Das letzte Feuer

von Sabine Leucht

München, 29. April 2015. Dieser Abend zerreißt einem fast das Herz. Aber nicht, weil er so nah heranrücken würde an das Leid der Menschen, und auch nicht, weil die sieben riesigen, Kunstfunken sprühenden Flammen aus loderndem Stoff im Zentrum von Katrin Bracks Bühne so eine nostalgische Stimmung verbreiteten.

Und doch ist man mit der Stimmung schon auf der richtigen Spur: "Hoppla, wir sterben!" ist die letzte Inszenierung von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen, und die hätte man gerne bejubelt, schon weil es nett ist, einem Scheidenden Gutes hinterherzurufen. Ein bisschen traurig ist auch, dass der nach bald fünf Jahren München dieser Stadt seinerseits nichts weiter hinterherzurufen hat als den Maximilianstraßen-Schmarrn, den vor rund drei Jahren doch schon Elfriede Jelinek für ihn in ein Stück gepackt hat (Die Straße. Die Stadt. Der Überfall). Es ist diese alle Klischees bestätigende Draufsicht eines Touristen, die man nach einiger Zeit doch ablegen können sollte, selbst wenn man an diesem Boulevard seine Arbeitsstätte hat und sie täglich sieht: Die Louis Vuitton- und Prada-Shopper mit den dicken Geldbeuteln und die Scheichs mit ihren Frauen im Luxusbus, der vor jedem Geschäft einzeln hält. Es ist in der Tat ein skurriles Bild – und für das Leben in München ziemlich marginal.

Alles muss rein

Und doch musste es auch ins Auftragswerk von Arnon Grünberg mit hinein, das an Ernst Tollers Gesellschaftspanorama "Hoppla, wir leben!" anklingt und eigentlich von Afghanistan handeln sollte, wo er selbst bereits mehrfach war, und nun von allem Möglichen rund um interkulturelle Identitätsfindung und pazifistisch gemeinte Kriege handelt, am Münchner Flughafen beginnt, auf einem Berg in Berchtesgaden endet und dazwischen an einem Spielzeuggeschäft in Prien an Chiemsee, einer afghanischen Höhle und einem Fernsehstudio vorbeikommt. 19 Orte hat sich der in New York lebende niederländische Autor deutsch-jüdischer Herkunft für ebenso viele Szenen ausgesucht. Nicht, dass das eine Rolle spielen würde. Denn Simons lässt eine nahtlos in die andere übergehen und eine Figur aus der anderen erwachsen, was den Potpourri-Charakter des Stückes noch verstärkt.

Hoppla wir sterben 5 560 JU Ostkreuz uVon Flammen umzüngelt: das große Kammerspiel-Ensemble mit Benny Claessens, Jeff Wilbusch, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Anna Drexler, Marie Jung © JU Ostkreuz

Bei der Lektüre wird ziemlich schnell klar, weshalb der vielschreibende Romancier ("Der Mann, der nie krank war", "Der jüdische Messias") und Kolumnist Grünberg als toller Figurenentwerfer gilt, einigen sogar als Genie. "Der Diskrete", mit dessen Beschreibung das Stück beginnt, zieht einen schnell in seinen Bann: Ein Mann ohne Bindungen, ein Stratege der Unaufdringlichkeit, sechs Sprachen sprechend, Physiker und Ex-Diplomat, aber längst "in einer Welt jenseits des Glücks und des Unglücks" lebend, ist er unterwegs, um für arabische Touristen den Fremdenführer zu geben, die wegen des Regens und ihrer Erektionsprobleme nach München kommen.

Die "Kristallnacht-Tour" und die "Sound-of-Music-Tour" hat "der Diskrete" im Programm, und er sitzt dabei "auf zwei Goldminen: seiner Diskretion und der Impotenz". So könnte man es lesend noch lange begleiten, dieses menschliche Konglomerat aus verblüffend gegensätzlichen Zuschreibungen, grotesken Wendungen, Anspielungen und Zitaten, das einen auch dann an Houellebecq erinnern würde, wenn es darin nicht um "den neuen Menschen" ginge.

Potpourri auf Nebenschauplätzen

Doch leider ist der Prosa-Part bald zu Ende. Grünberg probiert Drama und beginnt einen sich auf Nebenschauplätzen verlaufenden Pseudo-Krimi um einen in Afghanistan verschwundenen Oberstleutnant und seine Familie, die von einem beinlosen Kriegsinvaliden sexuell getröstet wird, flankiert von witzigen Monologen eines im Münchner Einzelhandel gestrandeten Ex-Dolmetschers und eines "Interkulturellen Beraters" – oder von Figuren wie "Merkel" (Angela) oder "betroffener Bürger".

Simons hat sie alle um sein großes Lagerfeuer postiert, dahinter die inzwischen bei ihm fast unvermeidlichen Streicher. Und weil zwar viel geredet wird, aber nicht viel passiert, unterhält man sich mit Kostümwechseln und Hitlerbärtchen. Und Benny Claessens spricht, nein: singt eine Arie von zerfetzten Menschen und Zwei-Klassen-Rettung. Sehr divenhaft und so schräg, das man sich wieder daran erinnert, warum sich München erst an ihn gewöhnen musste.

Das große Münchner Kammerspiel-Ensemble

Und hier nähern wir uns endlich der Sache mit dem zerreißenden Herzen: Welche Schauspieler nach dem Weggang von Simons in München bleiben, wird sich erst in einer Woche klären, wenn Matthias Lilienthal seine Pläne für die kommende Spielzeit offenlegt.

Claessens wird, wie alle der mit Simons aus Belgien und den Niederlanden gekommenen Spieler, wieder gehen. Vielleicht auch der wunderbar feinnervige Erzähler André Jung und seine in dieser Inszenierung etwas verloren wirkende Tochter Marie? Auch Wolfgang Pregler, der hier als arroganter Potenzprotz ganz in seinem Element ist, würde man schwer vermissen, Anna Drexlers erst aufgegangenen Stern und die reifen Leistungen des diesmal sehr zarten Hans Kremer. Annette Paulmann, die es fertigbringt, auf nonchalante Weise auf die Bühne zu kotzen – und Jeff Wilbusch, der noch nicht lange im Ensemble ist und diesmal aufgrund seiner eigenen bunten Biografie englisch, arabisch und schließlich das Kaddisch spricht. Sie zum Abschied in einer derart lauen, inhaltlich und formal immer mehr zerfasernden Inszenierung gesehen zu haben, wäre ein Jammer.

 

Hoppla, wir sterben!
von Arnon Grünberg
Aus dem Niederländischen übersetzt von Rainer Kersten
Uraufführung
Regie: Johan Simons, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Carl Oesterhelt, Licht: Wolfgang Göbbel, Dramaturgie: Koen Tachelet.
Mit: Benny Claessens, Anna Drexler, Marie Jung, André Jung, Hans Kremer, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Jeff Wilbusch.
Musiker: Stefan Schreiber / Ulrich Wangenheim, Joerg Widmoser / Gertrud Schilde, Andreas Höricht, Klaus Kämper / Jost-H. Hecker / Philipp von Morgen.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kriitkenrundschau

Sven Ricklefs schreibt auf der Seite des Deutschlandfunks (30.4.2015), das "eigenwillige Szenario" von Arnon Grünberg drehe sich um "Fremdsein und Identität", aber auch um "das Prinzip Krieg" und um das, was Deutschland "mit eben diesem Krieg verbindet". Katrin Bracks "Einheitsszenerie" wirke "bewusst schauerlich heroisch". Ebenso "bedrohlich" wirke auch das Frauentrio oder Hans Kremer als Kriegsveteran "in ihrer Skurrilität". Die Inszenierung, die sich in Richtung "theatrale Installation" bewege, frage, wie ausgerechnet "wir" mit "unserer Geschichte" uns "am Hindukusch als die besseren Menschen aufspielen" könnten, die Krieg aus "einer vermeintlich moralisch einwandfreien Position heraus führen".

Christine Dössel schreibt auf der Webpräsenz der Süddeutschen Zeitung (1.5.2015): In der letzten Inszenierung von Johan Simons als Intendant werde die "Erzählsucht und Erfindungslust des Theaters" noch einmal "wärmestubenhaft beschworen". Die Kraft "zu fangen und zu bannen", auch: "zu verwirren". Kein "Paukenschlag", eher eine "szenisch-musikalische Installation", mit "hingetüpfelten Figuren und Situationen" und einem "abstrusen Szenenpotpourri" als Stück
Simons bediene nicht "die grelle Polit-Groteske", er inszeniere eine "Lagerfeuer-Fantasie", einen "Gedankenspuk bei Funkenflug", "traumgespinstiger", "subkutaner" als die Vorlage. Auch: "harmloser". Manches sei "abgeschmackt", anderes von "politisch-poetischer Sprach- und Anziehungskraft". Hans Kremer als "abtrünniger Moslem" etwa, Benny Claessens als "interkultureller Berater", der "Understatement-Großmeister" André Jung natürlich. "Noch sind sie da, Simons und die Seinen. Aber sie fehlen schon jetzt."

Teresa Grenzmann schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.5.2015): Simons lasse der "Unberechenbarkeit des Lebens und des Krieges" keine Chance: Keiner hadere hier mit seinem Schicksal, "jeder trägt sein Leben offen in der Hand – und gleich darunter: seine Schuld". Daran ändern lasse sich nichts, schon gar nicht während dieses "nebulös multireligiösen Abends", der in seiner "detailliertesten Konzentrationsschwäche" den Nebenhandlungen, in seinen "absurdesten, besten darstellerischen Momenten" Franz Kafka und in seiner "fokussiertesten Dramatik" einem "selten stillhaltenden experimentellen Streichquartett samt Klarinette" gehöre. Die Darsteller gäben sich größte Mühe, in keiner ihrer vielen Rollen zum Sympathieträger zu werden. Allzu vieles funktioniere nur über Sprache, was die Inszenierung in ihrer "bilderreichen Unruhe und ständigen Gleichzeitigkeit von wichtigen und unwichtigen Handlungen" nicht vermitteln kann.

 

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