Die drei Hauptlügen des Lebens

von Martin Krumbholz

Düsseldorf, 24. April 2015. Das Künstlerdrama als Psychiatriedrama – das war für Heinar Kipphardt, als er das Stück "aufgrund einer wahren Begebenheit" in den Siebzigern schrieb, nicht zuletzt Kapitalismuskritik. Der Dichter Alexander März, eigentlich Alexander Herbrich, ein Patient des Wiener Psychiaters Leo Navratil, wird zum Opfer einer brutalen, lebensfeindlichen Schulmedizin, die am Patienten "paranoide Schizophrenie" diagnostiziert – angeblich um zu helfen, in Wahrheit um eine Existenz zu vernichten, die den geltenden Normen zuwider läuft. Ein schlichtes Abbild realer Psychiatrie war das seinerzeit schon nicht; vielmehr eine Parabel über Anpassung und Widerstand, für die es in dieser Zuspitzung nur wenige Vorbilder gab (Peter Weiss war in seinem "Hölderlin"-Stück wenige Jahre zuvor einen ähnlichen Weg gegangen).

Asymmetrischer Schlagfertigkeits-Wettkampf

Man denkt an diesem Düsseldorfer Abend aber oft auch an Friedrich Nietzsche. Es beginnt schon damit, dass Jakob Schneider in der Rolle des März sich von seinen Mitpatienten als Jesus anbeten lässt und vom Kreuz herabsteigt. Alexander Müller-Elmaus Inszenierung im eigenen Bühnenbild verlässt den geschlossenen Raum der Anstalt nicht; die hohen eisgrauen Wände weisen zwar Leitersprossen und Schiebetüren auf, eine Mischung aus Turnhalle und Büroetage, aber ein Entkommen ist unmöglich. Auf die suggestive Frage eines Arztes: "Wo sind wir hier?" gibt es nur eine wirklich plausible Antwort: "In der Konservendose." März' Schlagfertigkeit (das Wort klingt fast zu martialisch) bildet das ästhetische Surplus des Textes. Die Prüfungsfragen des männlichen Personals, die Begütigungssprüche des weiblichen prallen an dieser methodischen "Schlagfertigkeit" ab – nicht nur März, auch andere Patienten sind damit gewissermaßen hochgerüstet. Es gibt in diesem asymmetrischen Wettkampf keine Fortschritte und nur Verlierer.

maerz 560 alphonshauptmannschneiderkueppers fotosebastianhoppe uManuela Alphons, Katrin Hauptmann, Jakob Schneider, Winfried Küppers @ Sebastian Hoppe

Dem Gut-Böse-Schema entkommen

Der entscheidende und tatsächlich zündende Kunstgriff der Inszenierung liegt aber darin, dass die Schauspieler sowohl Patienten als auch Ärzte spielen, und zwar übergangslos, ohne Schnitte und Umzüge. Hierarchien, die sich in der Besetzungspolitik abbildeten, sind eliminiert. So entkommt die Aufführung auch einem schematischen Gut/Böse. Stattdessen wird der spielerische Ansatz betont, es entwickelt sich scheinbar unangestrengt ein lässiger Humor (Humor ist "eine lateinische Vokabel"). Und zugleich, dank der schauspielerischen Qualität, Intensität und Dichte.

"Hören Sie wieder Stimmen, Herr März?" Es sind solche medizinkritischen Klischees, die durch Humor absorbiert werden, ohne dass es etwa harmlos würde. "Religion, Politik, Psychiatrie" seien die "drei Hauptlügen des Lebens" – so ein Statement ist eben übertrieben und wahr zugleich. Vermutlich hat Kipphardt es ähnlich gesehen. Den Kern des Textes bildet aber die gestrandete Sexualität.

Wenigstens eine Selbstmord-Fantasie

Wunderbar gespielt sind die zarten Annäherungen zwischen März und seiner Mitpatientin Hanna Graetz (Katrin Hauptmann), die von ihm schwanger wird (im Stück gelingt beiden zwischenzeitlich ein Ausbruchsversuch). Durchweg alle Patienten leiden unter der Auslöschung ihrer Energie und Vitalität, und selbst die Ärzte sind obsessiv auf das Thema fixiert ("Haben Sie nicht wenigstens irgendwelche Fantasien?"). Irgendwann sieht man einen Erhängten hinter einer der metallischen Schiebetüren, und kurz darauf singen die "Doors" (Türen im Sinn des Wortes gibt es, wie gesagt, nicht) mit allem dazugehörigen Pathos: "Come on baby, light my fire..."

Doch, dieser dichte und berührende Abend hat auch seine Gänsehautmomente. Er dauert zwei Stunden und ist durchweg spannend. Jonas Gruber, Daniel Fries, Bettina Kerl, Winfried Küppers, Manuela Alphons – fast alle spielen mehrere Rollen und schwingen elastisch hin und her mit einem Text, der von der Auflösung der Identität handelt und sich damit nicht abfinden will. "Es war meine Absicht, der psychiatrischen Wissenschaft eine Freude zu bereiten", erklärt der Patient Ebert, als ein Arzt ihn lobt – und wie Stolz und Ironie in diesem Satz die Oberhand behalten, so behauptet sich auch Kipphardts funkelnd schöner Text, der ganz zu Recht aus den Strudeln der jüngeren Theatergeschichte geborgen wurde.

 

März, ein Künstlerleben
von Heinar Kipphardt, Fassung von Alexander Müller-Elmau
Regie und Bühne: Alexander Müller-Elmau, Kostüme: Julia Kaschlinski, Sounddesign: Fabian Kalker, Dramaturgie: Dirk Diekmann, Licht: Konstantin Sonneson.
Mit: Jakob Schneider, Katrin Hauptmann, Jonas Gruber, Daniel Fries, Bettina Kerl, Winfried Küppers, Manuela Alphons.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Kritikenschau

Annette Bosetti hält auf rp-online (27.4.2015) erst einmal Rückschau auf die Zeit der Uraufführung von "März" vor mehr als 30 Jahren ebenfalls in Düsseldorf "eine Zeit, als die Gesellschaft begann, den psychisch Kranken wie auch den Umgang mit ihm neu zu befragen". Jetzt lande der Zuschauer "unvorbereitet  mitten in der Psychiatrie". Die "Krankheitsbilder" von Schizophrenie, Autismus und Verfolgungswahn in "ihrer Drastik" zu erleben, grenze für manch einen "an eine Zumutung". Andererseits könne es eine "Bereicherung" darstellen für den Zuschauer, der sich darauf einlasse. Dank "der empathischen Psychologisierung aller Rollen, dank des mehrfachen Rollenwechsels der meisten Darsteller" werde man "am Ende ein Herz für diese verzweifelten Menschen haben". "Jakob Schneider böte eine "großartige Leistung". Nicht minder "bestürzend lebensecht" seine Mitspieler.

Andreas Rossmann schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.4.2015): Alexander Müller-Elmau habe den Text zerlegt und neu montiert, den Bilderbogen mit 72 Szenen in einen "puzzleartigen Spielfluss" aufgelöst. Ohne Kostümwechsel würden "Patienten zu Ärzten und umgekehrt", eine "knappe Haltungsänderung, ein Heben der Stimme" genüge. Fragen wie die, "was gesund und was krank, was normal und was verrückt, was gut und was böse ist", würden in eine "Unschärferelation" gebracht. Die "Konstruktion von Wirklichkeit" werde zum Thema. Jakob Schneider und Katrin Hauptmann spielten "so anrührend wie aufwühlend". Die Aufführung fächere eine "Bandbreite von Pathologien" auf; wie sie "inneren Stimmen und Halluzinationen" nachgehe, nehme dem Stück das Dokumentarische. Die Figuren würden "nicht vorgeführt, sondern uns nahegebracht": als "Individuen, nicht als Krankheitsbilder". Wie "März" hier gesehen werde, hole das Schauspiel zurück in die Gegenwart.

 

Kommentare  
März, Düsseldorf: Irrenhausästhetik
Virtuos gespielt, aber viel zu lang und dadurch auch langatmig. Die ständige Irrenhausästhetik bedient auch mehr die Klischees als mit ihnen zu spielen. Manchmal etwas mehr, oft aber auch deutlich weniger Realismus und vor allem beherzte Kürzungen hätten der Inszenierung echt gut getan.
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