolle mit einer Frau mag auch auf die weit über die scheinbare Hetero-/Homodichotomie hinausgehende Komplexität von Geschlechterkonstruktionen deuten, die unsere sich aufgeklärt dünkende Gesellschaft bestenfalls widerwillig zu akzeptieren scheint. Aber so wie sich die rotschwarze Finsternis der abstrakteren Anfangsszenen nach und nach zurückzieht, so rücken gegen Ende die konkreten Figuren in all ihrer Zeitgebundenheit ins Zentrum. Die universale Atmosphäre schrumpft zugunsten eines aufs Repräsentativ-Allegorische kalkulierten Stoffs.

 

Jagdszenen aus Niederbayern
von Martin Sperr
Regie: Martin Kušej, Bühne: Annette Murschetz, Kostüme: Heide Kastler, Musik: Bert Wrede, Licht: Jürgen Kolb, Dramaturgie: Jeroen Versteele.
Mit: Katja Bürkle, Silja Bächli, Anna Drexler, Gundi Ellert, Pauline Fusban, Hans Kremer, Cristin König, Christian Löber, Anna Maria Sturm, Michael Tregor, Jeff Wilbusch.
Dauer: 1 Stunden 45 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr zu Regisseur Martin Kušej: Zuletzt besprechen wir seine Inszenierung Wer hat Angst vor Virginia Woolf? am Residenztheater München.

 

Kritikenrundschau

Kušej dehne die Pausen zwischen den Sätzen, lasse die Figuren immer wieder reglos erstarren, mache die Distanz zwischen den Menschen sichtbar, schreibt Petra Hallmayer in der Neuen Zürcher Zeitung (25.2.2015). "Kušej zeichnet eine grausame, von Sprach- und Lieblosigkeit beherrschte Welt, die in der die Menschen böse geworden sind." "Allein: So entsetzlich das ist, was auf der Bühne geschieht, richtig nahe geht es einem nicht." Dafür sei die Kluft zwischen Sperrs 1966 uraufgeführtem kritischem Volksstück und den Realitäten mittlerweile zu groß.

So leicht mache es Kušej "einem nicht, dass man sich, hier, in der Großstadt, zurücklehnen und das alles als krasse Geschichte aus tiefster, ferner Provinz anschauen könnte, noch dazu aus vergangenen Tagen", schreibt Egbert Tholl über die Neuinszenierung von "Jagdszenen in Niederbayern" in der Süddeutschen Zeitung (23.2.2015). "Bei Sperr spielt das Stück kurz nach der Währungsreform nach dem Zweiten Weltkrieg. Und auch Kušej belässt es – vage – in dieser Zeit. Und doch schneidet er sorgfältig alles weg, was Folklore und Lokalkolorit sein könnte." Das Tolle an Kušejs Inszenierung sei indes, "dass im Verharren der von Sperr skizzierten Grundsituation die Aufführung zur allgemeingültigen, gesellschaftlichen Studie wird. Da braucht es keine Tagespolitik. Die denkt man implizit mit." Und Kušej habe hier ein Spitzensenemble zur Verfügung, "mit lauter Akteuren, die mit Lust zwei Stunden Sauschlachten spielen, und doch nie zur Karikatur werden."

Konsequent werde "die Geschichte der Gewalt in einzelnen, kurzen Szenen von hinten nach vorn erzählt. Das Dorf hat gesiegt: Wie alles begann", schreibt K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (23.2.2015). "Doch im Rewind-Regielabor Kušejs, der den stark gekürzten Text extrem dehnt und fragmentiert, bleibt alles irgendwie sauber." Die Kostüme von Heide Kastler seien gar "so adrett wie in einem Landmodenkatalog", und die Schauspieler wirkten "seltsam irritiert und unsicher": Man habe "immer das Gefühl, hier wird nur gespielt, man bleibt als Zuschauer unberührt noch von den brutalsten Sätzen, so als gehe es um nichts."

Kušej nagele "die Schauspieler über weite Strecken des Abends geradezu fest: Ihre Bewegungen sind verlangsamt, ihr Aktionsradius ist eingeschränkt", beobachtet Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.2.2015). "Immer wieder arrangiert Kušej sein Personal zu Tableaux vivants oder lässt die Schauspieler verlangsamte Choreographien der Ausweglosigkeit vorführen. Das ist wuchtig bis bleiern, zuweilen überladen und von so großem Ernst, dass Sperrs trocken-sarkastischer Humor kaum durchscheint." Dennoch sei Kušej "eine intensive Inszenierung mit schlüssigem Konzept gelungen." Er halte "den knorzigen Naturalismus des fast fünfzig Jahre alten Stücks auf Abstand und legt seinen Kern frei, in dem Außenseitertum und Abhängigkeitsverhältnisse eine gewaltbringende Allianz eingehen."

"Reizvoll? Spannend?", fragt Bernd Noack auf Spiegel online (23.2.2015). "Nur in Maßen, denn die Rekonstruktion des 'Falles', zu dem die Dorf-Story hier erklärt wird, gerät bei Kommissar Kušej zur totalen Dekonstruktion der Handlung. Und macht überhaupt keinen Sinn." Vom Höhepunkt der Auseinandersetzung hangele sich "die Inszenierung spurensuchend in die Niederungen zurück, ohne dass das irgendwie mehr über die Beweg- und Abgründe erzählen könnte, als es Sperr in der 'richtigen' Reihenfolge tut." Sätze würden "wie ausgegrabene Fundstücke in den furchtdurchfluteten Raum geraunt, letzte Fetzen der Verständigung. Das ist aber alles so schick morbid und ästhetisch schmuddelig, so verbissen ausweglos und vordergründig trist, so geschnitzt bodenständig und zelebriert armselig, dass es wie eine Karikatur der himmelschreienden Zustände wirkt."

 

Kommentare  
Jagdszenen aus Niederbayern, München: Entschleunigungs-Overload
Statische Bilder, bleierne Schwere. Kušej spult das Stück in Zeitlupe zurück. Entschleunigungs-Overload. 45/100
Jagdszenen aus Niederbayern, München: Standbilder voller Kälte und Dichte
Martin Kušej inszeniert Sperrs Debüt als Folge von durch lange Blackphasen abgegrenzte Standbilder voller Kälte und Dichte, die das Bild einer erstarrten Gesellschaft malen, die weit weg scheint und deren Mechanismen doch heute noch greifen, wenn auch zuweilen verdeckt von ansehnlichem Putz, der hier längst angekratzt ist. Doch wer sich die Ausgrenzung von Homosexuellen in vielen Teilen der Welt, die Diskriminierung von Frauen in vielen Gesellschaften oder auch die Behandlung von Geflüchteten in diesem unserem Land anschaut, wird kaum bestreiten können, dass Ausgrenzung auch heute noch ein wichtiges Mittel ist, das Gesellschaften nutzen, um sich zu definieren und ihrer selbst gewiss zu werden. Da ist das Ende, wie bei Kušej, der Anfang, ist der Stillstand Fundament für das Bestehen des gemeinschaftlichen Konstrukts. So hart und kalt und sperrig Martin Kušej uns Sperrs Text vor die Füße wirft, so wenig er ihn “vergegenwärtigt”, so sehr geht er uns heute an. Denn was er zeigt, ist eben noch längst nicht “aus”.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/03/21/aus-ists/
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