Das Publikum auf der Bühne

von Jens Roselt

8. April 2015. 2009 wurde am Staatsschauspiel Dresden mit der Bürgerbühne eine neue Sparte des Theaters eröffnet, die partizipative Rechercheprojekte mit Dresdner Bürgern entwickeln sollte. Und auch an anderen europäischen Theatern sind ähnliche Projekte initiiert worden. Die Bürgerbühnen bilden inzwischen ein international agierendes Netzwerk, das seine Produktionen alljährlich auf einem Festival, dem deutsch-europäischem Theatertreffen (2014 am Staatsschauspiel Dresden, 2015 am Nationaltheater Mannheim), präsentiert.

Ermächtigung als ästhetische Praxis

Ermächtigung als ästhetische Praxis ist das künstlerische Programm dieser Bürgerbühnen. Ermächtigung heißt, dass Bürger im Theater nicht mehr lediglich als Zuschauer interessieren, sondern als Teilhaber von Aufführungen auf die Bühne kommen, um hier zu verhandeln, was sie bewegt. Nicht-professionelle Darsteller treten auf und in jeder Aufführung stellt sich die Frage, wie diese Darsteller Souveränität erlangen können. Dieser Akt der Ermächtigung ist im Theater zugleich prekär, schwierig, gefährlich. Der Auftritt vor Publikum ist ungewohnt. Der Auftritt der Bürger hat mit Überwindung, Angst und Mut und der Möglichkeit des Scheiterns zu tun.

Man könnte vermuten, Authentizität steht als erstes auf dem Spiel, wenn man eine Bühne betritt. Für die Arbeit mit nicht-professionellen Darstellern und für die Wahrnehmung der Zuschauer ist dies ein interessanter Aspekt, zu beobachten, was für eine Form ein Darsteller für sich selbst auf der Bühne findet; wie er mit der meist ungewohnten Darstellungssituation umgeht und was für Figuren dabei in der Perspektive der Zuschauer entstehen. Welche Strategien und Formen sind zu beobachten? Welche prekären Figuren entstehen dabei? Und wie erlangen die Darsteller dadurch gleichwohl Souveränität?

BBRoselt Baal280h Sanne Peper xTeenie-Pary: "Baal" © Sanne Peper

Die Gruppe als Protagonist

Das klassische bürgerliche Theater rückte den individuellen Helden ins Zentrum der Handlung und präsentierte ihn meist auch im Stücktitel. Und auch die Performanceart stellte traditionell eher einzelne Personen als Handelnde ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Demgegenüber ist bei den Bürgerbühnen andere Strategie zu beobachten: Der einzelne Darsteller wird zumeist als Teil einer Gruppe inszeniert, zu der er gehört und aus der er heraustreten kann. Bürgerbühnen verhandeln soziale Themen als Gruppenprozesse und nicht durch individuelle dramatische Konflikte einzelner Figuren. Der Auftritt in der Gruppe hat auch einen theaterpädagogischen Effekt. Er vermag jedem Darsteller Sicherheit zu geben.

Fast jedes Projekt, das auf dem Mannheimer Festival zu sehen war, findet eine eigene theatrale Form, um die Gruppe als soziale Formation und als eigentlichen Protagonisten zu inszenieren.

Gruppe als Clique Jugendlicher

Im "Baal" der Toneelgroep Oostpool ist es eine Gruppe Jugendlicher, die schon in der Einlasssituation dem Publikum als verschworene Gemeinschaft gegenübertritt. Die Aufführung wird bestimmt durch jugendkulturelle Rituale und Praktiken, die das Darstellerensemble als Clique etablieren. Auch wenn sich innerhalb der Gruppe im Laufe der Aufführung vielfältige Differenzierungen ergeben, treten die Darsteller gegenüber dem Publikum stets als verschworene Gemeinschaft in Erscheinung.

Gruppe von Profifußballern

Bei "Michael Essien. I want BBRoselt essien 560 paulien verlackt x"Michael Essien": Profifußballerto play as you" ist es eine Gruppe von 6 Männern, die nicht nur ihre westafrikanische Herkunft, sondern auch ihren Beruf "Profifußballer" und ihren mitunter professionellen Werdegang im europäischen Fußballgeschäft gemein haben. Die Darsteller werden als Experten vorgeführt, deren Expertise in ihrem fußballerischen Vermögen und ihren individuellen Lebensgeschichten besteht, wobei sich Ziele, Hoffnungen und Enttäuschungen sehr ähneln.

Gruppe von Brennpunkt-Einwohnern

Wiederum in "9220: Portraet af en Bydel" (Aalborg) stehen 5 Personen aus besagtem Stadtteil auf der Bühne, der auf Grund seiner ethnischen und sozialen Zusammensetzung als Brennpunkt markiert ist. Eine Gruppe bilden die Performer also nicht wegen ihrer Herkunft, sondern auf Grund ihres Wohnortes. Was Alter, Geschlecht und Ethnie angeht, sind sie durchaus verschieden. Gemein ist ihnen also vor allem die Stigmatisierung als Bewohner eines Problembezirks, die sie im Laufe der Aufführung untersuchen. Gegen diese öffentliche Wahrnehmung setzen die Darsteller in der Aufführung die eigene Erkundung ihrer Nachbarschaft. Sie recherchieren und dokumentieren, führen Interviews und begegnen der eigen Lebenswelt aus einer Art enthnografischer Perspektive. Sie erscheinen als Berichterstatter, die Stimmen und Eindrücke sammeln und so ein vielgestaltiges Porträt der eigenen Umgebung vorführen. Und das ist auch eine Form von Ermächtigung, die sich szenisch vor allem medialer Mittel bedient. Videokameras, die im besagten Stadtteil sonst nur als Überwachungsmittel dienen, werden zu Beobachtungs- und Aufzeichnungsinstrumenten, welche die Geschichten der Bewohner sammeln. Es handelt sich um ein klassisches Recherchestück, das die Gruppe der Bürger als Rechercheure in Szenen setzt und sie ermächtigt ihre eigenen Geschichten zu erzählen.

Gruppe als musikalisches Ensemble

Einen ganz anderen Ansatz zeigt die Arbeit Geräuschorchester aus Mannheim. Hier werden die Bürger durch ihr gemeinsames Handeln und Tun, nämlich das Machen von Geräuschen, Tönen mithin Musik, zu einer Gruppe. Damit revitalisiert das Projekt im Grunde eine genuine bürgerliche Kulturtechnik, nämlich das gemeinsame Musizieren (Stichwort Hausmusik, nicht mehr höfisch, sondern bürgerlich). Das ist eine wichtige (vielleicht neue) Facette der Bürgerbühnen, dass das gemeinsames Tun und Machen im Zentrum steht. Die Zuschauer beobachten die Akteure, die auf ihr Handeln und nicht so sehr auf sich selbst als darstellende Person konzentriert sind. Das relativiert nicht zuletzt auch die Dominanz der Sprache und des Sprechens, die viele Bürgerbühneninszenierung kennzeichnet.

BBRoselt Geraeuschorchester 560 x xMusik-Gruppe: "Geräuschorchester" aus Mannheim

Gruppe als Identitätsfrage

In "Die Lücke. Ein Stück Keupstraße" sind es zwei Gruppen, die auch räumlich einander gegenüber- oder neben einander gesetzt sind (jeweils 3 Personen). Der Raum stellt zwei Welten einander gegenüber. Die beiden weißen Kuben sind neutral und eignen sich gerade deshalb als Projektionsflächen für das Publikum und die wechselseitigen Reflexionen der beiden Darstellergruppen. Im rechten Bühnenkubus sieht man drei Anwohner der Kölner Keupstraße (oder der näheren Umgebung), die biografisch mit dem rechtsterroristischen Bombenanschlag 2004 zu tun haben und die alle drei, obwohl sie vor einer schneeweißen neutralen Wand stehen, stets mit ihrem migrantischen Hintergrund spielen (müssen). Und auf der linken Seite sitzen drei professionelle Schauspieler, die Figuren spielen, welche auf Grund von Sprache, Kostüm und Habitus keinen migrantischen Kontext haben, sondern vielmehr für eine Mehrheitsgesellschaft stehen, die sich angesichts des Mordanschlags reflektiert, wortgewaltig, bemüht und zugleich rat- und hilflos mit denjenigen Kölnern beschäftigen, denen er galt. Man könnte natürlich sagen, dass es sich doch um eine Gruppe handelt, nämlich die der Kölner. Damit wären wir schon genau bei der Frage, die das Projekt verhandelt: Wer ist "wir"? Es geht um das Nebeneinander von Lebenswelten in einer Stadt und um die wechselseitigen Perspektiven. Es geht um die Frage, wer wem zuhört, wer fragt, wer antwortet und wer die Autorschaft über die eigene Erzählung für sich reklamieren kann.

Bei "Dicke Frauen" (Hildesheim) steht eine Gruppe von sieben Bürgerinnen auf der Bühne, die alltäglich mit der Zuschreibung "dicke Frau" zu tun haben und die sich auf der Bühne damit auseinandersetzen, wie sie gesehen werden, wie sie gesehen werden wollen und wie sie sich selbst sehen. Und in "Mischpoke" (Dresden) stehen 10 Dresdner Juden auf der Bühne, die durch ihre autobiografische Bezüge sowie Rechercheergebnisse zu szenischen Chronisten jüdischen Lebens in Dresden in der Gegenwart und der DDR Vergangenheit werden.

BBRoselt Luecke2 560 x x"Die Lücke": Wer ist "wir"?

Ambivalenz der Gruppe: Zugehörigkeit vs. Ausschluss

Wenn man die Gruppe als Protagonisten der Aufführungen begreift, schält sich ein Aspekt heraus, der vielen Projekte trotz ihrer unterschiedlichen Themen und Inhalte gemein ist. Mit der Gruppe auf der Bühne wird die Ambivalenz von Zugehörigkeit bzw. individueller Geborgenheit auf der einen Seite und Ausschluss bzw. sozialer Stigmatisierung auf der anderen Seite zum Thema. Zugleich kann die Gruppe als Akteur auf der Bühne eine Handlungsvollmacht erlangen, die ihrem Auftritt eine politische Dimension geben mag. Und anders als in vielen Formen des chorischen und postdramatischen Theaters geht es nicht um die Auflösung der Kategorie der Individualität oder Subjektivität, sondern um die Individualisierungen durch und in Gemeinschaften.

Dabei setzen sich die Inszenierungen kritisch damit auseinander, wie gesellschaftliche Zuschreibungen und Stereotype die Identitätsbildung beeinflussen. So wird thematisiert, wie bestimmte Vorstellungen von Weiblichkeit oder Männlichkeit zur Norm werden, welche über repressive Körperbilder und Verhaltensweisen die Auftritte der Akteure im Leben und auf der Bühne bestimmen. Auch religiöse ("Mischpoke") und ethnische ("Michael Essien") Zuschreibungen spielen dabei eine erhebliche Rolle. Immer aber zeigen die Inszenierungen die Ambivalenz von Identitätsbildung und Stigmatisierung. Hierbei werden auf den Bürgerbühnen andere Darstellungsformen erprobt als im klassischen dramatischen Theater. Traditionell gilt: Ein Schauspieler verkörpert eine Rolle und konstituiert so für die Perspektive der Zuschauer eine Figur. Demgegenüber erproben Bürgerbühnen andere Figurenkonzepte.

Eigene Spielweisen finden

In Timothy de Gildes Baal-Inszenierung mit der niederländischen Toneelgroup Oostpool stehen 30 Jugendliche auf der Bühne und zeigen Brechts Theaterstück als pubertäres Experiment exzessiver Selbstüberschreitung durch Drogen, Alkohol und Sex. Zunächst formieren sich die Darsteller als Gruppe, die dem Publikum geschlossen gegenübertritt. Von Szene zu Szene treten einzelne Darsteller hervor und halten ein Pappschild hoch, auf dem zu lesen ist: "Ik ben Baal". Oder auch: "Ik speel Baal". Die Jugendlichen teilen sich die Verkörperung Baals. Junge Männer und Frauen lösen einander mit der Hauptrolle ab. Die Darsteller werden so von der Pflicht entbunden einen Charakter auszufüllen oder perfekt zu verkörpern und vor die Aufgabe gestellt, eine Haltung zu der Rolle und zu sich selbst zu finden und zu zeigen. Bürgerbühnen finden so – ganz im Sinne Brechts – eigene Formen einer epischen Spielweise.

BBRoselt alice 560 x x"Alice": Arbeit mit Sprachvariationen

Rollenspiel als Spiel mit Identitäten und deren Variationen ist auch bei "Alice" Programm, das durch Spracharbeit besticht. Bei Bürgerbühnen ist es ja häufig wichtig, dass die Darsteller überhaupt eine Art zu sprechen zu finden, die verständlich ist und es ihnen erlaubt, eine Sprechhaltung einzunehmen und vor Publikum aufzutreten. Das ist mitunter sehr eintönig. Bei Alice wird die Sprechweise innerhalb einzelner Repliken von einem Sprecher variiert, mal überzogen, dann zitierend, dann scheinbar selbstverständlich gesprochen. Schreien, Sprechen, Flüstern, Stottern usw. das ganze Register von Sprechweisen wird virtuos genutzt. Auch dies verleiht den Darstellern Souveränität, indem sie nicht auf ein Sprechregister reduziert werden.

Für nicht professionelle Darsteller kann die Bühne gleichwohl fremdes Terrain sein, auf dem sie den Blicken und dem Voyeurismus des Publikums ausgesetzt sind. Wie können die Performer unter diesen Bedingungen als souveräner Bürger in Erscheinung treten?

 1. Sicherheit durch konkretes Tun und Handeln

Erstens erlangen die Darsteller Sicherheit durch ihr konkretes Handeln und Tun auf der Bühne. Sie machen etwas, das sie machen können und ihnen aus dem Alltag vertraut sein dürfte. Im Expertentheater ist das häufig die berufliche Qualifikation der Darsteller. Diese spielt bei den Bürgerbühnen eine untergeordnete Rolle. Allenfalls das Fußballerstück zeigt die professionellen Fähigkeiten der Darsteller. Ansonsten geht es um alltägliche Handlungen wie das virtuose Rollstuhlfahren bei Qualitätskontrolle oder die Inszenierung zeichenhaften Tuns.

2. Ausstellung der ungewohnten Situation

Zweitens wird die für die Darsteller mitunter ungewohnte Präsentationssituation vor zahlendem Publikum nicht kaschiert, sondern ausgestellt. Die zentrale Redehaltung ist die Ansprache an das Publikum, das auch körperlich adressiert wird. Die Akteure stehen den Zuschauern zumeist frontal gegenüber und richten ihre Blicke und Körper nach ihnen aus. Auch das führt zu bestimmten statischen Körperhaltungen und einfachen Bewegungen, die Sicherheit geben können.

3. Erzählen und Berichten als entscheidende Darbietungsform

Drittens ergibt sich daraus, dass die entscheidende Form der Darbietung das Erzählen oder Berichten ist. Die Bürgerbühnen reaktivieren damit eine alte mündliche Kulturtechnik, die zur Alltagserfahrung gehört. Souverän sind die Darsteller auf der Bühne also, weil sie etwas zu sagen bzw. dem Publikum zu erzählen haben und wissen, wie man so etwas tut. Mit dieser Form von Erinnerungsarbeit praktizieren Bürgerbühnen eine szenische Version der oral history. Zugleich werden neue Formen von Autorschaft reklamiert, in dem die Darsteller als Autoren ihrer eigenen Geschichte in Szene gesetzt werden.

4. Autobiografischer Bezug

Der autobiografische Bezug zwischen den Darstellern und ihren Erzählungen ist der vierte Aspekt, der die Darsteller auf der Bürgerbühne souverän erscheinen lassen kann. Wie authentisch das im Einzelnen ist, kann durchaus offen bleiben.

5. Aufbrechen klassischer Konzepte von Figur/Rolle

Fünftens schließlich werden auf den Bürgerbühnen andere Konzepte von Figur erprobt, welche die klassische Einheit von Schauspieler, Rolle und Figur aufbrechen und den Darstellern die Möglichkeit geben mit ihren Rollen als Material zu spielen. Diesen zentralen Aspekt der professionellen BBRoselt dickefrauen 280 andreashartmann x"Dicke Frauen" © Andreas HartmannTheaterarbeit mit nichtprofessionellen Darstellern haben Expertentheater und Bürgerbühnen gemeinsam. Bei den Bürgerbühnen werden dabei häufig geschlechtliche Stereotype hinterfragt oder dekonstruiert, während sie im professionellen Schauspielertheater doch häufig bloß gekonnt wiederholt und bestätigt werden. Dies geschieht zum einen explizit über das Thema (Dicke Frauen, Fußballer, Männer) oder über die Konstitution der Figuren (Alice).

6. Direkte Ansprache des Publikums

Sechstens: Alle Inszenierungen des Festivals sprechen ihr Publikum direkt an. Gleichzeitig wird die Grenze zum Zuschauerraum so gut wie nie in Frage gestellt. Nie tauchen Darsteller im Publikum auf und nie werden Zuschauer auf die Bühne geholt. Es gibt nur drei Inszenierungen im Programm, die es auf eine Art expliziter Interaktion mit den Zuschauern ankommen lassen, die in der Regel über Fragen läuft. Aber nur in "Dicke Frauen" ist die Arbeit am Zuschauer konzeptuell oder konsequent angelegt. Das Publikum kann über Fragekärtchen auf den Verlauf der Aufführung Einfluss nehmen, da eine geloste Auswahl der Fragen verlesen wird und die Darsteller improvisierend zu antworten haben. Diese Szene findet erst gegen Ende der Aufführung statt, deren Verlauf dadurch auch nicht wesentlich korrigiert wird.

Wie Werturteile fällen?

Die Praxis der Bürgerbühnen stellt auch eine Provokation für die Souveränität des Publikums dar. Die im deutschsprachigen Regietheater seit den 1960er Jahren geschulte Frage nach den Interpretationen, den Lesarten oder den Aktualisierungen, durch die sich ein Regisseur am Theaterstück abarbeitet, ergibt ohne dramatische Handlung und Figuren keinen Sinn mehr. Zuschauer, die es gewohnt sind Werturteile über perfekte professionelle Schauspieler zu fällen, müssen neue Rezeptionsweisen erproben. Die eindeutige Unterscheidung zwischen guten professionellen Schauspielern und schlechten ambitionierten Laien wird aufgehoben.

Sich nicht mit einer Haltung oder sich selbst identifizieren

Wie schon im letzten Jahr in Dresden gibt es auch diesmal eine Produktion, über die es mir schwer fällt zu sprechen: Qualitätskontrolle von Rimini Protokoll. Die Arbeit zeigt eine Darstellerin, die seit einem Unfall vor vielen Jahren gelähmt ist und auf der Bühne in ihrem Rollstuhl sitzt und von sich und ihrem Alltag berichtet, wobei sie von zwei Pflegekräften unterstützt wird. Als ich den ersten Anlauf gemacht habe, um diese Arbeit zu beschreiben habe ich den Satz geschrieben, dass Qualitätskontrolle das Schicksal der Darstellerin thematisiert. Damit habe ich einen Begriff aufgerufen, der eine lange Geschichte hat und im Theater bis in die griechische Tragödie zurück reicht. Zugleich – wenn ich die Aufführung Revue passieren lasse – finde ich aber, dass die Rede vom Schicksal völlig deplatziert ist. Die Inszenierung scheint geradezu alles auszulassen und zu vermeiden, was mit Schicksalhaftigkeit zu tun hat: Es geht nicht um die Frage nach dem Sinn des Leids. Es geht nicht um das Hadern am eigenen Schicksal und auch nicht um die Frage nach Erlösung.

qualitaetskontrolle2 560 matthiasdreher u"Qualitätskontrolle": Distanz zur eigenen Geschichte © Matthias Dreher

Im Grunde ist aber auch die Rede vom Leid nicht angebracht, denn auf der Bühne geht es gar nicht ums Leiden, sondern ums Leben. Wir sehen die Protagonistin nicht leiden, sondern beobachten sie beim Leben, bei dem was sie täglich tut. Qualitätskontrolle ist keine Hiobsgeschichte. Gezeigt wird vielmehr die Virtuosität des Rollstuhlfahrens mit dem Kinn, das Spielen mit den Pflegern und die merkwürdige Dialektik von Herr und Knecht, die zwischen der Darstellerin und ihren Pflegekräften herrscht. Souverän wird die Darstellerin durch das, was sie kann. Obwohl sie in nahezu jeder Minute ihres Lebens nicht souverän bzw. unabhängig ist. Für mich erlangte sie Souveränität aber vor allem dadurch, dass ich es ziemlich unheimlich finde, dass die Frage nach Schicksal, Leid und Sinn ausgelassen wird. Das hat nichts mit Authentizität zu tun. Es geht nicht darum, wie Darstellerin tatsächlich mit diesem Komplex umgeht, sondern dass die Inszenierung ihr die Größe lässt, sich dessen zu enthalten, was wahrscheinlich viele Zuschauer umtreibt. Vielleicht wird hier ein auch sonst verwendetes Mittel von Rimini Protokoll kenntlich, das ihre Arbeiten von denen der meisten anderen Bürgerbühnen unterscheidet: Mit den Experten entstehen Figuren auf der Bühne, die eine Haltung zu ihrer eigenen Geschichte einnehmen, ohne sich mit dieser und mit sich selbst zu identifizieren.

 

JensRoseltJens Roselt ist Dramatiker und Theaterwissenschaftler. Seit 2008 lehrt er als Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Stiftung Universität Hildesheim. Zuvor war Roselt Geschäftsführer des Sonderforschungsbereichs "Kulturen des Performativen" an der FU Berlin. Seit 1995 arbeitete er in dramaturgischer Tätigkeit an verschiedenen Theatern, u.a. an der Volksbühne Berlin, am Schauspielhaus Hamburg und am Staatstheater Mainz. Der Vortrag enstand für das 2. Bürgerbühnenfestival in Mannheim.

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