Schrecklich verloren im digitalen Dschungel

von Alexander Kohlmann

Braunschweig, 23. April 2015. Wir haben uns in einem riesigen Wald verirrt. Erst sah er noch aus wie der Braunschweiger Stadtpark, aber inzwischen wuchert auf zwei Leinwänden auf der Bühne der kleinen Spielstätte Haus 3 ein immer dichter wachsendes Dickicht. Auch aus den Bodenluken holen die drei Schauspieler Pflanzen. Wie in "Die Welt ohne uns" sieht das aus, die Natur erobert die Bühne zurück.

Es geht allerdings nicht um die biologische Welt, wie Schauspielerin Anja Dreischmeier schnell feststellt, als sie zwecks Bodenprobe einen großen Haufen Erde auf der Bühne auskippt und mit der Pinzette zu untersuchen beginnt. Kabel kommen da zum Vorschein, gelötete Platinen, Smartphone-Zubehör. Der Wald entpuppt sich, wir ahnten es bereits, als ein Sinnbild für die unentwegt wachsende digitale Gegenwirklichkeit. Und die drei Schauspieler auf der Bühne finden einfach keinen Ausweg aus diesem Blair-Witch-Project-2.0. Wie der Gruselschocker der neunziger Jahre mit dem analogen Video vom Band, spielt der Abend mit der Digitalisierung von Wirklichkeit. Schauspieler sprechen vor einer Videokamera hinter der Bühne, ihre Bilder werden pixelig auf die Leinwände übertragen.

Robo-Zombies und unbewusste Ängste

Bis einer verschwindet, einfach weg ist, und trotz Ortungsversuch mit der Smartphone-App unauffindbar bleibt. Um dann als eine Art Digital-Zombie wiederaufzutauchen. Denn im Gegensatz zu "Blair Witch Project" ist keine böse Hexe der Quell unbewusster Ängste, sondern die neueste Möglichkeit künstlicher Reproduktion: Schauspieler Ralph Kinkel kehrt verwandelt zurück. Als digitaler Klon seiner selbst wandelt er wie ein Roboter mit steifen Gliedern über die Bühne. Die sich selbst weiterentwickelnde, digitale Intelligenz, das ist das Schauermärchen der Gegenwart.

This Is For1 560 VolkerBeinhorn uEtwas hilflos im Urwald 2.0: Anja Dreischmeier und Nikolaij Janoscha © Volker Beinhorn

Diese Dimension wird in der Stückentwicklung "This is for everyone" allerdings allenfalls angekratzt. Denn über die inzwischen selbst schon historische Warnung an die Jugend, dass die Daten im Netz irgendwie unsicher seien und irgendwelche dunklen Mächte nur darauf warten, unsere Profile gegen uns zu verwenden, kommt die seltsam altmodische Performance nicht hinaus. Hier operieren Menschen, so scheint es, die auf jeden Fall nicht mit dem Netz aufgewachsen sind. Die einen seltsam äußerlichen Blick auf den digitalen Wandel haben, der für jüngere Menschen inzwischen so selbstverständlich ist, wie es für ältere der Buchdruck oder sagen wir das Fernsehen waren.

Das enorme Potential, dass die Vernetzung der Welt für jeden einzelnen mit sich bringt, eine genaue Analyse der Lebenswirklichkeit der Generation der Digital Natives findet nicht statt. Stattdessen erinnert die 16-Bit-Computer-Musik verdächtig an "Super Mario World" auf dem Super NES. Die legendäre Nintendo-Konsole und die Videospiele der neunziger Jahren waren auch so ein Kulturphänomen, vor dem die Erwachsenen uns damals immer gewarnt haben, ohne das Geschehen auf dem Bildschirm wirklich zu verstehen.

 

This is for everyone
Stückentwicklung von Thomas Freyer, Ulrike Hatzer, Stephan Thiel und Ensemble
Uraufführung
Text: Thomas Freyer, Regie: Ulrike Hatzer, Fachberatung: Stephan Thiel, Bühne und Kostüme: Ulrike Hatzer, Carsten Weber, Ensemble, Licht und Raum: Stefan Simon, Dramaturgie: Carsten Weber.
Mit: Anja Dreischmeier, Nikolaij Janocha, Ralph Kinkel.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.staatstheater-braunschweig.de

 

Kritikenrundschau

Diese surreale Verlorenheit im Wald, das Ausgeliefertsein an die Technik könnte spannend sein, ist es aber nicht, schreibt Florian Arnold in der Braunschweiger Zeitung (25.4.2015). "Weil die Figuren plötzlich so alberne Dinge tun, wie den Waldboden zu durchwühlen. Und weil sie immer wieder aus den Rollen fallen und über das Internet referieren." Fazit: "Unter den zahlreichen Spielformen, die die enorme Textmasse verdaulich machen sollen, sind nette Ideen, vieles aber wirkt albern."

 

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