"Ausgerechnet heute!"

von Shirin Sojitrawalla

Wiesbaden, 12. April 2015. Philipp Löhles neues Stück spielt hier, aber nicht heute, sondern am Tag, an dem die Welt untergeht sowie am Tag danach. Das Internet geht nicht mehr, es gibt kein Wasser und keinen Strom, Gift liegt in der Luft, die Vögel stürzen kopfüber vom Himmel, die Gerüchte kochen: Islamismus, Terrorismus, Weltrevolution. Doch nach einem Tag ist alles vorbei, das Internet geht wieder, es gibt wieder Wasser sowie Strom, und Gift liegt auch nicht mehr in der Luft. Dazwischen überlegen sich ein paar Leute, was sie tun würden, wenn ihnen nichts mehr übrig bliebe, und kommen dabei zu keinem richtigen Ergebnis.

Und genauso unerheblich, wie das klingt, schickt Löhle seine Figuren dann auch in ihren Untergang auf Zeit. "Kollaps" heißt das Stück, ein Auftragswerk für das Hessische Staatstheater Wiesbaden. Fünf Figuren rücken darin schlaglichtartig ins Zentrum. Marco und Sophie Becker verkörpern die Zwei-Kinder-ein-Haus-eine Affäre-Scheinidylle mittelalter Angestellter mit gesunkenen Ansprüchen und lädierten Sehnsüchten. Janning Kahnert und Judith Bohle spielen sie mit der gebotenen Alltags-Nonchalance. Den Weltuntergang handhaben sie so aufgeregt pragmatisch wie alles andere Unvorhergesehene in ihrem normierten Alltag. Ihre Kinder sperren sie dann eben kurzerhand zu Hause ein.

Ein bisschen Endzeitstimmung

Derweil führt der Unternehmer Ronny (Stefan Graf), der eine Affäre mit Sophie unterhält, ein nicht ernst gemeintes Vorstellungsgespräch mit Verena (Barbara Dussler), die nicht weiß, was sie will, weil sie viel zu viele Optionen hat oder so. Und schließlich gibt es noch Sven Seeger (Toomas Täht), einen Tunichtgut mit Gespenstergesicht, der eigentlich was Anständiges arbeiten möchte, aber, bis es soweit ist, im Park Müll aufpicken soll. Sie alle treffen in wechselnden Konstellationen aufeinander und schauen, wie weit sie der Ausnahmezustand bringt.

kollaps1 560 andreasetter uWarten auf die Apokalypse: Barbara Dussler und Ensemble © Andreas Etter

Er bringt sie aber nicht weit, alles, was sich aus dem Schreckschuss-Szenario ergibt, bleibt heiße Luft: Fünf Figuren verbreiten ein bisschen Endzeitstimmung, idealisieren das einfache Leben, haben in ihrer Planlosigkeit keinen Plan B in der Tasche und möchten im Zweifel sowieso lieber nicht, egal was. Das ist als Zeitdiagnose ein bisschen dünn, wobei das Stück keine weiteren Türen öffnet, die Räume eher eng macht als aufreißt. Der Unternehmer Breuer möchte sich zumindest das Leben nehmen, was einen hübschen Selbstmord-Slapstick zur Folge hat. Nachher erfahren wir, dass er todkrank ist, sein nahender Untergang scheint schon beschlossene Sache. Dass der Weltuntergang vom genervten Ausruf "Ausgerechnet heute!" eskortiert wird, gerät dann zur hübschen Pointe. Arbeitsamt-Opfer Sven ergattert später von irgendwoher ein Gewehr, das ihm wenigstens zum running gag taugt.

"Was wollen Sie noch machen, bevor Sie sterben?"

Regisseur Jan Philipp Gloger, bewährter Löhle-Inszenator, benötigt für nicht einmal 50 Seiten Text beinahe zwei Stunden, und die geraten mitunter reichlich dröge, wobei es ihm Löhle diesmal auch nicht leichtgemacht hat, weil er seine Sinnsucher um ein ziemlich leeres Zentrum herum gruppiert. Es handelt sich bei dem von ihm ausgedachten Szenario höchstens um eine Apokalypse light. Die Bruchkanten unserer Zivilisation treten in ihr nicht zutage, die gezeigten Katastrophen verdienen diesen Namen kaum.

Auf der Bühne prangt eine riesige Fensterwand, die sich später dreht. Sie gewährt den Figuren Bürohochhausblicke und Fensterplätze für den Untergang. Mal ertönt Orgelmusik, dann stimmen die Schauspieler "One moment in time" an, oder es tanzt ein brauner Bär herum. Den Titel hat sich Löhle übrigens beim Buch des Pulitzerpreisträgers Jared Diamond geborgt, der in seinem Buch "Kollaps" untersucht, unter welchen Bedingungen Gesellschaften untergehen. Im Stück zeugt ein kurzer Exkurs zu den Osterinseln davon, der sich wie ein Fremdkörper ausnimmt. Dabei schnurrt die Furcht vor und die Sehnsucht nach dem Weltuntergang auf die Frage "Was wollen Sie noch machen, bevor sie sterben?" zusammen. Die diesbezügliche Publikumsbefragung geht dann erwartungsgemäß schief beziehungsweise beschwört ebenso lustlose Antworten (Sex, Kreuzfahrt, Tauchen) wie Stück und Inszenierung auch. Womöglich ist es einfach die falsche Frage.

 

Kollaps
von Philipp Löhle
Uraufführung
Regie: Jan Philipp Gloger, Bühne: Judith Oswald, Musik: Kostia Rapoport, Dramaturgie: Andrea Vilter.
Mit: Janning Kahnert, Judith Bohle, Stefan Graf, Barbara Dussler, Toomas Täht.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause.

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

"Wo bitteschön soll denn Bedrohlichkeit herkommen, wenn schon mit den ersten Sätzen klar wird, dass nichts passieren wird? Und das ist nur eine der Macken eines lauen Textes und einer noch laueren Uraufführungsinszenierung", so Michael Laages auf Deutschlandradio Kultur (12.4.2015). Löhles Text dümpele mit mäßig zündenden Pointen vor sich hin, auch wenn das Wiesbadener Publikum vor allem zu Beginn quietscht und kichert, als würde es dafür bezahlt. "Bald versiegt aber auch diese Quelle vergnügter Hysterie und zwei (mindestens gefühlte drei) Stunden rieseln trüb und matt dahin." Niemand, auch nicht der mit Löhles Texten vertraute Uraufführungsregisseur Jan Philipp Gloger, habe irgendein Mittel gegen das öde Geplänkel, das sich von Minute zu Minute schlimmer breitmache.

"Rasch begeben sich Regie und Inszenierung auf die Ebene teils flotter, teils flauer Scherze", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (13.4.2015). Löhle biete einen gesellschaftlichen Querschnitt, "aber weder er noch der Löhle-erfahrene Regisseur Jan Philipp Gloger können oder wollen bei der Uraufführung am Staatstheater Wiesbaden daraus ein überzeugendes Panorama basteln".

"'Kollaps' ist todtraurig, witzig, es stellt existenzielle Fragen und beantwortet keine. Und - es ist eine Spur zu lang", so Viola Balduan im Wiesbadener Kurier (14.4.2015). Regisseur Gloger führe in seiner vierten Löhle-Produktion kongenial die Szenen und die Absicht des Autors aus: Erzählstrang und Spielhandlung sind deutlich unterschieden, für Bewegung sorgt  auch der Darstellereinsatz als Bühnenarbeiter, zisiliert ist auch das Komödiantische herausgearbeitet. "Viel Applaus für alle, einschließlich den anwesenden Autor."

Löhle sei seit geraumer Zeit darauf spezialisiert, aus den Albträumen des jüngeren bis mittelalten Bürgertums wortgewandte Komödien, allenfalls Tragikomödien zu machen", schreibt Eva-Maria Magel in der FAZ Rhein-Main-Zeitung (14.4.2015). Regisseur Jan Philipp Gloger sei wiederum darin versiert, Löhles Texte auf die Bühne zu bringen. "Mag sein, dass allenthaben zuviel Versiertheit im Spiel ist - denn dieser "Kollaps", der an ein paar Stellen durchaus an Wunden rühren könnte, piekse selten. "Es gibt Wortwitz und schlagfertige Dialogscharmützel", zu sehen gebe es allerdings kaum starke Bilder, eher Bebilderungen vor Rauchschwaden und Feuerlöscherschaum. Die Schauspieler machen das ganz prima, "bei allem jedoch bleibe der Eindruck zurück, sie hätten noch viel mehr zeigen können als einen bissigen, bisweilen sogar zynischen, unterhaltsamen Abend".

Philipp Löhle habe "einen für seine Verhältnisse schwachen Text vorgelegt", schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (15.4.2015). Seinen "Katastrophenphobikern fehlt alles, was ein vermeintlicher Weltuntergang bei ihnen freisetzen müsste: Hormonschübe zum Beispiel". Man verstehe, "dass Löhle das Ungeheuerliche in der biederen Normalität aufspüren wollte. Herausgekommen ist ein Text über Mittelstandsmenschen, der lustlos mit Klischees spielt", und das Wiesbadener Ensemble habe "Mühe, die Uraufführung einigermaßen lebendig zu gestalten".

 

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