Die amourösen Grundrechenarten

von Tim Schomacker

Münster, 27. Februar 2015. Es ist erstaunlich wenig von Ständischem die Rede oder von Standesgemäßem in diesen neunzig Minuten. Kaum einmal kommt die Familie ins Spiel oder das Geld, wenn es um die Partnerwahl (oder auch -abwahl) geht. Für einen Text von 1634 sind die Figuren überraschend bei sich in Liebesdingen. Beziehungsweise Unliebesdingen: So greint und jault Lilly Groppers Angelique krabbelnd über den Boden – "er war mein ganzes Leben!" – um dann in überspanntem Lachen sich selbst zu richten für den Moment: "Ist das peinlich!" Und spätestens ab hier weiß man nicht mehr, was Angelique schwerer wiegt: der Herzschmerz – oder das Bild, dass sie unter Herzschmerz abgibt.

Komm ins Bett, Jeanette!
Genießerisch nimmt Regisseur Stefan Otteni die Liebesblödigkeiten zur Hand, die Pierre Corneilles frühes (und bis heute in deutscher Sprache nicht aufgeführte) Stück vom "extravaganten Liebhaber" bereithält. Manchmal schaut das aus, als hätte man eine Telenovela zu heiß gebadet. Da zwängen sich auf der viereckigen, von Zuschauertribünen umstellten Bühne Menschen allein, zu zweit oder zu vielen in ziemlich kleine Zelte. Deuten Sex an oder Techno oder beides. Stimmlich. Da werden Messer gezückt mit großer (aber in jeder Hinsicht unbeherrschter) Geste. Da wird unelegante Unterwäsche zu Markte getragen als wär sie für drunter das Feinste. Und die größten Freunde besiegeln ihre Damenschacherei mit jungenhaft bekloppten Abklatschritualen. Klar müssen einmal auch die Arme abgewinkelt werden à la "Titanic". Mit viel Vergnügen macht sich das Ensemble zum Affen bei der Einübung amouröser Grundrechenarten. Dass Rainer Kohlmayers Übertragung (wohl durchaus in Corneilles Sinn) mit allerlei grob bis gröbst geklöppelten Reimpaaren aufwartet, hilft komödiantisch enorm – Jeanette reimt sich hier auf im Bett, Andschelihk auf Augenblick.

extravliebhaber2 560 oliverberg u.jpgAuch ein Schluck Wodka kann der Extravaganz aufhelfen... © Oliver Berg

Die Konstellation im Schnelldurchlauf: Alidor liebt Angélique. Und die ihn wieder. Aber er schätzt seine Freiheit höher als die Ehe. Alidors Buddy Cléandre ist lang schon schüchtern scharf auf Angélique. Bevor Alidor – der eignen Unabhängigkeit zuliebe – dem Freund die Freundin abtreten kann, treibt diese in die Arme von Doraste. Der tröstet sie – kurz nach oben erwähntem "ist das peinlich!" – die glaubt, Alidor habe sie betrogen. War nur ein Fake zu Cléandres Gunsten. Aber aus der Nummer kommt keiner mehr so richtig raus. Am Ende verlässt Angélique die Szenerie. Alidor hat zwar mit seiner Entschuldigungsarie versagt, dafür seine Freiheit wieder. Und Cléandre kriegt die vormals ungeliebte Phylis, die per Münzwurf entscheidet, ob sie ihn nimmt oder nicht.

Wahlunverträglichkeiten statt Wahlverwandtschaften
Hier kommt also doch das Geld ins Spiel. Jenes, das Cléandre Phylis verspricht. Vor allem aber jenes konkrete Münzstück, mit dem sie (ihr) Schicksal spielt. Nicht zufällig liegt bei Corneille der Münzwurf in der Hand der Frau. Und ist bei Johanna Marx' burschikos-selbstbestimmter Phylis gut aufgehoben. Marx spielt ihre Figur am Deutlichsten an die schmonzige Klischeehaftigkeit von Boulevard bis Daily Soap heran. Jedes augenzwinkernde Nicken ins Publikum, jede überzogene Geste, jedes Innehalten im Satz, bis das Publikum fertig gelacht hat, erfüllt hier einen Zweck: Phylis als eine Frauenfigur zu zeichnen (besser: souverän zu pinseln), die sich ihrer inneren wie äußeren Erscheinung sehr bewusst ist. Und der Notwendigkeit, diese zu kontrollieren. Drum ist der Münzwurf so wichtig: aus ihrer Hand und in ihre Hand. Maximilian Scheidts Cléandre sekundiert mit Jacques Brels Selbsterniedrigungsschlager "Ne me quitte pas". Solange Scheidt singt, hebt sich Phylis' Schicksalshand nicht von der Münze. Cléandre singt, wie er ist: brüchig-schüchtern, nach hinten raus aber mit leis-vehementem Durchhaltevermögen.

extravliebhaber1 560 oliverberg u... oder ein Tanz. © Oliver Berg

Die Nein-Vermeidung Cléandres korrespondiert mit der bindungsängstlichen Ja-Vermeidung von Florian Steffens' souverän zurückhaltendem Alidor. So wie Phylis' energisch-vulgäre Selbstbestimmtheit mit dem "Ist-das-peinlich"-Schock von Angélique korrespondiert. Ottenis Inszenierung kitzelt in Corneilles Kreuzkonstellation weniger die Wahlverwandtschaft als gewissermaßen die Wahlunverträglichkeit hervor. Und schlägt einen langen, aber kurzweiligen Bogen von Corneilles Prä-Romantik zur postromantischen Gegenwart. Ohne dass dafür irgendetwas verbogen werden muss, stellt sich als größte Extravaganz des Liebhabers das Singledasein heraus – das Alidor permanent vor dem Verkleben durch eben jene Bilder bewahren muss, die er zum Verführen braucht.

Der extravagante Liebhaber
von Pierre Corneille
deutsch von Rainer Kohlmayer
Regie: Stefan Otteni, Bühne, Kostüme: Anne Neuser, Dramaturgie: Friederike Engel.
Mit: Lilly Gropper, Ilja Harjes, Dennis Laubenthal (bei der Premiere krankheitsbedingt vertreten durch Daniel Rothaug), Johanna Marx, Leonie Nienhaus, Maximilian Scheidt, Florian Steffens, Josepha Walter.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-muenster.com

 

Mehr lesen? FAZ-Rezensent Andreas Rossmann beklagte die "hemdsärmelige Übersetzung" der gespielten Fassung. Daraufhin meldete sich (ebenfalls in der FAZ)  der Übersetzer Rainer Kohlmayer zu Wort, was hier in einer Presseschau dokumentiert ist.

 

Kritikenrundschau

Eine "halbwegs amüsante Belanglosigkeit" hat Andreas Rossmann gesehen, wie er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.3.2015) scheibt. Für die späte deutschsprachige Erstaufführung habe Rainer Kohlmayer "eine hemdsärmelige Übersetzung in Alexandrinern angefertigt", die sich mit Drive und Direktheit über philologische Feinheiten hinwegsetze. In Münster gehe "Corneilles Theater der bürgerlichen Raison in einer Art Betriebsfest auf – und unter". Die Figuren plapperten sich munter durch den Text, das Publikum, "das retardierte Schlussreime erraten und auch mal ein Taschentuch reichen darf", werde augenzwinkernd einbezogen, "mit den Zweifeln, Irritationen und seelischen Grausamkeiten der Geschlechterbeziehungen aber nicht weiter behelligt". 

"Es ist grandios, wie gut es am Theater Münster gelingt, Corneilles Jugendstück dank der modernen Übersetzung von Rainer Kohlmayer in die Jetztzeit zu holen", findet hingegen Petra Noppeney in der Münsterschen Zeitung (online 1.3.2015). Inszenatorisch stimme einfach alles. Zurück bleibe nach 90 Minuten Alidor, der Strippenzieher. "Die neue Kollegin ist auch schon da. Alles auf Anfang."

 

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