Das Leben ist nicht weitergegangen

von Sabine Leucht

München, 11. April 2015. Das Konzert danach ist fast Pflicht für Premierenbesucher, denn bevor Laibach die Bühne des Residenztheaters mit elektromusikalischem Bombast und Pixeln füllen, die sich zu dramatischen Landschaften oder zum Skelett einer kippenden Galeere fügen, zeigt Milo Rau noch einen Film: Darin sieht man die Gesichter der Schauspieler, die eben schon im benachbarten Marstall zugleich in Fleisch und Blut wie auf Screens zu beschauen waren. Per Konserve bauen sie nun eine Brücke zur Kultband, die gerne mit der dunklen Seite der Macht kokettiert. "Deutsche! Europäer!", rufen diese talking heads markig. "Europa muss deutsch sein, oder es wird nicht sein!" Dazu passt, dass die slowenischen Gäste von Laibach kurz darauf die erste Strophe der deutschen Nationalhymne verfremden. Die Sätze docken auch an die Aufführung davor an, in der es fünffach um Kriegs- und Entwurzelungserfahrungen ging, fünffach um den Verlust des Vaters und vieler anderer Lieben – und eben um fünf unterschiedlich gebeutelte Europäer.

Was stört den Frieden in Europa?

Mit "The Dark Ages" schickt Rau, der Meister des theatralen Reenactments brisanter politischer Prozesse, ein selbst erfundenes Format in die zweite Runde und setzt damit seine Europa-Trilogie fort, die im August mit The Civil Wars in Zürich begonnen hat. Noch immer geht es Rau um die Frage, was den Frieden und die europäischen Einigkeit stört. Und noch immer ruht sein Blick auf den kleinen Geschichten der Einzelnen.

Wie intim die Bühnensituation ist und wie verletzbar sich die Akteure zeigen, wird einem erst im Kontrast mit der durchformulierten Überwältigungsdramaturgie der Rabauken-Darsteller aus Slowenien richtig bewusst. Laibachs Performance ist eine Wand. Im Marstall dagegen nimmt selbst der traurig-stechende Blick des einzigen Nicht-Schauspiel-Profis sofort Kontakt auf. Es ist der Menschenrechtsaktivist Sudbin Musić, zu dem die Ex-Insassen serbischer Konzentrationslager kommen, um ihre Toten zu finden, von denen er selbst auch etliche zu beklagen hat. Das Skelett seines Vaters hat er aus dem Dorfbrunnen und praktisch die ganze Nachbarschaft aus einem Massengrab geborgen. In seinem Dorf, in dem früher 80 Kinder zur Einschulung gingen, ist es heute nur noch eines. Das Leben ist nicht weitergegangen. Vergessen kann Sudbin das nicht.

Aus der Stadt, die niemals aufgab

Da ist Vedrana Seksan aus Sarajevo, der die Opferrolle nicht liegt und die als Jugendliche sehr tough sein musste, um in einer Stadt zu überleben, "die niemals aufgab". Serben wie Sanja Mitrović konnten aufmerken, wenn Bücher zensiert und Kinderfreundschaften verboten wurden – und trotzdem tolle Feten feiern, während die Nato Bomben auf Belgrad fallen ließ. Und da sind die so unterschiedlichen Geschichten der Resi-Ensemblemitglieder Valery Tscheplanowa und Manfred Zapatka. Sie ist als Kind im postsowjetischen Russland fast am schlechten Leitungswasser krepiert, in Deutschland dann von der Mutter "in den Vorgarten gestellt worden", um von einheimischen Kids in Sprache und Lebensart des neuen Landes eingeweiht zu werden – und lernte dabei das Schweigen. Allein Zapatkas Erlebnisse reichen zurück bis zum Zweiten Weltkrieg, als seine Familie in Bremen gleich zwei Mal ausgebombt wurde und körperlich halbwegs unversehrt davonkam, um später mit widerlichen Erbstreitigkeiten womöglich die Erfahrung des "Geschlagen-Seins" zu kompensieren. Doch das ist nur Spekulation. Analysiert wird wenig an diesem Abend.

DarkAges 01 560 Thomas Dashuber u Sich erzählen, zuhören, filmen – das Set in Milo Raus "The Dark Ages" © Thomas Dashuber

Alle fünf Darsteller ihrer selbst erzählen fast sachlich teilweise Unerträgliches und sitzen dabei in der Nachbildung von Sudbins Büro auf der recht kleinen Drehbühne, hören einander zu und filmen sich dabei. Auf der Bühnen-Rückseite versteckt sich eine klassische Rednerkanzel, auf der subjektive Wahrheiten nichts verloren haben. Für die Bereitschaft, diese mit uns zu teilen, möchte man den Schauspielern gerne von ganzem Herzen danken. Auch wenn sich Raus Versprechen, dass sich die vielen kleinen Geschichten schon zur großen Geschichte bündeln würden, nur bedingt einlöst.

Das Politische im Privaten

Das Politische ist im Privaten zwar allgegenwärtig, das Weltkriegsende 1945, der Beginn des Bosnienkrieges 1992 und das Massaker von Srebrenica 1995 werden benannt, doch die fünf Akte mit anspielungsreichen Titeln wie "Die Schutzflehenden", "Versuch über das Böse" oder "Schöne neue Welt" ordnen den Stoff nicht wirklich und auch der Faden aus "Hamlet"-Motiven ist eher dünn. Selbst der von Laibach eigens für den Abend komponierte Soundtrack wird nur homöopathisch dosiert und gibt einzelnen Szenen einen mal zynischen, mal melancholischen oder munteren Unterton.

Das Theater des Schweizers Rau ist streng – auch mit sich selbst –, ernst und dezidiert unspektakulär. Man muss es streckenweise schlicht aushalten, was auch an den dunklen Themen liegt. Die hochkonzentrierte Stille im Publikum gibt ihm für diesmal Recht. Und einige Sätze graben sich ins Gedächtnis. Gemeinsam mit den Filmbildern von fröhlichen Hochzeitsgästen, die inzwischen fast alle ermordet wurden, dem letzten Auftritt Dimiter Gotscheffs in der Hamletmaschine vor seinem Krebstod und dem Abschiedslächeln von Valery Tscheplanowas Vater. Und solange man solche Bilder und Erinnerungen teilen kann – über nationale und andere Grenzen hinweg – besteht auch für Europa noch Hoffnung.

 

The Dark Ages
ein Projekt von Milo Rau
Uraufführung
Regie: Milo Rau, Bühne und Kostüme: Anton Lukas, Musik: Laibach, Licht: Uwe Grünewald, Video: Marc Stephan, Dramaturgie: Sebastian Huber, Stefan Bläske.
Mit: Valery Tscheplanowa, Manfred Zapatka, Sanja Mitrović, Vedrana Seksan, Sudbin Musić
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Auch die in diesem Jahr zum Theatertreffen geladene Balkankrieg-Auseinandersetzung Common Ground von Yael Ronen, herausgekommen am Berliner Gorki-Theater im März 2014, gründet in biographisch-dokumentarischer Recherche.

 

Kritikenrundschau

Auf der Website des Deutschlandfunks schreibt Rosemarie Bölts (12.4.2015): Der Abend hinterlasse "beklemmende Nachdenklichkeit". Er sei "anstrengend", weil man immer wieder die Übersetzung, die oben im Laufband über dem Videobild laufe, benötige, aber auch die Protagonisten, die "so privat inszeniert" in dem unaufgeräumten Büro sitzen, mit "ihren kleinen Gesten, mit ihrer verlorenen Zugewandtheit, mit ihrer Haltung nicht aus dem Blick verlieren möchte". Emotionen schienen hinter der "Gefasstheit im Ausdruck", hinter der "sachlich-ruhigen Erzählweise" durch. Als "vierte Dimension unverzichtbar" erschienen die "zugleich bösartigen wie melancholischen Hymnen" von "Laibach", eine "perfekte Antithese zu der Intimität der Inszenierung".

Milo Rau schöpfe für den zweiten Teil seiner "Europa-Trilogie" "aus den privaten, von politischen Konflikten geformten Lebensgeschichten seiner fünf Schauspieler – um die Wunden Europas aufzuzeigen und in einer Zeit des Radikalverfalls von Werten zu fragen: Was ist übrig vom europäischen Gedanken?", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.4.2015). "Leben wir nicht immer noch im tiefsten, dunklen Mittelalter, in den Dark Ages?" Es gehe hier "nicht um Betroffenheit, sondern um Mitwissen, als Stütze des kollektiven Gedächtnisses", und es sei "die kostbare Offenheit der fünf Ich-Darsteller, welche hier zwei Stunden lang mit einem bitteren Lächeln mühelos Gegenwart herstellt".

"The Dark Ages" sei "ein Stück, das einen fertig macht", schreibt Tim Neshitov in der Süddeutschen Zeitung (13.4.2015). "Weil, erstens, Massenmordgeschichten, die von Überlebenden mit Wärme und Würde vorgetragen werden, sich grundsätzlich um keine kulturellen oder geografischen Grenzen scheren, die es in den Köpfen oder Herzen der Zuschauer geben mag, sie verschaffen sich einfach Zugang." Zweitens aber merke man diesem Stück an, wie Milo Rau "hier an seine Grenzen stößt". Er versuche "nichts weniger als den Ursprung des Bösen zu erkunden, und das Böse sprudelt hier aus jedem Loch, es bricht sich Bahn, ohne sich um Konzepte zu scheren. Es ist diese Ohnmacht des sonst souveränen Regisseurs, die einen schmerzlich berührt." Das Stück zerfalle "dann auch in drei Dramen, die lose nebeneinanderher stattfinden", es habe gar "etwas Youtubehaftes".

"Rezensieren will man diesen Abend mit diesen Geschichten eigentlich nicht, man will die Geschichten eins zu eins zitieren, vom ersten bis zum letzten Satz, aber weil das natürlich nicht geht, kann man hier nur schreiben: Gehen Sie da hin! Hören Sie den Schauspielern zu!" ruft Tobias Becker auf Spiegel online (Zugriff 13.4.2014) aus. "The Dark Ages" sei "ein vergleichsweise stiller Abend: eine politische Psychoanalyse, bei der es Rau um die Weltgeschichte geht, die sich in den Biografien der Akteure spiegelt." So schlicht die Form auch sei, "sie ist sehr durchdacht und klug. Das Setting schafft eine große Konzentration, die sich in den Zuschauerraum überträgt: Wer spricht, hat die ungeteilte Aufmerksamkeit."

"Inwieweit diese Erinnerungsbruchstücke als Bausteine einer gemeinsamen europäischen Erzählung taugen, mag dahingestellt sein", schreibt K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (13.4.2015). Das Besondere an diesem Abend aber sei "zum einen das Erzählen selbst. In vielen gelungenen Momenten ist das Ringen der Darsteller mit dem Preisgeben der eigenen, erinnerten Geschichte schmerzhaft spürbar." Und zum anderen sei dies "ein großer Abend über das Anhören der Geschichten von anderen. Die Angehörigen verfeindeter Gruppen der jüngsten Balkankriege hören einander äußerlich ruhig zu."

"Jeden Gesichtszug, jede Gefühlsregung vergrössert die Aufnahme zigfach. So faszinierend das ist, so simpel ist es auch. Wirkung zeitigt die Installation erst aufgrund der Inhalte, welche sie verhandelt", so Barbara Villiger Heilig in der NZZ (15.4.2015). Es gehe es um den Bosnienkrieg, "drei von Raus Ensemblemitgliedern haben ihn durchgemacht". Die Schrecken ihrer Vergangenheit evozieren Milo Raus Protagonisten mit lächelndem Gesicht, fast gespenstisch. "Doch stets bleiben sie isoliert in ihrer Schilderung: Anders als Yael Ronen am Berliner Gorki-Theater, deren Rechercheprojekt 'Common Ground' ebenfalls ins ehemalige Jugoslawien führte, bemüht sich der Regisseur weder um einen narrativen Faden, noch liegt ihm der gruppendynamische Prozess am Herzen". Dramatik im theatralischen Sinn komme nicht zustande, den dramatischen Berichten zum Trotz. "Und noch weniger als in 'The Civil Wars' ergeben die sich abwechselnden Erzählfragmente ein grosses Ganzes."

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