Mit müder Macht

von Hartmut Krug

Berlin, 30. April 2015. Müde sind sie alle am spanischen Hof. Still ist es hier und leer. Von den rund 20 Personen bei Schiller sind in Stephan Kimmigs "Don Carlos"-Inszenierung acht übrig geblieben. Und Domingo und Herzog Alba, die Erfüllungsgehilfen des Königs Philipp, sind nichts als Fingerzeige in ihrer schon äußerlich eindimensionalen Klischeehaftigkeit. Philipp agiert hier weniger, als dass er reagiert, denkt und leidet. Dieser Einsame verwaltet das Bestehende mit müder Macht, und alle um ihn herum sind vor allem mit sich, ihren Ängsten und Träumen beschäftigt.

Don Carlos boxt in die Luft

Schiller hat sein Werk immer und immer wieder be- und überarbeitet. Am Deutschen Theater wird jetzt nicht die frühe, politischere Fassung des Dramas von 1787 gespielt, sondern wohl die 1805 nach den Erfahrungen des Terrors der Französischen Revolution entstandene. Die, bearbeitet vom Dramaturgen John von Düffel, mit kleinen Kürzungen und Umstellungen arbeitet. Im Streit darum, ob Schillers "Don Carlos", den dieser als sein "Lieblingskind des Geistes" bezeichnete, Liebes- oder Ehedrama, politisches Tendenzstück oder Historie, bürgerliches Trauerspiel oder Läuterungsdrama sei, setzt Kimmig auf das Beziehungsstück.

don carlos 6301 560 arno declair uUlrich Matthes als Philipp II., Alexander Khuon als sein Sohn Don Carlos, Andreas Döhler als
Marquis Posa und Henning Vogt als Herzog Alba. © Arno Declair

Prinz Carlos ist kaputt, deprimiert und zum Nichtstun verdammt. Er steckt am Hof in einer emotionalen und gesellschaftlichen Leere. Sein Vater ein ermatteter Despot, der damit beschäftigt ist, sein krankes, unterdrückerisches Machtsystem aufrechtzuerhalten und den Sohn von sich und dieser Macht fern zu halten. So macht Carlos erst mal ein paar Liegestütze. Später wird er Seil springen und Schattenboxen betreiben. Irgendwas muss er ja tun. Zu Elisabeth, der Frau, die ihm einst als Gattin zugedacht war, verwehrt ihm sein Vater als ihr Mann den Zugang. Doch die Liebe zu ihr bestimmt weiter sein Tun – weniger das politische, emanzipatorische Handeln für die Menschen, das sein Freund Posa für ihn vorsieht.

Alexander Khuon ist ein Don Carlos in Jeans, völlig versteift und versponnen in seine Gefühlsverzweiflung. (Khuon spielte in der letzten DT-Inszenierung des Stückes durch Nicolas Stemann 2007 den Posa.) Wenn Andreas Döhlers Marquis von Posa mit Schampus und einer kleinen Gemüsekiste kommt, hat er es schwer, den Freund überhaupt noch zu erreichen. Döhler steckt wie alle in heutiger Alltagskleidung, erst ohne, dann, nachdem er vom einsamen König zu dessen Vertrauten ernannt wurde, mit Krawatte. Er argumentiert mit viel Handbewegungen und Armgefuchtel. Doch er spricht – wenn er nicht gerade, wie alle so oft in dieser Inszenierung, an der Rampe vor dem Publikum agiert und agitiert – fast mehr in sich hinein statt nach außen.

Nahe der Leblosigkeit

Immerhin strahlt seine Figur noch Leben aus und verkörpert ein Wollen. Sonst liegt über den Szenen oft eine Atmosphäre der Unwirklichkeit. Das Geschehen wirkt, gewollt und ungewollt, schrecklich leblos. Kein Furor durchweht die Texte, die "untersprochen" klingen und zuweilen auf unfreiwillig komische Weise etwas beschreiben, was die Figuren nun gerade nicht tun. Statt Spannung ein verkündendes Aufsagen, statt psychologischer Figurengestaltung Demonstrationstheater.

Ullrich Matthes, als König Philipp mit Bart und nackenlangem Haupthaar, führt seine Figur souverän nahe an die Leblosigkeit. Was Konsequenz des Regiekonzepts ist, macht seinen Philipp aber merkwürdig blass und, ja, uninteressant. Man merkt die Absicht, merkt die Kunstfertigkeit, wird mit dieser kalten Figur aber nicht warm.

Wilde Tänzchen

Da haben es die Frauen besser. Katrin Wichmann gibt die Elisabeth als selbstbewusst lebendige Frau, die beim Zusammentreffen mit Carlos dessen Umarmung und Küsse heftig erwidert. Sie ist in jeder Beziehung aktiv, gönnt sich sogar ein langes, wildes Tänzchen mit Posa, quer durch die Szenerie.

Die ist bei Katja Haß, als eine Variation ihrer sich stets ähnelnden Bühnenbilder, ganz in Kunststoffweiß gehalten. Hier stehen Wände im offenen Raum, gehen Rollos runter und rauf. Philipp bekommt einen Bürostuhl als Thron, und die Drehbühne dreht das Ganze so langsam wie funktionslos. Verlassen müssen die Menschen dieses missglückte, kaum als Labyrinth für politische Intrigen zu nutzende Bühnenbild durch von Gittern gesicherte Abgänge im Fußboden.

Kathleen Morgeneyers Prinzessin Eboli bringt Leidenschaft ins Geschehen. Mit hoffnungsvollem Verzweiflungsgrinsen und Sekt tritt sie zu Carlos und wirft sich in Liebesverlangen an ihn. Sie zieht sich aus, geht dem Verwirrten buchstäblich an die Wäsche und umklammert ihn, bis sie im Entsetzen über seine Abweisung weinend erstarrt. Morgeneyer bekommt mehrere große Emotionalszenen und füllt ihre Rolle überzeugend, manchmal aber auch nur Regieeinfällen folgend aus (zum Beispiel, indem sie anspielungsreich in eine Apfelsine beißt). Mit Ebolis aus Angst, Verklemmung und Hoffnung geborener Haltung vertreibt die Darstellerin für Momente die vage Leblosigkeit.

Da hilft auch keine Europafahne

Wenn sich am Ende Barbara Schnitzler in der Rolle des Großinquisitors im eleganten, hellblauen Kostüm auf hohen Hacken fast neben Matthes' Philipp stellt und ihren Machtanspruch durchsetzt, dann ist das leider nur ein Regieeinfall. Nichts von Erschrecken, keine Abgründigkeit, nur Abwicklung. Gegen Roger Vontobels Dresdner, auch beim Theatertreffen 2010 gezeigte Inszenierung, gegen Wolfgang Engels Leipziger Politfassung von 2005 und vor allem gegen Andrea Breths die Menschen ergründender Inszenierung von 2004 sieht Stefan Kimmigs sich (allzu) lang dahin ziehende Version doch arg alt und müde aus.

Da helfen auch die Europafahne auf einem Bürotisch und ein Video zu Beginn nicht, in dem ein Mädchen im historischem Kleid nach Europa sucht, diese Inszenierung inhaltlich wie formal heutig und spannend zu machen.

 

Don Carlos
von Friedrich Schiller
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Antje Rabes, Musik: Michael Verhoeven, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Ulrich Matthes, Katrin Wichmann, Alexander Khuon, Andreas Döhler, Kathleen Morgeneyer, Henning Vogt, Jürgen Huth, Barbara Schnitzler.
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Ulrich Seidler schreibt auf der Website der Berliner Zeitung (1.5.2015), zusammen mit "Immer noch Sturm", inszeniert von Frank Abt, sei hier ein "beglückend solider Doppeltreffer" gelungen. "Sehr leise und temporeduziert" gehe es zumeist bei "Don Karlos" zu. Doch sei die Ruhe "zum Bersten mit Spannung" geladen. Alle seien "in Deckung, wer zuckt, verliert, gleichzeitig wird der Handlungsspielraum immer enger, die Situation immer auswegloser". Das würde den Spielern "um die Ohren fliegen", wenn sie sich nicht "ab und zu in das Maß der Blankverse retten könnten − die Sprache als Maske, aber auch als Geländer und als Sortierhilfe". Ein "nervenzerfetzendes und herzrhythmushetzendes Mitdenkabenteuer!" Mit so gut wie nichts als Schauspielern, die "dürfen, was sie können, sagen, was sie meinen und wissen, was sie tun".

Christine Wahl schreibt im Tagesspiegel (2.5.2015): Zumeist stehe der "spanische Königshof" an der Rampe und deklamiere "seine Intrigen" ins Publikum. Kimmigs Inszenierung schreie: "Wir sind komplett in der panischen Machterhaltungspolitik des despotischen Königs erstarrt". Der Kampf zwischen dem Möchtegern-karrieristischen Don Carlos und dem "extra unkonventionellen Langhaar-Despoten" Philipp bebildere plakativ auch den Berliner Theaterstreit zwischen hie "leeres weißes (Manager-)Hemd" und da "knorziger Besitzstandswahrer". Mehr interessiere Kimmig allerdings die "Familienstory". Zwar glaube man Ulrich Matthes sein Interesse für die Posas Ideen, aber ausbuchstabiert würden eher Szenen wie die zwischen Carlos und der Prinzessin Eboli. Bei Kathleen Morgeneyers wenig subtilem Gebaren sei man trotzdem froh, dass mal ein kurzer Vitalitätsschub die erschlaffte Monarchie durchzucke.

Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.5.2015), das Ensemble bemühe sich "grundehrlich um Schillers Stück" und treffe "dabei durchaus den einen oder anderen Ton richtig". Die "geballte Emphase der Figurenzeichnungen" übertrage sich "zwar auf das staunende Publikum, aber an der Tragödie geht sie trotzdem vorbei". Stephan Kimmig schaffe es nicht, seiner Inszenierung "genügend Tiefe zu verleihen, um sich in dem großen historischen Echoraum" von Schillers Drama zu behaupten. Kimmig lasse die Darsteller "locker vom Hocker über die Oberfläche von Schillers Stück surfen, nie hineintauchen". Erst mit Barbara Schnitzlers Auftritt als Großinquisitor erspiele sich die "phantasielose Aufführung" die "Gefährlichkeit" eines Kampfes um Leben und Tod.

Auf Welt Online (3.5.2015) schreibt Reinhard Wengierek etwa das komplette Gegenteil: "Das Schiller-Historical aus dem 16. Jahrhundert, das Schiller-Drama von 1787 ganz heutig." "Dicht am Text". Ohne "Pophits, Gehopse und Geblödel, Dekonstruktionen, Fremdtext-Schübe". Und die "klasse Schauspieler immer vorn an der Rampe." Trotzdem kein "Frontalunterricht", weil Kimmig die "Klassik-Wortoper "auf Gesprächston" gebracht habe. All die Monologe seien "herzzerreißend in ihrem Chaos aus Wahn, Trotz, Aufruhr, Schmerz, Verzweiflung und Verlorenheit". "Tolles Menschentheater, gemacht aus toller Redekunst. Explosiv, hitzig oder streng, ausgekühlt – dabei stets greifend ins Universelle." Das Deutsche Theater "nach üblen Durststrecken endlich auf der Höhe seiner Möglichkeiten".

 

Kommentare  
Don Carlos, Berlin: ganz schön trocken
Ich habe am Anfang aus Kindermund "Euer Opa" verstanden, da hat die Europafahne wenigstens Aufklärung gebracht. Vielleicht war sie auch in der Requisite übrig. Ansonsten teile ich weitgehend die Kritik. Ganz schön trocken. Ständiges Auf- und Zuknöpfen von Hemden, Heraufziehen oder Herunterlassen von Jalousien oder Seilspringen schaffen auch keine Dramatik, nur Prinzessin Eboli bringt zeitweise Leben in die Bude. Immerhin ist der Gag mit dem zerissenen Hemd -"Das zahlst Du"- ein Lacher. Insgesamt für mich enttäuschend.
Don Carlos, Berlin: so viel Mutlosigkeit
Vielleicht will Stephan Kimmig hier eine erstarrte Gesellschaft im Endstadium ihrer Selbstabschaffung darstellen, doch fehlt dazu jede Stringenz, ist der Ton so bedeutungsheischend hölzern, dass der Abend eher als Symptom der Krankheit denn als deren Diagnose erscheint. Womöglich soll das alles ja ein Abgesang auf ein Europa sein, das sich längst jenseits aller Visionen eingemauert zu haben scheint in selbstgenügsamem Aussitzen, im Schwelgen im eigenen selbstmitleidigen Leidensnarrativ. Doch ließe sich der Abend auch lesen als Eingeständnis eines einstmals führenden deutschsprachigen Theaters, das nichts mehr zu sagen weiß, dem es genügt, eine der höchsten Premierendichten im deutschen Sprachraum zu haben und ansonsten seine Theaterabende gemeinsam mit dem Publikum absitzt. Wer die beiden letzten Premierenabende hier erlebt hat, dem kann Angst und Bange werden bei so viel Mutlosigkeit, diesem weitgehenden Verzicht auf jeden künstlerischen Ehrgeiz, diesem Herunterbeten des Textes, bei dem selbst für solides Kunsthandwerk die Energie zu fehlen scheint. Wenn gegen Ende der Inszenierung, die eine solche zu nennen schwer fällt, laut und aus dem Nichts ein Schuss fällt, kann man nur hoffen, dass am Deutschen Theater noch jemand ist, der ihn hören konnte.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/wp-admin/post.php?post=4402&action=edit&message=6&postpost=v2
Don Carlos, Berlin: lieber freuen, als sich ins letzte Jahrzehnt zu beamen
Ich teile die Nachtkritik nicht. Im Gegenteil bin ich ein wenig überrascht, dass Herr Krug zu dem Theater-Oma Hinweis, dass früher (wow, Herr Krug, 2004 schon im Don Carlos gewesen!)alles besser gewesen sei, zurückgreifen musste. Dem Kritiker selbst fällt scheinbar nichts Besseres ein, als sich auf Kosten der teils herausragenden Darsteller und des Regieteams zu profilieren. Ausgehend von der These, dass der Carlos stets aus seiner höchst austarierten Balance gerät, wenn auch nur eines der Dramen innerhalb des Dramas hervorgehoben wird, konnte es gestern nur darum gehen, sich auf die Gewichtung des Regieteams einzulassen. Ich meinerseits erkannte eine Stringenz in der Gewichtung, bis zum Schluss. Ob mir diese Gewichtung gefallen hat, sei dahingestellt. Ich war allerdings sehr glücklich, dass großer Wert auf Text und Sprache gelegt wurde (auch wenn natürlich, Herr Krug, früher alle Schauspieler viel ergreifender und verständlicher gesprochen haben), zumal man sich auf das Nichtbühnenbild nicht zu konzentrieren brauchte. Langweilig war mir durchgängig nicht. Zugegeben: der Abend war kein großer Wurf, aber doch gelungen. Da selbst dies am DT in den letzten Jahren selten genug vorgekommen ist, erfreue ich mich mit den anderen Zuschauern lieber hieran, als mich ins letzte Jahrzehnt zu beamen.
Don Carlos, Berlin: Niedergang
kann herrn krug, herrn gräßler und herrn krieger nur zustimmen: ein grauenhafter, grauenhaft langweiliger, fürchterlicher, desolater abend. der niedergang des dt geht weiter. (...) als mündiger besucher bleibt die konsequenz, sich abzuwenden. es gibt ja genug andere theater in berlin.
Don Carlos, Berlin: schade
Was für ein langweiliger zugeknöpfter Abend. Da versäumt der Mensch nichts, wenn man kurz vor dem Eingang links den Abzweig in das Theaterrestaurant nimmt. Jegliches Gespräch dort würde mehr Intensität bedeuten als diese fade Inszenierung.In der die Schauspieler bis auf wenige Ausnahmen zu depressiven Text deklamierenden Pappkameraden werden. In dieser Inszenierung hat keine Figur die Chance eine Lebengeschichte zu entwickeln.
Schade für die Schauspieler und das Deutsche Theater. Das Rampenlicht scheint hier nicht mehr.
Don Carlos, Berlin: aufwühlender Abend
Das sehe ich ganz anders: An diesem Abend zeigte sich wieder einmal, was für ein großer, revolutionärer Dichter Friedrich Schiller war und ist, und dieser aufwühlende Abend wird ihm gerecht. Endlich mal kein affiges Mätzchentheater mehr, keine plumpen Karikaturen, sondern leidende, liebende, verzweifelte, berechnende Menschen auf der Bühne, eine kluge, ruhige, zurückhaltende Regie von Stephan Kimmig, in einem nüchternen Bühnenbild tun sich Abgründe auf. Tränen auf der Bühne und Tränen bei mir.
Die oben dankenswerterweise erwähnte Kritik von Ulrich Seidler in der heutigen Ausgabe der Berliner Zeitung trifft es auf den Punkt, kurz und knapp: "Ein nervenzerfetzendes und herzrhythmushetzendes Mitdenkabenteuer!"
Man muss sich halt bloss darauf einlassen (können und wollen)...
Don Carlos, Berlin: eignet sich als Hörspiel
Es Schillert nichts an diesem Abend! Die Schauspieler quälen sich durch das Bühnenbild was sehr einfallslos wirkt und auch durch das andauernde Drehen der Bühne nicht besser wird,eher einschläfernd wirkt!
Zum schlechten Bühnenbild kommt eine langweilige Beleuchtung dazu, von den Kostümen ganz zu schweigen...
Vielleicht hätte ich es den Besuchern gleich tun sollen, die in der Pause das Theater verlassen haben? Aber der Schuss aus dem Off war schon toll!
Fazit des Abends: Dieses Stück DON CARLOS im DT Berlin eignet sich hervorragend als Hörspiel!
Don Carlos, Berlin: Schauspieler Weltklasse, Inszenierung essenziell
Ich habe Schauspieler lange nicht mehr ihren Text so ernst und unter die Lupe nehmen sehen. Was Ullrich Matthes, Katrin Wichmann und Kathleen Morgeneyers da machen ist für mich absolute Weltklasse. Die Regie tritt völlig hinter den Text zurück. Jeder, der wie ich, ebenfalls der Ansicht ist, dass wir mittlerweile in einer erstarrten Monarchie leben (ob in einer guten oder nicht, jedenfalls einer machtbewussten), wird seine helle Freude am Schiller wieder entdecken. Wenn man so will ist das Stück eine tiefe Verneigung vor diesem Genie. Eine gelungene. Dass man ein solches Niveau derart hart kritisieren kann ist natürlich ein Kompliment an Berlin und ans DT, beide verwöhnen einen ja einfach. Und ja: hätte Kimmig vielleicht ein halbes Jahr länger gehabt, wäre vielleicht auch eine Weltklasseinszenierung dabei herausgekommen. Aber großartig in ihrer Demut und Essenzialität finde ich sie auch so.
Don Carlos, Berlin: polarisierend
“Die Krankheit im Zentrum des Systems ist die Leere, die Verneinung jeglicher Veränderung, jeglicher Lebendigkeit.” (Zitat aus John von Düffels Essay im Programmheft)

Wie unter Valium wirkt alles sehr gedämpft und langsam: die Gespräche der Figuren, die Schritte über die Bühne, das Heben und Senken der Jalousien. Jede Bewegung wirkt wie ein Fremdkörper, die sofort wieder unter Kontrolle gebracht werden muss: seien es die Liegestütze oder die Seilsprung-Einlagen des Infanten Don Carlos (Alexander Khuon) oder die durch Brief-Intrigen angeheizten Liebes-Sehnsüchte der Prinzessin Eboli (Kathleen Morgeneyer).

Der Grundgedanke eines pathologischen, aus Angst vor Machtverlust erstarrten Systems wird in dieser Don Carlos-Inszenierung auf die Spitze getrieben und daran scheiden sich die Geister.

Auf der einen Seite: Langer Applaus nach den 3,5 Stunden der B-Premiere und Zuschauer, die bei Gesprächen im Foyer von der “phantastischen Inszenierung mit großartigen Schauspielern” schwärmten. Oder Ulrich Seidler, der in der Berliner Zeitung ein “nervenzerfetzendes und herzrhythmushetzendes Mitdenkabenteuer” rühmt, “sehr leise” und “temporeduziert”.
Aber auf der anderen Seite die vielen Stimmen, die den Abend zu leblos fanden.

Dieser zweiten Gruppe möchte ich mich anschließen. Kimmig und von Düffel wollen ein “Panoptikum der Kaputtheit” zeigen, die “Leere und Ausgestorbenheit des Lebens” (so der erwähnte Aufsatz im Programmheft). Heraus kommt leider zu viel Deklamieren und “Demonstrationstheater” (so auch Hartmut Krug in seiner “Nachtkritik”) und ein Abend, der “in wirklich aller Konsequenz vor sich hin stagniert” (Christine Wahl im Tagesspiegel).

Stephan Kimmig hat bewiesen, dass er aus Klassiker-Stoffen packende, herausfordernde Theaterabende gestalten kann, wie Maria Stuart (Theatertreffen 2008) oder Ödipus Stadt (die DT-Eröffnungs-Inszenierung der Spielzeit 2012/13). Bei Don Carlos ist das aus meiner Sicht nicht gelungen.

Mehr dazu hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/24839-don-carlos-am-deutschen-theater-berlin-unter-glasglocke-erstarrt.html
Don Carlos, Berlin: Theatermöglichkeiten nicht ausgeschöpft
Ein sehr anstrengender, aber künstlerisch wertvoller Abend, den die tollen SchauspielerInnen vor Allem mit ihren Stimmen zu einem Hörerlebnis besonderer Güte gemacht haben. Das Bühnenbild wirkte wie eine szenische Sortiermaschine ohne eigene Aussage. Durch die fehlenden Kostüme fühlte ich mich wie auf einer sog. Durchlaufprobe. Schade, dass die Möglichkeiten des Theaters nicht ausgeschöpft worden sind für dieses immer noch aktuelle klassische Kunstwerk!
Don Carlos, Berlin: schrecklich unentschlossen
Nur die Qualität der SchauspielerInnen versöhnt einen ein wenig mit diesem uninspirerten Theaterabend. Als "Hörspiel" (Bernd Schumann) in der Tat viel lohnenswerter als als diese sterile Aneinanderreihung von Auftritt- Dialog -Abtritt am vorderen Rand der Bühne ohne je wirklich das misslungene Bühnenbild zu bespielen.
Man kann die Europafahne und die Videos (zwar ganz hübsch) als irre subtiler Bezug zur Gegenwart deuten, oder aber als Versuch auf Krampf doch noch irgendwie Bedeutung zu kreieren. Auch das - wie die ganze Inszenierung- ist schrecklich unentschlossen, so dass man als ZuschauerIn die Augen schließt und sensüchtig dem Text und dessen Vielschichtigkeit lauscht und sich wundert wie Stephan Kimmig es fertig bringt, aus der Fülle der angelegten Konflikte keinen einzigen zu be- und verhandeln (auch wenn man sich den Vorrednern anschließt und es als Beziehungsdrama deutet, so ist es doch ein kühles und was gibt es Orginelleres als Gefühlsverrohung, eine Priese egoistische Leidenschaft und ein bisschen "Der-Mit-Dem" in einem weißen Raum mit Neonlicht?).
Nichtssagend wie das ganze Stück sind die Kostüme, das bisschen Musik und das Licht. Wenn es um Sinnentleerung und den leeren Himmel geht, dann habe ich das in den 3,5 Stunden gestern gespührt.
Kommentar schreiben