Es ist gut, weil es laut ist

von Willibald Spatz

München, 19. April 2015. Diese Aufführung gehört nicht in ein Theater, dort wirkt sie fremd. "R + J" ist ein Rockkonzert, zwei Gitarren, Bass, Sängerin und Sänger – das Schlagzeug wird aus dem Off eingespielt. Dazu gibt es Videobilder, Tanzeinlagen und ein paar Zwischentexte. Alles in allem eine saubere Show, Heavy Metal mit Electro- und Reggae-Passagen. Und das alles vor dem Publikum des Festivals radikal jung, das auf Stühlen sitzt und sich nicht mitreißen lassen will. Einmal verlässt die Combo die Bühne und tanzt. "Everybody dance", lautet die Aufforderung, der gerade zwei Leute folgen. Nach zwei Minuten setzten sie sich wieder, und Galyna-Mariya Pavlyk, die Sängerin, bedankt sich bei den beiden.

Dennoch nennt sich "R + J" ein Theaterstück. Es besitzt auch eine echte Handlung, die sich an "Romeo und Julia" orientiert. Geschrieben und inszeniert hat den Text der ukrainische Regisseur, Dramatiker und Theateraktivist Sashko Brama. Zu Shakespeare sei ihm nur Musik eingefallen. Die beiden verfeindeten Parteien sind in dem Fall keine Familien. Der Junge, Roma, stammt aus Lviv und Julia aus dem Osten der Ukraine. Auf dem Maidan in Kiew treffen sie aufeinander, werden aber getrennt bei den Unruhen. Es sind so genannte Maßnahmen gegen Terroristen. Ihre Liebe soll nicht sein.

Kein Hochglanz

Das aktuelle Setting passt also perfekt zum literarischen Motiv. Dabei ist es im Grunde auch schon alt. Zum Einstieg wird in Interviews an Stepan Bandera erinnert, der 1944 den Widerstand gegen die Sowjetunion organisieren sollte und dafür angeblich mit den Nazis kooperierte. Im Westen der Ukraine wird er immer noch als Held gefeiert, im Osten gilt er als faschistischer Verräter. Auf dieser historischen Grundlage existiert noch eine Menge Hass.radikalJung RJ performance in lviv 1 560 uRomeo und Julia auf dem Maidan © radikal jung

Die eigentliche Geschichte wird im Wesentlichen in Videos erzählt. Nur manchmal halten die echten Sänger/Schauspieler Zwiesprache mit gefilmten Menschen. Nazar Pavlyk, den Roma/Romeo, sieht man in Lviv als Straßenclown. Er singt live ein Lied über einen Clown, die Show müsse weitergehen. Die Julia wird von Galyna-Mariya Pavlyk in einem Song über Donezk und dessen Tristheit eingeführt. In gespielten Szenen kocht ihre Mutter Borschtsch, und ihr Vater sitzt mit der Wodkaflasche am Tisch. Das Mädchen hockt stumm daneben. In einer darüber gelegten Bluescreen-Aufnahme brüllt sie ihre Eltern an. Technisch ist das sympathisch einfach hergestellt. Kein Hochglanzprodukt, dafür authentisch. Dazwischen aus YouTube gefischte Aufnahmen realer jüngster Ereignisse.

Kunst aus Erlebtem

Letztlich bedeutet dies, dass auf zwei Ebenen erzählt wird: Zum einen erhält man eine Geschichtslektion über Ereignisse der neueren Vergangenheit, die man hierzulande teilweise nicht so detailliert verfolgen konnte, zum anderen muss auch die Liebesgeschichte zu Ende gebracht werden. Dabei wird, vorsichtig ausgedrückt, sowohl musikalisch als auch szenisch etwas dick aufgetragen. Roma und Julia treffen in einem Bunker wieder aufeinander, er lässt sie kurz allein. Da kommt der Vater herein und teilt ihr mit, dass sie nach Russland muss. Sie vergiftet sich und träumt im Sterben von einer Zukunft, die sie als Paar nie haben konnten. Er stirbt – eigentlich hätte man es gar nicht mehr erfahren müssen – auf der Straße, weil ohne sie das ganze Kämpfen und die Politik eh keinen Sinn mehr haben.

Auch wenn es einem dieser Schluss schwer macht, sich auf ihn einzulassen, hat man schließlich doch das Gefühl, dass in "R + J" alles an seinem richtigen Platz ist, dass alles stimmt. Diese Menschen zeigen keine ihnen fremde Geschichte. Die steckten da mitten drin und versuchen nun, aus Erlebtem Kunst zu machen und das ohne ein schlichtes politisches Statement abzugeben. Sie erzählen von der globalen Sehnsucht, jung sein zu dürfen. Politik ist dabei nur ein willkommenes Mittel, Romantik herzustellen. Den Akteuren fehlt eindeutig die Distanz zur verhandelten Sache, die ein gut gesättigtes Festivalpublikum hier hat. Oder sie können dieses Distanzdefizit gut simulieren. Wie auch immer: Man hat das Gefühl, einer wilden, rohen, gerade in ihrer gelegentlichen Unperfektion rockenden Aufführung beizuwohnen. Oder eben einem Konzert. Die Musik jedenfalls war gut.

 

R + J
von Sashko Brama
In ukrainischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Regie: Sashko Brama, Musik: Oleksandr Hontscharuk, Video: Oleksandr Pelypenko.
Mit: Galyna-Mariya Pavlyk, Nazar Pavlyk, Oleksandr Pelypenko, Myroslav Trofymuk, Mykhaylo Puziurin, Adnriy Mishchenko, Oleksandr Palianychka, Ostap Shuper, Ruslan Boyaryn.
Dauer: 60 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

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Kritikenrundschau

"'R+J' ist, angelehnt an Shakespeares 'Romeo und Julia', eine Liebesgeschichte auf dem Maidan, im Krieg, zwischen einem Paar aus dem Westen und dem Osten der Ukraine", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (21.4.2015). Der Ukrainer Sashko Brama mache daraus eine Videoinstallation, davor gibts "Hardcore ohne Blues", aber zwischen dem Lärm gebe es unfassbar viel Kitsch. "Der wie auch das Leidenspathos wären unerträglich, spürte man nicht in jedem Moment die Verzweiflung. Dieser Abend ist ein Schrei, von einer Kreatur, hineingeworfen in eine Welt."

Von "einer fiebrigen Collage von meist mehreren übereinander liegenden Videobildern" berichtet Sabine Leucht in der taz (22.4.2015). "Eine klar umreißbare Handlung und Spielszenen hat der laute, intensive und manchmal verzweifelt brutale Abend nicht, der mehr Konzert ist als Theater." Manches an diesem Abend erscheint der Kritikerin "kitschig", aber die Vorstellung, der politischen "Gemengelage eine Art von Glück abtrotzen zu wollen, erscheint heroisch".

 

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