"Ahnungslosigkeit, Fahrlässigkeit und Ignoranz"

1. April 2015. Gegen die fristlose Entlassung des Rostocker Intendanten Sewan Latchinian am Vortag regt sich Protest. So melden sich die Intendanten Ulrich Khuon und Holger Schultze (beide Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins) in einem offenen Brief an Oberbürgermeister Methling zu Wort: "Es ist offensichtlich, dass Sie durch dieses Manöver von der eigentlichen Problematik ablenken wollen: nämlich dass Sie eine katastrophale Zerstörung der Strukturen des Rostocker Theaters durchführen und ein Vierspartenhaus zum Zweispartenhaus amputieren. Dies ist für uns inakzeptabel."

Die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) spricht in einer Pressemitteilung von einem "großen und irreparablen Schaden" für das Theater und seine Beschäftigten. "Nach Latchinian käme im besten Falle ein willfähriger Nachfolger, der die Zwei-Sparten-Strategie exekutiert." Wenn man alle Abfindungen für die geschassten Intendanten der letzten Jahre nehme, "hätte sich jede Strukturdebatte in finanzieller Hinsicht vermutlich erledigt", so GDBA-Präsident Jörg Löwer.

Entlassung wieder rückgängig machen?

"Ihre Entscheidung führt das Rostocker Theater geradewegs in die Bedeutungslosigkeit", schreibt die Dramaturgische Gesellschaft mit ihrem Vorsitzenden Christian Holtzhauer in einem offenen Brief. "Auf Ihrer gestrigen Sitzung haben Sie sich selbst und der Stadt Rostock ein Armutszeugnis ausgestellt. Ihre Entscheidung kündet von Ahnungslosigkeit, Fahrlässigkeit und Ignoranz."

Helge Bothur, Mitglied der Rostocker Bürgerschaft für die Partei "Die Linke", informiert derweil in einem Kommentar auf nachtkritik.de über einen Antrag von Linke, Grünen und Rostocker Bund/Graue: Man wollte auf einer Sondersitzung der Rostocker Bürgerschaft am 13. April die fristlose Entlassung rückgängig machen. Die Entlassung war vom Hauptausschuss der Bürgerschaft mit nur einer Stimme Vorsprung beschlosen worden. "Der Vorgang ist arbeitsrechtswidrig und gefährdet damit das Wohl der Gemeinde, das regionale und überregionale Ansehen der Hansestadt Rostock", heißt es in der Begründung des Antrags. "Fazit: Die Beschlussvorlage des Oberbürgermeisters ist abzulehnen."

(mw)

In einem Interview mit nachtkritik.de äußert sich Sewan Latchinian zu den Umständen der Entlassung.

Die Kündigung kommentiert Georg Kasch.

Chronik zum Fall des Rostocker Volkstheaters unter Sewan Latchinian: alle Meldungen und Debattenbeiträge.

 

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Kommentare  
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: Sie müssen deutlicher werden
Lieber Herr Khuon, lieber Herr Schultze -

dieser Bürgermeister wird auf Ihren Appell reagieren wie neulich sein Hersfelder Kollege, nämlich gar nicht. Und wenn er das Glück hat, welches Herrn Fehling zuteil ward, zieht er binnen Kurzem einen mit vielen Wassern gewaschenen Opportunisten aus dem Hut, der es ihm, unter beifälligem Gemurmel der zuständigen Medien, richtet - und die Sache hat sich. Ich fürchte, Sie müssen politisch ein gut Teil deutlicher werden, was die solchen Vorgängen zugrunde liegenden Strukturen angeht, als Herr Latchinian Es fehlt nicht mehr viel und jegliche Theaterarbeit in dieser Republik macht sich mitschuldig am rapiden Verfall eben jener "Werte", von denen sie so gerne spricht. Ein IS-Räuber mit seinem Vorschlaghammer handelt aus Überzeugung. Nicht einmal das will Herr Methling sich nachsagen lassen.

Mit freundlichen Grüßen -

Frank-Patrick Steckel.
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: von Berlin aus die Deppen belehren
Ich würde dem Herrn Khuon auch gerne mal einen Brief schreiben. Darin könnte zum Beispiel geschrieben, dass der Herr Khuon mal lieber dafür sorgen soll, dass sein eigenes Haus aus dem Koma erwacht, in das er es schwäbisch gemütlich hineingeführt hat. Jedenfalls mag ich dieses- von Berlin aus den Deppen in der Provinz sagen, was sie zu tun haben, überhaupt nicht.
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: Meinungsfreiheit auch für Berliner
Sie werden es nicht glauben, lieber MfG, selbst Berliner Intendanten haben laut Grundgesetz (schon mal gehört?) das Recht, eine eigene Meinung zu haben. Mehr noch: Sie dürfen sie sogar äußern. Ich weiß: Zustände sind das in diesem Land...
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: Provinz-Gastspiele
Briefe sind toll, vor allem, wenn so öffentlichkeitswirksam wie hier. Auch toll wäre, wenn der Ulrich Khuon sein Spitzenensemble zu Gastspielen in die Provinz schickt. In Rostock sind gerade ein Positionen frei geworden, das müsste doch passen.
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: zunehmende Marginalisierung
Steckel hat recht. Die Politik sitzt es in Rostock aus, so wie sie es in Hersfeld auch getan hat. Da Kultur eine freiwillige soziale Leistung ist, zieht sie in Zeiten knapper Kassen immer den kürzeren. Und es wird sich natürlich jemand finden, der das dann in Rostock schon irgendwie machen wird und dann wird man sagen, ja, es geht doch, immerhin hat man zwei Sparten erhalten. Herr Latchinian wird so hart auch nicht fallen, irgendwo wird ein Intendantenpöstchen schon frei werden für ihn, er hat sich ja jetzt hier und in Senftenberg wund gekämpft. In Hersfeld war's ja ähnlich. Erst gibt es einen irren Aufschrei, Gott und die (Theater-)Welt wird mobilisiert gegen die Entlassung Freytags, dann kommt Wedel und plötzlich ist alles gut und alle haben sich wieder lieb. Und Holk Freytag inszeniert bei Wedel. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Und so lange die Kunst immer nur dramatische Reden schwingt, nimmt sie doch keiner ernst. Weil sie aber nichts anderes tun kann, nimmt sie sich auch selber nicht mehr ernst. Herr Khuon und Herr Schultze sind jetzt -ich glaub's ihnen sogar- ehrlich und ernsthaft empört und sie wissen beide, dass das nicht bewirken wird. Aber man wird's ja noch mal sagen dürfen. Das Ganze zeigt die zunehmende Marginalisierung des Theatersystems und natürlich wird das so weiter gehen mit dem Theatersterben. In einer Welt, die sich zunehmenden den freien Märkten unterwirft ist das doch logisch. Dass Theater, weil sie mal wichtig waren und heute noch glauben, dass sie es sind, eine Art Naturreservat werden, ist doch Illusion. Städte, die kein Geld mehr haben, investieren in das, von dem sie glauben, dass es sie zukunftsfähig macht. Theater ist nicht länger systemrelevant in Rostock nicht und in immer wenigen Städten. Dass man sich dagegen auflehnt, empört, dagegen anarbeitet und viele, viele Menschen immer noch daran glauben, wird nichts ändern. Der Rest ist Zynismus.
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: ich halte es mit Steckel
Was ist los mit euch?
Dieser Sarkasmus ist nicht hilfreich.
Ich halte es mit Steckel.
Über Werte zu reden, ist das Eine.
Werte ins Leben zu hieven, das Schwere.
Er hat recht, es muss viel klarer argumentiert werden.
Dabei ist das Recht auf freie Meinungsäußerung ein Fundament.
An diesem wird in dieser Republik mit schweren Hämmern eingedroschen.
Dafür lässt sich sogar Politik benutzen.
Das entzieht Demokratie stetig ihren Wert an sich.
Bis sie fällt, wie ein hohler Baum.
Deshalb hilft auch jeder gutgemeinte und sicher nie vollkommen uneitel Brief weiter. Khuon nebst Ensemble einzuladen, ist dann nicht die schlechteste Idee. Das probiere ich mal.
Doch bitte, bitte, bitte, ätzt nicht so viel rum.
Das hilft so gar nicht.
MfG, Chineese, bitte tut euch zusammen und sagst Khuon.
Tut euch zusammen und helft mit!

Danke.

Helge Bothur aus Rostock
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: Hinweis
http://www.deutschlandradiokultur.de/nach-latchinian-rauswurf-rostock-hat-ein-grundsaetzliches.1008.de.html?dram:article_id=315959
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: Vorschlag
zu 6.
Noch besser wäre, wenn Khuon das Rostocker Volkstheater aus Solidarität nach Berlin zu sich ans Dt einladen würde: beispielsweise mit Latchinians INGRID BABENDERERDE nach Uwe Johnson.
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: Babendererde unerklärbar
Das war leider nicht möglich. Bei aller Liebe und Zuneigung. Wie hätte man die Einladung einer derartigen Inszenierung einem aufgeklärten Berliner Publikum gegenüber rechtfertigen können?
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: auch in Berlin
@9: Das fragt sich bei so mancher Berliner Inszenierung aber auch.
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: schöne Geste
Eine ganze Produktion nach Berlin einzuladen ist vielleicht etwas viel. Ein schöne Geste wäre es, riefe der Ulrich Khuon den Sewan Latchinian als Regisseur an sein Haus. Ein Jungautor in der Box sollte wohl drin sein.
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: scheinheilige Sorge
Zu 9.
Ach, Gottchen, da macht sich aber jemand ganz scheinheilige Sorgen. Als hätte Latchinian nicht schon oft am Dt inszeniert. Ich schwärme heute noch von seinem DISNEYKILLER oder seinem LEBENSTOFF - auch seine WerkstattInszenierung vor 2 Jahren zu den ATT am Dt fand ich sehr spannend.
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: Politik-Visionen
Statt sich mit gegenseitigen verbalen Scharmützeln in die Besinnungslosigkeit zu politisieren und unbequemen Theatermachern den Garaus zu machen, könnten die politisch Verantwortlichen des Landes einfach mal ihren Job machen: eine (durch Strategien, Handlungspläne und Ressourcen untermauerte) Vision des "Kulturlandes" Mecklenburg-Vorpommern entwerfen und dafür Mehrheiten organisieren. Wenn dann am Ende ein weiteres überdachtes Fußballstadion dabei herauskommt - auch gut. So iss dat hier. Wer kein Theater aushält, braucht auch keinen Theaterneubau. Berlin und Hamburg sind von Rostock aus gut zu erreichen.
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: an Theatralik kaum zu überbieten
Erst der IS-Bezug, dann die "Je suis Sewan"-Plakate und "Oh Captain, my Captain!"-Sprechchöre im Rathaus. Schließlich die Beschwörung eines neuen Lichtenhagens … Diese Rostocker Inszenierung ist an Theatralik wahrlich kaum zu überbieten. Jetzt fehlt eigentlich nur noch Latchinians "I have a dream!"-Rede. Und wann gibt es endlich den ersten Hitler-Methling-Vergleich? Wo bleiben die Hiroshima-Metaphern? Willkommen im Zeitalter der Hysterie, Applaus und Vorhang!
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: in die Verlängerung
Dass sich Latchinian entschieden hat in die Verlängerung zu gehen, darüber freue ich mich am meisten. Bei dem Streitwert ist es einigermaßen naheliegend, dass ihm seine Vertretung Mut zuspricht. Nüchtern betrachtet sieht die Angelegenheit hier allerdings etwas anders aus als bei Piontek, der bereits eine Auflösungsvereinbarung unterschrieben hatte, bevor er von seinen Pflichten entbunden werden musste. Es ist davon auszugehen, dass Methling aus der darauffolgenden Verhandlung einiges gelernt hat. Im Gegensatz zu Latchinian, wird er nicht das erste Mal vor dem Areopag stehen. So bleibt es für die Zuschauer weiter spannend.

Um das Warten zu verkürzen hier noch mal einige Szenen aus dem Schlussteil des ersten Aktes:

http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/nordmagazin/Rostock-Streit-um-Entlassung-des-Intendanten,nordmagazin28740.html
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: wie wäre es?
@13: "gut zu erreichen". Ich glaube, es piept. Wie wäre es, wenn Sie die Fahrtkosten übernehmen?
Proteste gegen Latchinian-Entlassung: klar wie Kloßbrühe
Die deutsche Orchester- und Theaterkultur wurde Ende des letzten Jahres von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Kann die Sparpolitik der Rostocker Bürgerschaft also mit der Barbarei des IS verglichen werden? Selbstverständlich. Natürlich ist die Kulturpolitik Rostocks, so sehr sie den Etat ihres Stadttheaters auch kürzen wollen, nicht barbarisch und Bürgermeister Methling ist kein Kulturfeind, sondern nur Oberhaupt einer Stadt mit leeren Kassen. Die Aussagen Latchinians waren als Provokation gedacht, sie waren vielleicht geschmacklos aber in ihre Funktion als Vergleich statthaft. Nur indem Bezüge gesetzt werden, entsteht Verantwortung. Sowohl die Weltkulturerbestätten Lamassus als auch das Stadttheater Rostock sind Orte an denen, auch unsere, Vergangenheit und Gegenwart verhandelt werden. Sind sie in ihrer Existenz bedroht, stellt sich die Frage, was wir bereit sind, für ihren Erhalt zu investieren. Soviel sei klar wie Kloßbrühe.
Ganzer Blogpost: https://warumesregnet.wordpress.com/2015/04/02/isis-an-der-ostsee/
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