Woyzeck - Oliver Frljić macht in Graz aus Büchners Fragmenten ein heftiges Passionsspiel
Piss er ins Publikum, Woyzeck!
von Reinhard Kriechbaum
Graz, 19. März 2015. Zwei Frauen und vier Männer sind in Frauenkleider geschlüpft. Sechs Marien also gleich. Keine wird Woyzecks Kuss überleben, eine nach der anderen sinkt zu Boden. Woyzeck greift sich wieder das Blumensträußchen und geht zur Nächsten.
Apokalypse Mensch
Der Kroate Oliver Frljić hat das Kroatische Nationaltheater Rijeka mit dem österreichischen Binnenland vertauscht. In der Hafenstadt Rijeka mit dem hübschen alt-österreichischen Helmer&Fellner-Theater ist Frljić seit dieser Spielzeit Intendant, und man hat ihm dort seine Nationalismus-Abrechnung "Hrvatsko Glumište" (Kroatisches Schauspiel) nach wie vor nicht verziehen und fordert seine Ablösung. 10.000 Unterschriften gibt es schon, hört man. Am Grazer Schauspielhaus hat er nun den "Woyzeck" inszeniert. Auch eine heftige Stunde, aber es wird hier niemand eine Unterschriftenaktion wegen Herabwürdigung von Religion starten.
Frljić rollt die Geschichte vom Ende her auf. Es beginnt mit dem Galgen, an ihm baumeln Woyzeck und ein plüschiger schwarzer Affe. Eine alte Frau sitzt dabei und liest aus der Apokalypse. Damit sind ein paar Parameter festgeschrieben: Woyzeck wird zum Riesenaffen gemacht, und die Religion wird eine zentrale Rolle spielen in dieser Büchner-Paraphrase (die doch immer sehr nahe am Text ist). Der dritte Faktor, das Publikum, kommt sogleich ins Bild: Eine Glaswand in Bühnenvorhangformat senkt sich. Aus allem, was wir ab da zu sehen bekommen auf der Vorbühne, werden wir, die Zuschauer im Theaterrund, uns nicht davonstehlen können im Dunkel. Vor unseren Augen wird dieser Franz Woyzeck zum katholischen Erz-Märtyrer erniedrigt (oder erhöht?). Wir werdem im Wortsinn "im Bild" sein, uns stets gegenwärtig finden im Bühnenbild von Igor Pauška, aus Kroatien wie das gesamte Führungsteam. Und dahinter wird immer der Galgen herausscheinen, mal deutlicher, mal schemenhafter.
Woyzeck und eine von sechs Marien: Philine Bührer und Franz Solar
© Lupi Spuma
Drängende, tumbe Masse
Vorne wird Woyzeck schier zermalmt. Es sind nämlich nicht nur sechs Marien – die eigentliche, die dann doch ein paar Szenen allein hat mit Franz Solar in der Titelrolle, ist Philine Bührer. Aber meist hat es Woyzeck mit allen Sechsen auf einmal zu tun. Alle sitzen sie da (noch in den Frauenkleidern von der Eingangsszene) mit Rasierschaum im Gesicht. Sechs Hauptmänner und sechs Doktoren werden ihm vorhalten, dass er "keine Moral" hat und dass er "zu viel denkt, das zehrt".
Ein wenig zehrt schon auch Oliver Frljić' Zugang zu dem Theatertext, den er als Fragment wörtlich nimmt, stenogrammartig zerlegt, aber auf der anderen Seite mit schier barocker Bilderflut konterkariert. Diese Menschengruppe, die sich über den sich verzweifelt-gutwillig abstrampelnden Woyzeck her macht, ist immer übermächtig. Auch wenn sie sich in Büßerhemden und mit übergestülpten Tierköpfen an ihn ran macht. Franz Solar kann keine Bewegung machen, ohne an einem seiner Drangsalierer anzustreifen. Wie die Tierköpfe deuten? Vielleicht auch als Bild für die Hoffnungslosigkeit, der drängenden tumben Masse zu entrinnen. Nicht zu vergessen, sechzig Minuten lang spiegeln auch wir uns in dieser Herde...
Üppig geht Oliver Frljić mit religiösen Motiven um. Nachdem Woyzeck (nun zur Abwechslung die eine) Marie getötet und sich an ihr vergangen hat, richtet er das Messer gegen die eigenen Genitalien und sagt dazu die Wandlungsworte "Nehmet und trinkt alle daraus, das ist mein Blut...". Als Schmerzensmann mit Dornenkrone wird Wozeck dann da knieen und seinen Peinigern die Füße waschen. Eine Pietà-Gruppe bildet sich, und das "Vater, warum hast Du mich verlassen" wird eine aus der Büßergruppe so zornig wie insistierend wiederholen.
Blasphemie?
In einem ausführlichen Programmheft-Interview spricht der Regisseur auch über den Begriff "Schuld" und davon, dass "das Schuldgefühl eine der größten Erfindungen des Christentums" sei – die Motivation für Selbstkontrolle. "Sie macht Menschen gehorsam". Das kommt in diesem "Woyzeck" mit stark religiösem Drall auch heraus. Diese Figur pariert aus innerer Gutmütigkeit heraus, erträgt alle Tortur wegen einer quasi autoritär eingeimpften Anständigkeit.
Zurückhaltung, Deutung quasi zwischen den Zeilen ist keine Tugend von Oliver Frljić. Der offensive Umgang mit heiligen Texten wird sicherlich nicht allen gefallen, lässt einen dann und wann tatsächlich zusammenzucken. Blasphemie? Das wird jeder im Publikum aus der eigenen Weltanschauung heraus für sich beurteilen müssen.
"Piss er ins Publikum, Woyzeck" schaffen die sechs Drangsalierer ihm an. Das hat für die Aufführung ganz eindeutig votiert, mit viel Jubel fürs intensiv sich einsetzende Ensemble, für den Regisseur und sein Team. Keine vernehmbare Gegenstimme.
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Oliver Frljić, Bühne: Igor Pauška , Kostüme: Sandra Dekanić, Licht: Paul Grilj, Dramaturgie: Marija Karaklajić, Veronika Maurer
Mit: Franz Solar, Philine Bührer, Katharina Klar, Sebastian Klein, Florian Köhler, Gerti Pall, Christoph Rothenbuchner, Franz Xaver Zach
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.schauspielhaus-graz.com
Oliver Frljić führe sein Ensemble "in die finstersten Ecken menschlicher Perfidie“ und baue "über das Stück eine Bilderflut, deren Sinnlichkeit den Text unter sich begräbt. Das könnte man dem Regisseur auch vorwerfen, zur Premiere gab es dafür tosenden Applaus.“ So berichtet Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (21.3.2015).
Ein "Passionsspiel, modisch vermengt mit einem Porno", hat Barbara Petsch für die Presse (online 21.3.2015) in Graz gesehen. Frljić habe sich an Büchners Text "eher vergriffen"; das Fragment wurde "klein gehackt und willkürlich zu- und aufgeteilt". Büchner habe "wie gemalte Szenen aus Dorf und Kleinstadt" geschaffen; das Drama beziehe seine Wirkung "aus dem raschen Wechsel von Vitalität und Depression, Visionen, Kopf-Gespenstern, und einer gespenstischen Realität". Frljić reihe in Graz bloß "schlechte Klischees aus dem Regietheater aneinander".
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