Drohender Hurrikan

von Frank Schlößer

Rostock, 28. Februar 2015. Kein Regisseur muss künstliche Bezüge zur Realität aufbauen, wenn er die Brecht-Weill-Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" an einem Stadttheater inszeniert – schon gar nicht in Rostock: Diese Oper über eine Stadt, wo jedem die Todestrafe droht, der kein Geld hat. Der Beschluss des Stadtparlamentes, den jahrzehntelangen schleichenden Personalabbau am Volkstheater nun auch durch strukturelle Kürzungen des Tanztheaters und der Opernsparte zu beschleunigen, war zur gestrigen Premiere gerade drei Tage alt. Das Publikum teilt den Trotz, mit dem sich Intendant Sewan Latchinian nach dem ersten Schock des Beschlusses der Rostocker Bürgerschaft für's Weiterkämpfen ausspricht.

Zu Tode geprügelt

"Mahagonny" ist Brechts "Netzestadt", die von kleinen Kriminellen mit großen Plänen im Goldrush irgendwo in der Wüste gegründet wird, um den Jungs das Gold aus der Tasche zu ziehen, das sie zuvor mühsam aus dem Fluss gewaschen haben. In Mahagonny ist zuerst fast alles verboten und dann fast alles erlaubt. Das Geld "reguliert" nicht nur Whisky-Markt und sexuellen Dienstleistungen, sondern alle menschlichen Beziehungen und selbst die Rechtssprechung. Als ein drohender Hurrikan überraschend die Stadt verschont, stellen die Einwohner fest, dass sie selber zerstörerischer wirken als jede Naturkatastrophe.

Die Regisseurin Johanna Schall ist für diese Inszenierung an die Bühne zurückgekehrt, an der sie bis 2007 fünf Jahre lang Schauspieldirektorin war. Ihre Inszenierung gibt sich anfangs betont spröde. Sie trägt der Distanz zum Zuschauer Rechnung, die Brecht für seine Stücke forderte und setzt zunächst auf Maske und Kostüme. Ihren Charakteren kann man unentwegt zuschauen und zuhören – aber Emotionen bauen sich nur langsam auf. Die Beziehung zwischen dem Holzfäller Paule Ackermann und der Hure Jenny Smith aus Oklahoma reduziert sich auf die Dialektik von männlicher Geilheit und weiblicher Gier. Erst gegen Ende des zweiten Aktes knackt das auf: Als Jakob (Daniel Philipp Witte) sich an zwei Kälbern zu Tode frisst, wird das mit Heiterkeit registriert. Als Sparbüchsenheinrich (Maciej Idziorek) im Ring zu Tode geprügelt wird, kommt Betroffenheit auf.

Blow Job am Gloryhole

Ein schwarzer Bühnenhintergrund wird mit ein paar Lichtakzenten in die Tiefe geöffnet. Bis zur Pause transportiert er darauf projizierte Zwischentexte aus dem Libretto und Videos, wirkt aufwertend für die farbenprächtigen, phantasievoll ausgestatteten Figuren. Sie liefern den grundlegenden Schaureiz dieser Inszenierung. Nicht ganz unproblematisch ist die akustische Situation. Von der Hinterbühne aus haben es Sänger schwer: Das Orchester sitzt in einer Wanne gedrängt unter der Bühne, die Musik dringt durch eine Öffnung senkrecht in die Höhe – und diesen Schall-Vorhang muss die Stimme durchdringen, wenn sie textverständlich bis zum Publikum gelangen will. Das gelingt nicht immer, Übertitel hätten hier helfen können.

Johanna Schall setzt behutsam die dramatische Steigerung des Stückes an, um in der angemessenen Pracht enden zu können. Erst im dritten Akt reizt sie das ganze Potenzial des Volkstheaters als Vier-Spartenhaus vollständig aus: Der Opernchor (Einstudierung: Stefan Bilz) ist dauerhaft auf der Bühne präsent, wird stimmlich und tänzerisch stark gefordert. Das Tanztheater (Choreografie: Katja Taranu) ist ebenfalls immer mittenmang.

Die Huren von Mahagonny werden nun endgültig Stars des Abends mit all ihrer Schminke, den Push Ups, Hot Pants und den kunstvollen Extensions. Ihre Freier sind als uniformierte Geschäftsmänner unterwegs und der Begriff Frivolität ist sicher stark untertrieben, wenn die Herren in den Genuss eines gemeinschaftlichen Blowjobs am Gloryhole kommen. Die Bande um Paul Ackermann (Daniel Ohlmann) bezieht ihre Identität aus Uniformen mit Cowboy-Einschlag in Holzfäller-Karos, ein durchaus großer Wurf von Kostümbildnerin Jenny Schall. 

Auferstehung nach Hinrichtung

Das Bühnenbild (Horst Vogelgesang) entfaltet nach der Pause seine ganze Raffinesse: Mit zwei fahrbaren Treppen und farbigen LEDs werden starke Bilder gebaut. Paule Ackermann landet am Ende auf dem elektrischen Stuhl. Dieser jedoch verpasst ihm mit den Stromstößen auch einen LED-Heiligenschein und nach der "Abnahme" wird Paule hübsch zwischen den Trauernden drapiert. Bei Johanna Schall stirbt er jedoch nicht nur einen äußerst langsamen und qualvollen Operntod, er erlebt eine Auferstehung. Jetzt schillert dieser Paule Ackermann zwischen dumpfer Brutalität und seinem großen, verständlichen Lebenshunger in allen Farben. Das Orchester setzt Kurt Weills Musik mit der gebotenen Prägnanz um – ob nun aus dem Orchestergraben, als Duo der Volksmusik mit Akkordeon und Zither oder als Ballhaus-Kapelle auf der Bühne.

Für Rostock ist diese Mahagonny-Inszenierung eine Leistungsschau: So etwas kann nur ein Vierspartenhaus in einer prosperierenden 200 000 Einwohner-Stadt auf die Beine stellen. Solange es noch Beine hat.

 

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Oper von Kurt Weill und Bertolt Brecht

Musikalische Leitung: Robin Engelen, Inszenierung: Johanna Schall, Bühne: Horst Vogelgesang, Kostüme: Jenny Schall, Choreinstudierung: Stefan Bilz, Choreografie: Katja Taranu, Dramaturgie: Michael Mund, Musikalische Einstudierung: Hans-Christoph Borck, Teodora Belu, Thilo Lange.
Mit: Jasmin Etezadzadeh, Garrie Davislim, Tim Stolte, Elise Caluwaerts, Daniel Ohlmann, Jakob Schmidt, Daniel Philipp Witte, Maciej Idziorek, Karl Huml, Opernchor des Volkstheaters Rostock, Tanzcompagnie des Volkstheaters Rostock, Norddeutsche Philharmonie Rostock.

www.volkstheater-rostock.de

 

Kritikenrundschau

"Bevor der Vorhang sich hob, geißelte Intendant Sewan Latchinian den Beschluss als 'wirtschaftlich unsinnig und asozial' und versicherte, dass das Theater mit all seinen ihm zur Verfügung stehenden Kräften um seine Fortexistenz als Viersparten-Theaterkämpfen werde – wofür er die ersten Standing Ovations erhielt", schreibt Heinz-Jürgen Staszak in der Ostseezeitung (2.3.2015). Auf der Bühne sei dann mit entschlossener Leidenschaft "eine der künstlerisch geschlossensten und überzeugendsten Leistungen der letzten Jahre" zu sehen, "Oper nicht als wohltönende Abendunterhaltung, sondern als erhellender Vorstoß ins Herz unserer eigenen Befindlichkeit, modern und aufregend." Mahagonny in parabelhafter Kontur und zugleich sinnlicher Griffigkeit, "beklemmendund witzig, emotionalund zugleich von erhellender geistiger Durchleuchtungskraft – wie in einem ästhetischen Laborexperiment."

Johanna Schalls Inszenierung lasse wenig von der Gegenwärtigkeit des Stoffs erahnen, "die Subversion des Genusses, die Brecht beherrscht, interessiert die Regisseurin weniger als die Moralkeule am ohnehin schwachen Ende der Oper", schreibt dagegen Tobi Müller auf Spiegel online (2.3.2015). "Schall und Castorf haben mehr gemeinsam als den DDR-Hintergrund und ihren Anwalt Gregor Gysi. Bei beiden sieht man Frauen gerne in Leopardendress, rosa, hohen Hacken oder Pelz (Kostüme: Jenny Schall, die Schwester)." Gesprochen werde laut und grimassiert viel. "Sicher, in Rostock gibt es keinen Heiner Müller oder Rio Reiser, aber Johanna Schall nimmt sich am Schluss dennoch ein paar Freiheiten". Transparente werden am Ende getrage, Volkstheater, Musiktheater, Schauspiel, Konzert, Tanz, stehe da drauf. "Auf der Rückseite steht: 'Kein Musiktheater', 'kein Tanz'. Das steht natürlich auch nicht bei Brecht. Aber, wie gesagt, um den ging es auch nicht so richtig."

 

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