Alles im Fluss

von Andreas Wilink

Bochum, 18. April 2015. Der Märchen-Hans der Gebrüder Grimm hatte es einfach. Sein Tauschhandel vom Batzen Gold zum Pferd zur Kuh zum Schwein zur Gans zum Wetzstein folgte scheinbar einer gerade abfallenden Linie. Er wird übers Ohr gehauen. Aber das Übervorteilt-Werden durch seine Geschäftspartner in ihrer Selbstsucht bringt ihn zur Erkenntnis, dass Eigentum Mühe macht. Hans wird alles los. Frei von Ballaststoffen. So erzählt sich eine Utopie über die Grenzen des Wachstums und über das Gesundschrumpfen. Hans hat sich erleichtert. Was unter ökonomischen Aspekten wie ein Verlust aussieht, tut gut für den persönlichen Glücksgewinn.

Du musst dein Leben ändern

"Das Leben hämmert. Seit Monaten. Mit einer solchen Wucht gegen meine Schädeldecke, dass ich nicht mehr sicher bin, ob es noch das Leben ist. Gleich explodiert mein Kopf." Sagt Hans Jakob, der neue Hans im Glück, der den Druck nicht mehr aushält. Die stehende Formel dafür, ob ideologisch oder rein individuell motiviert, lautet: Du musst dein Leben ändern. Vermutlich gibt es für den "pursuit of happiness" eben doch kein verbrieftes Recht, das sich vorderhand einklagen ließe.

Reto Finger stellt in seinem Stück – dramatische Fortschreibung unter aktuellen Leistungs- und Lebensbedingungen – die Märchen-Episoden den Szenen von Hans Jakob voran. Der heutige Hans ist kein Jungspund mehr. Angekommen in der Mitte des Lebens: 50, kompliziert und eigen. Womöglich ein komischer Kauz. Das Selbstbild des Ingenieurs, Ehegatten und Vaters, der einen verhaltensauffälligen Buben in der Schule hat, gerät in die Binsen. Wie soll er die geforderte "physische männliche Präsenz" zeigen? In ihm denkt es. Hans wird, salopp gesprochen, zum Aussteiger. "Corriger la fortune", das berühmte, wenngleich anders gemeinte Wort aus Lessings "Minna von Barnhelm" macht auch er sich zu eigen.

2 hans im glueck 560 diana kuester uFrei von Ballaststoffen: Florian Lange in Bochum als moderner Hans im Glück
© Diana Küster

Barbara Bürks Uraufführung hält in den Bochumer Kammerspielen die Dinge in Bewegung und am Laufen: Regie als Fitnessübung. Zwei Musiker am Flügel und Schlagwerk, kostümiert als Jacob und Wilhelm Grimm, greifen in die Tasten, trommeln, klöppeln und sägen singend; Prospekte fahren auf und nieder; ballettöse Einlagen erfolgen; man scherzt allenthalben, wobei einem in der Possenreißerei die trockenhumorige Karikatur eines hanseatischen Agentur-Chefs (Bernd Rademacher) und die einer Ärztin mit Dutt (Jana Lissovskaia) – wie die Giehse bei Dürrenmatt – Spaß machen. Aber das Durchdrehen der Schraube bohrt sich auch in den Leerlauf. Aufgepasst, dass bei dem Gedöns die Fabel nicht hops geht. In der zu Munterkeit und Hektik angehaltenen Aufführung verliert das Stück – Komödie, Parabel, Groteske – an Kontur: Wisch und weg.

Dem Geist des Gleichgültigen trotzen

Der bewusst naiv, künstlich possierlich kostümierte Mummenschanz der Märchen-Momente fliegt mit seiner Tarnung in der Gegenwart schnell auf. Die Kuhhaut etwa wird in die heutige Hans-Wirklichkeit als Fellmantel hinübergetragen – so eine bloß epigrammatische Setzung vermieden. Die Episoden des alten und des neuen Hans sind nicht mehr fest voneinander abgegrenzt und kommen sich gegenseitig produktiv in die Quere.

Der Witz der modernen Moritat meint es ernst. Wenn auch nicht immer sachdienlich und nutzbringend. Die eingearbeiteten Szenen mit Hansens Mutter und deren bettlägerigem Lebensgefährten, die die Frage nach der Verantwortung Eines für den Anderen stellen und gesprächsweise mit der Bach-Motette "Jesu meine Freude" dem Geist des Gleichgültigen trotzen, wirken (zumindest in Bochum) artfremd.

Vom Traffic-Frühwarnsystem in die heimische Einsiedelei

Hans hat mit einem Business-Partner ein Traffic-Frühwarnsystem entwickelt, für das sie einen Investor zu gewinnen suchen. Aber Hans will, während sein Partner Zobel (Matthias Eberle) panisch unter Strom steht und als elektrifizierter Flattermann vor Effizienz-Gebaren zuckt, nicht mehr auf Tempo machen, sondern sich vielmehr entschleunigen.

Für Hansens Selbstregulierung findet Reto Finger ein Bild, das in Bochum mit Blubb und Glucks zudem akustisch untermalt wird. Hans hinterlässt Feuchtgebiete. Alles muss raus. Er schlägt leck. Aus ihm sickert es: Inkontinent. Aber die vegetative Entwässerungs-Kur und Entschlackung bietet eine Chance auf einen Strömungswechsel. Wo der Märchen-Hans – Unfall, Zufall oder Notwendigkeit – das letzte Tauschobjekt, den Wetzstein, im Brunnen versenkt, ist Hans Jakob sein bisheriges, auf Selbstoptimierung setzendes Leben fremd geworden. Er gerät in Isolation und verkriecht sich daheim regressiv unterm Tisch. So wird er zum Träumer und Eremiten, dem die Massen pilgernd zuströmen. "Homo Hans" Jakob – ein Jedermann. Ob in ihm eine Erlöser-Figur steckt? Zumindest hat Hans soziale Vorbild-Funktion, die das Sein dem Haben vorzieht.

Mit ihm steigen die Wasser: Droht eine neue Sintflut als Gottesgericht? Schwamm drüber. Man muss sich Hans, den Florian Lange betreten freundlich und gutwillig überfordert als Mittelstandsmenschen mit Metallrandbrille und Armin-Laschet-Double gibt, bei seinen finalen Freiübungen als einen glücklichen Menschen vorstellen. Nachdem das tierische Quartett von Pferd, Kuh, Schwein und Gans – menschlich geworden – über Hansens Entwicklung in chorischer Manier Auskunft erteilt hat, ist es auf der Bühne leer geworden: Abgeräumt. Aufgeräumt. Ausgeräumt. Platz für Neues. Endlich. Ruhe!

 

Hans im Glück
von Reto Finger
Uraufführung
Regie: Barbara Bürk, Bühne und Kostüme: Anke Grot, Musik: Markus Reschtnefki, Licht: Wolfgang Macher, Dramaturgie: Annelie Mattheis.
Mit: Matthias Eberle, Florian Lange, Jana Lissovskaia, Manuel Loos, Bernd Rademacher, Markus Rechtnefki, Minna Wündrich.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Kein großes Stück, aber hundert überwiegend amüsante Minuten", resümiert Andreas Rossmann in der FAZ (21.4.2015). Mit leichter Hand inszeniere Barbara Bürk "ein Wandertheater quer durch die Genres, das den Witz in den Ritzen findet, in überraschenden Wendungen und Zwischentönen." Das drohe zwar manchmal zu zerfransen. Die Spielfreude des Ensembles jedoch halte alles zusammen.

"Manchmal gerät die Inszenierung durch ein wunderbar choreografiertes Ensemble ins Schweben", schreibt Max Florian Kühlem in den Ruhrnachrichten (20.4.2015).  Viele Szenen seien "herrlich komisch". Zum Ende hin komme dem Bilderreigen jedoch ein wenig der Zusammehang abhanden.

 In ihrer ersten Bochumer Arbeit drehe Barbara Bürk das große Rad, schreibt Sven Westernströer in der WAZ (20.4.2015). Doch längst nicht alle Ideen zünden aus seiner Sicht. Eindrucksvoll findet der Kritiker allerdings, "wie sich die fünf Schauspieler die knapp 20 Figuren teilen und in fliegendem Kostümwechsel von einer Rolle in die nächste hechten."  Vor allem Florian Lange als "Homo Hans" schalte blitzschnell von der albernsten Ausschweifung in pointiertes Spiel um. Bisweilen hat der Kritiker den Eindruck, die Inszenierung sein komplett um Lange herum komponiert.

 

 

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