Kopftuch gegen Vaterland

von André Mumot

Berlin, 11. April 2015. Sie starren nur. Und flüstern leise im Chor: "Hier fliegen gleich ..." Und dann, nach einer langen, zaghaften Pause: "... die Löcher aus dem Käse." Es geht schon leichter, wenn das Ensemble endlich zu dem Teil kommt, wo der Erwin der Heidi von hinten an die Schultern fasst. Doch noch immer kein Lächeln, nur etwas lautere, etwas kampfeslustigere Stimmen. Und dann, ganz plötzlich, schreit Lea Draeger, als gäbe es kein Morgen: "Polonäse!" Na also: Jetzt brüllt auch der Rest des Ensembles den Stimmungs-Klassiker mit einer derart gefährlichen Gewalttätigkeit, dass einem tatsächlich Angst und Bange werden kann.

Islamisten in Karsberg

Und in diesem einen streng verdichteten Augenblick (lange dauert er nicht), ist plötzlich glasklar, wie aus dem beleidigten Trotz einer bieder volkstümelnden Pegida-Demo blindwütiger Fanatismus erwachsen kann. Ja, das ist der Moment, an dem man auch zu verstehen glaubt, warum Hakan Savaş Mican noch einmal eine Produktion wiederbelebt, mit der er 2010 am Ballhaus Naunynstraße große Erfolge feiern konnte: Seine Bühnenbearbeitung von Orhan Pamuks Roman "Schnee" verlegte er damals durchaus wirkungsvoll von einem ostanatolischen Dorf in die deutsche Provinz. Heute, in Zeiten der patriotischen Europäer, des Charlie-Hebdo-Attentats und einer allgemeinen Angst vor zunehmender Radikalisierung an allen Religions-Fronten, scheint eine neuerliche Aktualisierung und Zuspitzung natürlich keineswegs unangebracht.

10469 schnee mg 5779 560 ute langkafel maifoto uDa senkt er sich, der schwarze Block © Ute Langkafel MAIFOTO

Der Text ist bearbeitet, die Inszenierung vollständig erneuert, die Grundkonstellation aber gleichgeblieben: Der Dichter und Journalist Ka (Mehmet Yilmaz) reist von Frankfurt aus im weißen Angeber-Trenchcoat in seinen kleinen Heimatort Karsberg, in dem sich ein zunehmend brutaler Bürgerkrieg zwischen der Islamistengruppe des Charismatikers Grün (Dejan Bućin) und der Organisation "Freies Karsberg" des sinistren Bürgermeisters Herbert (Godehard Giese) abspielt. Inzwischen ist der Ort nämlich nicht nur wirtschaftlich am Ende, seine Bevölkerung ist auch zu großen Teilen zum Islam konvertiert, oder, wie Grün zufrieden verkündet: "Hier, wo die Pestizidbomber der Aufklärung die Felder nicht mehr besprühen, ist der Samen des Glaubens auf fruchtbaren Boden gefallen."

Unterm schwarzen Block

Die Idee ist gut, die Umsetzung leider eine unerwartet peinliche Angelegenheit. Durchaus lässt sich noch die mitreißende Energie einer kleinen Produktion erahnen, die in der Nische einer alternativen Spielstätte direkt und unbeschwert die postmigrantischen Dauerkonflikte aufs Korn genommen hat. Und verständlich ist auch, dass das noch amtierende, zur Zeit mit seinen Inszenierungen jedoch etwas glücklose Theater des Jahres liebevoll auf seine Keimzelle zurückblicken möchte. Versetzt auf die große Bühne wirkt das angestrengt komödienhafte Treiben heute jedoch erschreckend winzig, unbeholfen und vollständig verloren.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass man den Abend, statt ihm in einem Studio schützende Intimität zu schenken, in ein bedrückend klobiges und furchtbar eindimensionales Bühnenbild gequetscht hat: Ein großer schwarzer Block, über den dann und wann der poetische Projektionsschnee rieselt, senkt sich unaufhaltsam immer tiefer. Wahrscheinlich weil er die Repression der sozialen Verhältnisse repräsentieren soll. Eigentlich sorgt er aber bloß dafür, dass die fünf Darstellerinnen und Darsteller sich ausschließlich mit gesenktem Kopf und später kriechend aus dem schwarzen Hintergrund nach vorne bewegen können. Gut, Tamer Arslan rollt sich ziemlich virtuos zur Rampe und kann zeigen, dass er eine coole Sau ist, immerhin. Sind alle Beteiligten aber erst einmal angekommen, stehen sie nur noch irgendwie nebeneinander und leiern sich ihre ideologiekritischen Charaden aus dem Ärmel.

Schützenkönige und Sparkassenschweine

Es ist Nora Abdel-Maksoud, die dabei mit Charme und Stimme und funkelnden Augen noch am ehesten die Herzen gewinnt, vor allem, wenn sie, piepsend und patent, den Science-Fiction-Comics zeichnenden Koranschüler Johann von seinem schlimmen Schicksal berichten lässt. (Wie Yilmaz und Giese gehörte sie schon zur Originalbesetzung.) Ansonsten aber herrscht linkisches, glanzlichtloses Pointengehubere vor, ein bedürftiges Buhlen um schnelle Zustimmungs-Lacher, wobei das aufgekratzte Premierenpublikum gern zu Diensten steht.

Doch der Humor bleibt, nüchtern betrachtet, mehr als dürftig, liefert bloß ein schales Allerwelts-Kabarett, das seinen hemdsärmligen Spott in allzu braver Fairness auf alle Seiten verteilt und den ganzen Kampf Kopftuch gegen Vaterland in seinem szenischen Nirwana wie eine ausgesprochene unerhebliche Kinderei erscheinen lässt. Mit einer gar schaurig anzuschauenden, gestelzt pathetischen Love-Story leistet der Regisseur dann auch noch einer pseudorealistischen Seifenoperei Vorschub, über die man gerne für immer schweigen würde.

Überhaupt ertappt man sich dabei, lieber an irgendwas Schönes zu denken, während die da oben "Wind of Change" singen oder allerhand kunstlose Albernheiten loslassen über muslimische Schützenkönige und Sparkassen, in denen es keine Sparschweine mehr gibt. Man könnte an den Frühling denken oder daran, das Hakan Savaş Mican ja wirklich fabelhafte Sachen inszeniert hat: Im September letzten Jahres etwa, als er den lange nachwirkenden, flirrend leichten Erinnerungsabend "On My Way Home" ins Ballhaus Naunynstraße gezaubert hat. Das ist ein Trost: Dieser am falschen Ort aufgetaute Schnee wirkt gewiss nicht nach. Ist die Aggropolonaise erst mal vorbei und alle Löcher aus dem Käse rausgeflogen, hat man ihn ganz, ganz schnell vergessen.

 

Schnee
von Hakan Savaş Mican und Oliver Kontny frei nach Motiven des gleichnamigen Romans von Orhan Pamuk
Regie: Hakan Savaş Mican, Bühne: Magda Willi, Cleo Niemeyer; Kostüm: Daniela Selig; Musik: Enik; Video: Hanna Slak; Licht: Carsten Sander; Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Mehmet Yilmaz, Lea Draeger, Nora Abdel-Maksoud, Godehard Giese, Dejan Bucin, Tamer Arslan.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Patrick Wildermann schreibt im Berliner Tagesspiegel (13.4.2015), Hakan Savaş Mican entwerfe eine Michel Houellebecq verwandte "Schlacht der Ideologien" in dem fiktiven Städtchen Karsberg. Die Neuinszenierung von "Schnee" sei durchdrungen vom "Nachhall des Charlie-Hebdo-Attentats und des Pegida-Geschreis". Ein Ausweg aus den Grabenkämpfen zwischen patriotischen Europäern und Islamisten scheine fern, was auch der Quader von Magda Willis Bühne versinnbildliche, der sich immer tiefer senke, bis die Spieler sich nicht mehr darunter durchquetschen könnten. Mican wolle den "sozialen Bedingungen" der Radikalisierung nachspüren. Doch wirke dies, anders als bei seiner Inszenierung vor fünf Jahren, "seltsam brav und richtungslos". Alles sei gut inszeniert, bloß spiegele sich "das Ausmaß des realen Irrsinns" darin nicht mehr. Der Abend wirke wie ein "Schneeball, der gegen einen Flächenbrand geschleudert wird".

Katrin Pauly schreibt in der Berliner Morgenpost (13.4.2015): Hakan Savaş Mican Ansatz, die Handlung aus der Türkei in eine deutsche Kleinstadt zu verlegen, sei schon vor fünf Jahren "sehr gut" gewesen, nach Pegida, dem Houellebecq-Roman und dem "Charlie-Hebdo"-Anschlag, sei er bestechend. Er bleibe "Satire, aber die funktioniert ja umso besser, je schärfer sich die Realität dahinter abzeichnet". Nur leider schieße Mican "häufig übers Ziel hinaus", versteige sich "in Albernheiten". Doch "die Grundidee bleibt grandios und erzeugt in ihren besten Momenten politisches Schaudern".

Peter Laudenbach schreibt auf SZ.de (15.4.2015). Es gehe bei Mican "rustikal" und mit "Freude am gröberen Kabarett" zu, "Weltliteratur" werde zur "Vorlage für postmigrantisches Volkstheater". Natürlich habe das mit Kunst "nur begrenzt und mit Pamuks Kunst eher nichts zu tun". Als "spaßwilliger Theaterabend" funktioniere die Inszenierung trotzdem, weil sich niemand hier "zu wichtig" nehme. Dass der Abend "zumindest passagenweise über schenkelklopfendes Kalauer-Niveau" hinauskomme, liegt, wie häufig bei P.L., "vor allen an einer tollen Schauspielerin": Nora Abdel-Maksoud ist "die schönste Islamisierung des deutschen Stadttheaters, die man sich nur wünschen kann".

Leider könne sich Mican nicht entscheiden, ob die Figuren eher schräges Comic-Personal oder Individuen mit inneren Kämpfen sein sollen, so Tom Mustroph in der taz (13.4.2015). Ergebnis sei ein fader Kompromiss. "Als Mican vor gut vier Jahren 'Schnee' nach der Vorlage Orhan Pamuks erstmals im Ballhaus Naunynstraße herausbrachte, war das ein bemerkenswert hellsichtiger Versuch. Inzwischen ist aber mehr passiert, auch die Debatte hat an Differenziertheit zugelegt." Mican hingegen lasse nur die Klischees tanzen und schwanke zwischen Revue und Gesinnungsstück. "Sein Verdienst: Er holt das Thema zurück ins Stadttheater."

In der Zeit (16.4.2015) schreibt Thomas E. Schmidt: Die Inszenierung zeige Deutschland in einer "gemäßigt houellebecqschen Version". Die Idee sei "amüsant", man verstünde sie sofort, nur leider folge kein Theaterstück. Immerfort müsse "epischer Stoff zugetragen, nacherzählt oder fortgesponnen" werden, damit Pamuks Romangeschichte "verständlich" werde. Die Schauspieler exerzierten die Fragmente einer Handlung, aber sie stellen "nichts mit- und nichts untereinander an", das "krude Deklamationstheater an der Rampe" sei "ein bisschen deprimierend". Was von Pamuks Roman "Schnee" in Erinnerung bleibe, seien "Menschen, nicht Thesen". Im Gorki Theater kämen "Schilderungen von Verhältnissen" auf die Bühne. Ein "ungelenkes Spiel in einer solide ausgedeuteten Welt".

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