Scheiße, Scheiße, Scheißkrieg!

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 6. März 2015. Auf der Bühne wartet schon ein Kaninchen: in Gestalt der Tänzerin Brit Rodemund, die in einem weißen Bunnyoverall steckt. Das Kaninchen performt dann mit traurigem Gesicht eine Mischung aus Zittern, Zucken, Zappeln. Wer sich den Plot des Dramas "Mord" vorher vergegenwärtigen konnte – im Programmheft des Stuttgarter Staatsschauspiels ist solch Nützliches wie so oft nicht zu finden –, kann es sich denken: Das Karnickel – als Symbol der Unschuld und des Beuteopfers – muss der Palästinenserjunge sein, der gleich von drei israelischen Soldaten getötet wird. Warum dieses Angsttanz-Intro so lange dauert, mindestens zehn Minuten, will sich freilich nicht erklären. Schon bevor der Abend richtig anfängt, schläfert er sich selbst ein. Dabei folgt dann doch noch eine ziemlich schrille Revue.

Gewalt gebiert Gewalt

Das Drama "Mord" des 1999 verstorbenen israelischen Dramatikers Hanoch Levin hatte jetzt in der Außenspielstätte "Nord" des Stuttgarter Staatstheaters als deutsche Erstaufführung Premiere. Levin reflektiert darin kritisch den israelisch-palästinensischen Konflikt, allerdings nicht politisch-analytisch, sondern indem er ganz allgemein seine Sinnlosigkeit auf die Spitze treibt. Es ist ein recht übersichtliches Stück: Drei Soldaten foltern und töten im Blutrausch einen palästinensischen Jungen. Dessen Vater rächt sich und killt den einen der Soldaten während seiner Hochzeitsnacht, vergewaltigt dessen Braut und mordet auch sie. Dann töten jüdische Siedler den Vater auf bestialische Weise, inklusive Kopfabhacken. Dazwischen gibt es ein paar Anti-Kriegssongs. Es wird sehr schnell klar, was Levin sagen möchte: Gewalt gebiert Gewalt, Täter werden zu Opfern, Opfer zu Tätern, keine Chance für Diplomatie oder gar Ratio! Ein aussichtsloser Konflikt, Angst, Gewalt, Sinnleere, Verzweiflung befeuern die Gewaltspirale immer weiter.

mord2 560 conny mirbach uBalanceakte auf der Mauer: Sebastian Klein, Katharin Knap und Brit Rodemund
© Conny Mirbach
Aber Regisseur Wojtek Klemm war das offenbar nicht klar genug. Er hat das Stück bearbeitet und aufgeblasen. Handlungselemente werden gedoppelt, zweimal gibt's eine Hochzeitsnacht, zweimal ein Kaninchenopfer. Die Gewaltspirale wird noch spiraliger, als sie eh schon ist. Dabei wird freilich kein Mord, keine Gewaltszene realistisch gezeigt. Kein Theaterblut fließt, kein Pistolenschuss knallt. Der Vater erschießt die Braut nicht, sondern küsst sie tot. Alles bleibt abstrakt und angedeutet.

Auch die Bühne ist karg: Eine Mauer – israelischem Sperrgebiet nachempfunden –, darauf gemalt sandige Hügel mit Dörfchen. Drei Soldaten liegen auf der Mauer auf der Lauer und singen das Lied vom Lämmchen, das gefressen wird. Klettern hinunter und kreisen das Kaninchen ein. Keine Folter: Das sprachlose Kaninchen zittert sich müde. (Dass es von den Soldaten auch mal gegen die Mauer gedonnert wird, wirkt eher wie eine musikalische Einlage.) Es guckt auch noch in Totenhaltung recht munter aus der Wäsche, während der Vater monoton leiernd die brutalen Verstümmlungen seines Sohnes aufzählt. Das Tier bleibt dann im Spiel: als "Himmel und Hölle" hüpfendes oder Gummibärchen in sich hineinstopfendes Kind.

Als könnte jeden Augenblick eine Bombe einschlagen

Verfremdung, die Handlung ins Surreale und Groteske biegen: Das ist Klemms Regiekonzept. Manchmal funktioniert das durchaus, die diversen Gesangs- oder schrillen Tanzeinlagen des Ensembles etwa. Zu wändewummernder Elektromusik vollführen die Protagonisten die skurrilsten Tänzchen, monoton, zitternd und sich auf den Boden werfend – die Omnipräsenz von Gewalt in einer Gesellschaft im Dauerkrieg, als könnte jeden Augenblick irgendwo eine Bombe einschlagen. Dem zentralen Song "Du und ich und der nächste Krieg, wir sind immer zu dritt" verleiht das choreographische Erdung.

Überhaupt erscheint alles an diesem Abend darstellerisch durchchoreographiert und wird durch seine Wiederholungsmechanismen ins Absurde gesteigert: Ob Balanceakte auf der Mauer, ein kichernder Mann mit fliegendem Haar, den ein Trampolin hinter der Mauer in die Höhe katapultiert oder des Bräutigams zappeliges Herumnesteln am Gemächt. Es gibt dabei starke Szenen, etwa den Versuch eines Liebesaktes auf einer in die Höhe ragenden Bank, was zu akrobatischen Verrenkungen führt. Oder wenn Braut Nummer zwei splitternackt im transparenten Brautkleid, durchleuchtet von unbarmherzigen Scheinwerfern, sich am Kleid-Innern entlang tastet und schüchtern "Hallo" ruft.

Doch lässt der Abend seine anarchischen Energien immer wieder in unnötigen Redundanzen und Spannungslöchern verpuffen. Warum muss man kurz vor Ende den Schauspielern fünf Minuten beim Umziehen zugucken? Und warum die vielen Wiederholungen? "Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße" sind die inhaltsleeren Worte, die man zu häufig an diesem Abend hört. "Scheiße", weil der Sohn tot ist, "Scheiße", weil der Bräutigam vor seinem ersten Liebesakt stirbt, ja, und "Scheiße", weil Krieg ist.

 

Mord
von Hanoch Levin
Aus dem Hebräischen von Matthias Naumann
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Wojtek Klemm, Choreographie: Efrat Stempler, Bühne: Magdalena Gut, Kostüme: Julia Kornacka, Musik: Micha Kaplan, Dramaturgie: Verena Elisabet Eitel.
Mit: Boris Burgstaller, Brit Rodemund, Sebastian Klein, Katharina Knap, Florian Rummel, Michael Stiller, Nathalie Thiede.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

 

Kritikenrundschau

Judith Engel schreibt in den Stuttgarter Nachrichten (9.3.2015), das Stück umreiße, was jahrelanger Krieg mit Menschen mache. Ein Krieg, der zum Zustand aller Beteiligten werde. Wer an diesem Abend Jäger oder Gejagter sei, ändere sich mit den schnellen Szenenwechseln. Körper sagten mehr als Worte. Stereotype lösten sich in angstzerfressene Figuren auf, deren Körper sich bewegen wie aufgezogene Spielfiguren, während aus ihren Blicken Erschöpfung spricht.

Der 1999 gestorbene Hanoch Levin habe zu den wichtigsten und unbequemsten Dramatikern seines Landes gezählt, schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (9.3.2015). Anders als zuletzt in Stuttgart sei an diesem Abend nichts zu lang, Szene für Szene sei notwendig, um den Zuschauer in die "verstörende Fremdheit des um Rache und Krieg kreisenden Dramas einzuführen". Dass Klemm das israelische Theater kenne, merke man, "surreal montiert, auf harte Brüche und Schnitte setzend, bröckelt er Levins 'Mord' sehr kunstvoll auf die schwarze Bühne." Klemm vermeide Kitsch und Pathos, arbeite mit Überlagerungen, Verwischungen und Verschiebungen, die Atmosphäre werde von einer "bizarren Trost-, Sinn- und Ausweglosigkeit" gespeist. Das Killerspiel sei ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gebe und dass die Gesellschaft daraus auch gar nicht erwachen will, zeige sich in den schrillen, lauten Showeinlagen. Krieg, sage Levin, sei keine Ausnahme, er sei der Normalzustand. Fraglich ob sich diese Brisanz des Stücks in ihrer ganzen Tragweite "auch außerhalb Israels vermitteln" lasse.

Auf Spiegel Online (9.3.2015) kriecht Wolfgang Höbel in die Köpfe der Stuttgarter Dramaturgie: "Man müsste mal was Theatralisches, Mutiges, Kluges über den endlosen Kriegszustand zwischen Palästinensern und Israelis machen", hätte man sich dort offenbar gedacht, um dann "ein 18 Jahre altes Skandalstück" auf den Spielplan zu setzen. Wojtek Klemm habe jedoch beschlossen, das Stück "Mord" dann lieber doch nicht zu inszenieren. Stattdessen zeige er "unter demselben Titel" eine "Theaterverweigerung mit Tanz, Elektrowummermusik und Betonmauer". Von der "Story des Stücks" blieben nur "das Zucken, das Morden und die Moral". Er wolle vom "puren Tatbestand des Tötens" berichten, habe der Regisseur vor der Premiere behauptet. Leider wirke sein Theaterabend wie eine "Flucht in die bunteste, gedankenleere Abstraktion". Man sehe "schlimm überforderten Darstellern bei einer Kunstübung" zu, die "nett aussehen, gefällig klingen und nichts bedeuten will".

 

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