Das gemeine Kind

von Martin Pesl

Wien, 5. März 2015. Kaum möchte man glauben, dass es die letzte Premiere der Ära Andreas Beck am Schauspielhaus Wien ist: kein Karacho, keine Tränen, sondern ein schlichter Abend von 75 Minuten. Je fünf Musiker und Schauspieler, alle unaufdringlich gekleidet, betreten die Bühne. Die Spielfläche ist ein etwas verdreckter, aber unverstellter Mulchteppich. Im Eck stehen die Instrumente: E-Gitarre, Klarinette, Kontrabass, Akkordeon und Klavier. Diese Uraufführung beginnt wie ein biederes Hauskonzert.

Herrlich fiese Parabel

Tatsächlich handelt es sich um ein Singspiel, weil Andreas Beck "Musik" als letztes Spielzeitmotto vorgab: Die zeitgenössischen Texte, die am Schauspielhaus Programm sind, sollten durch ebenso zeitgenössische Kompositionen unterstützt werden. Sänger wurden trotzdem keine engagiert – das Sprechensemble durfte ran. Bei dieser Abschlussproduktion nun glückt diese riskante Kombination auf schier unwahrscheinliche Weise dank perfekter Harmonie zwischen Text, Musik und einer Regie, die beide stets füreinander ausspielt.

gemeindekind 2 560 strutzenberger hackl -alexi pelekanos uSpielerischer Minimalismus: Florian von Manteuffel, Barbara Horvath sowie
Franziska Hackl, Thiemo Strutzenberger und Katja Jung © Alexi Pelekanos

Autorin Anne Habermehl hat wohl daran getan, die berühmte Erzählung der österreichichen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach Das Gemeindekind (1887) lediglich als Inspirationsquelle zu verstehen. In ihrer Version eliminiert sie die meisten Nebenfiguren und dreht die Grundprämisse der sozial engagierten Adeligen gewissermaßen um: Wie damals ist die Handlung in einem tschechischen Dorf angesiedelt. Doch statt in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie befinden wir uns nun in der postsozialistischen Jetztzeit. Während der nach Inhaftierung seiner Mutter quasi verwaiste Pavel bei Ebner-Eschenbach noch wie eine heiße Kartoffel im Dorf herumgereicht wurde, reißt sich die Gemeinde in Habermehls Fassung richtig darum, ihn aus seinem Sumpf zu holen und zu einem besseren Menschen zu machen. Um halt gut zu sein. Und um Pflegegeld zu kriegen. Na, und um wieder so eine schöne Gemeinde zu sein wie vor 1989.

Selbstverständlich geht das schief, und Habermehl erzählt sich gelassen pessimistisch durch eine herrlich fiese Parabel: wie der Teenager an den diversen Einflüssen seiner Möchtegern-Pflegepersonen wächst, Lügengeschichten erzählt, weil er denkt, das gehöre so, dann fast zu Tode getrampelt wird und ins innere Exil flüchtet. Habermehls Libretto hält für das gesanglich nicht sonderlich ausgebildete Ensemble mal ein Lied, mal Sprechgesang und auch darüber hinaus eine natürliche sprachliche Musikalität parat, die vergessen lässt, wie hochkünstlich diese Versuchsanordnung "Musiktheater" eigentlich ist.

Liebesgeste zwischen Notenständern

Wenn die fünf Schauspieler singen, wirkt es oft wie ein Entgleiten in andere Tonlagen. Singend wie sprechend verleiben sie sich die Worte und Klänge völlig ein, ihres Rhythmus stets bewusst und ihm doch nie sklavisch unterworfen. Habermehls Sätze sind kurz und pointiert, offenbaren die klaren Haltungen der Dorfbewohner. So ist die Geschichte ohne Umschweife erzählt und bietet dennoch Raum für Schlagabtäusche – etwa zwischen der einen Pflegemutter (Barbara Horvath) und der anderen, einer dem Sozialismus nachtrauernden Lehrerin (Katja Jung). Oder zwischen den Dorfjugendlichen Vinska und Peter (Franziska Hackl, Florian von Manteuffel): "Du bist echt nicht gut, Peter. Hottentotten lecken besser als du."

Mit fataler Neugier treiben sie mit dem Gemeindekind ihre Experimente. Dieses gibt Thiemo Strutzenberger in einer seiner schönsten Performances überhaupt: Fast behäbig arbeitet er sich zwischen den Notenständern hindurch ins Zentrum der Aufmerksamkeit vor, ein moderner Kaspar Hauser, der jedes neue Wort hinterfragt, noch lange nachdem er es ausgesprochen hat, und ebendas auch zu einem musikalischen Akt macht. Als er für Vinska in einer Scherbe "das Licht vom Universum" einfängt, kann dieser Pavel nicht im Entferntesten ahnen, wie hinreißend kitschig diese Liebesgeste möglicherweise in der Welt der Anderen wäre.

Spielerischer Minimalismus

Ohne das Auge und Ohr für das Ganze zu verlieren, orchestriert Rudolf Frey die fünf Schauspieler unverkrampft zu Tableaus und schafft es, der sprachlichen und klanglichen Komposition mit wenigen Hilfsmitteln behutsam auch eine visuelle hinzuzufügen. Gerald Reschs Musik ergreift immer wieder vorsichtig Partei: Jeder Rolle ist ein Instrument zugeordnet. Aber auch der Score hat Humor: Als es heißt: "Was für Musik läuft?" – "Disko!", gelingt ihm ein bemerkenswerter Spagat zwischen Form und Inhalt.

Am Ende blickt die Gemeinde, die es gut meinte, dem gemeinen Kind baff hinterher. Black. Die Intendanz Andres Beck verabschiedet sich aus Wien mit einem letzten Aufblühen des feinmotorischen spielerischen Minimalismus, dem sie ihre besten Momente verdankt.

 

Das Gemeindekind
von Anne Habermehl (Libretto) und Gerald Resch (Komposition) nach Marie von Ebner-Eschenbach
Uraufführung
Regie: Rudolf Frey, Musikalische Leitung: Mathilde Hoursiangou, Bühne: Vincent Mesnaritsch, Kostüme: Elke Gattinger, Dramaturgie: Constanze Kargl
Mit: Franziska Hackl, Barbara Horvath, Katja Jung, Florian von Manteuffel, Thiemo Strutzenberger, Ensemble PHACE (Reinhold Brunner, Alexandra Dienz, Mathilde Hoursiangou, Stefan Mancic, Bernhard Schöberl)
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.at

 

Mehr von Anne Habermehl? Die Uraufführung ihres Stückes Luft aus Stein inszenierte die 1981 geborene Dramatikerin und Regisseurin 2013 am Wiener Schauspielhaus selbst.

 

Kritikenrundschau

"Das Gemeindekind" am Wiener Schauspielhaus "sei eine sensible, zugleich reizende Performance", meint Norbert Mayer in der Presse (7.3.2015). Rudolf Frey habe "das Stück angenehm zurückhaltend inszeniert, manchmal wirkt es fast schon zu statisch – ein kleiner Makel." Der "Realismus dieses soziale Probleme verarbeitenden Romans" sei "nur angedeutet, die Handlung" werde "in die Gegenwart verlegt", spiele "wohl irgendwo in Tschechien nach dem Fall des Eisernen Vorhangs." Jedenfalls dürfe man sich "von der griffigen, kühlen, manchmal maliziösen Interpretation überraschen lassen."

Anne Habermehl habe Motive von Marie von Ebner-Eschenbachs Prosawerk "aufgegriffen und zu einem meisterhaften Libretto verdichtet", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (7.3.2015). "Dieses trägt den Beat der Jetztzeit in sich, der in schmalen Sätzen die Welt des Kindes aufeinandertürmt; die sparsam eingesetzten Worte haben Gravität und Glanz und leuchten in ihrer archaischen Wucht." Dem Ganzen gebe der Komponist Gerald Resch "einen irisierenden Sound, der so klingt, als würden die spitzen Klänge von Kurt Weill auf den Low-tech-Sprechgesang nonchalanter Clubmusik treffen." Rudolf Freys Inszenierung schließlich gewinne "durch ihren Purismus, ihren Rückzug aus den Bildern, ihre Erschließung von Räumen und Strukturen zwischenmenschlicher Mechanismen."

 

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