Onkel Wanja - Nach dem "Kirschgarten" inszeniert Nurkan Erpulat am Gorki Theater wieder einen Tschechow
Utopisches Zusammensein
von Leopold Lippert
Berlin, 2. Mai 2015. Nach dem schrillen Kirschgarten von 2013, dem von vielen Seiten die Übereindeutigkeit der postmigrantischen These angekreidet wurde, wirkt Nurkan Erpulats "Onkel Wanja" am Gorki Theater regelrecht bieder. An einer Stelle etwa sitzt Wanja (Tim Porath) stockbesoffen inmitten alter Kartons voller Erinnerungen und redet mit einem Huhn, das, weil es ein echtes Huhn ist, mitfühlend zwischen seine Monologzeilen gackert. Zuvor hat er schon mit vollem Mund gesprochen und gespuckt, sich von der Drehbühne langsam in den Spagat zerren lassen, und auch die obligatorisch-sarkastischen Tschechow-Pointen lässig abgespult ("Ideales Wetter um sich aufzuhängen!"). Tatsächlich: Man amüsiert sich recht harmlos an diesem Abend.
Dabei müht sich die Inszenierung sichtlich ab, in "Onkel Wanja" etwas durchaus Existenzielles zu entdecken: Migration als Lebensweise, als grundlegenden Zustand einer heraufdämmernden Moderne. Professor Serebrjakows (Falilou Seck) wiederholtes "Man muss etwas tun!" heißt in diesem Fall auch immer: Man muss woanders hin, wieder mal den Ort wechseln, bevor einem die Luft wegbleibt an diesen heißen, schwülen Sommerabenden in diesen bunten, träge machenden Gartenstühlen.
Gemischte Gefühle
Und so werden an dem schummrig beleuchteten Gutshof mitten im Nirgendwo Konflikte geprobt zwischen jenen, die weggegangen sind, und jenen, die hierbleiben. Zwischen jenen, die ankommen wollen, und jenen, die immer weiter müssen: Sonja (Mareike Beykirch), das zurückgelassene "Kofferkind, für das man Koffer voller Geschenke bringt". Astrow (Dimitrij Schaad), der fahrende Landarzt, der bloß einmal bis zum Abendessen bleiben will, ohne anderswo gebraucht zu werden. Professor Serebrjakow und seine Frau Jelena (Anastasia Gubareva), die die finanzielle Not aus der Stadt an einen Ort getrieben hat, an dem sie nicht sein wollen. Und die alte Haushälterin Marina (Sema Poyraz), deren "christlicher" Alltag durch die Ankunft des Professors gehörig durcheinandergebracht wird.
Wald- und Wiesen-Landgutidyll in Nurkan Erpulats "Onkel Wanja" © Ute Langkafel
Das ist nicht immer ganz subtil gespielt, aber schließlich geht es auch um Figuren, die nicht aus ihrer Haut können. Falilou Seck etwa lässt seinen meist peinlich berührten Serebrjakow derart salbungsvoll Platitüden tönen, dass man sie wohl auch im Foyer noch hören kann. Dabei ist sein Professor eher neureicher Aufsteiger als intellektueller Aussteiger, auch wenn er sich zwischendurch ohnehin – ganz selbstreferenziell – als alternder Schauspieler in der Lebenskrise ("Ich bin ein Greis, ich bin ein Leichnam!") outet.
Melancholisch unterlegt
Mareike Beykirchs verschreckte Sonja legt ihren unsicher stakenden Gang das ganze Stück hindurch nicht ab, und selbst als sie am Ende den Vater konfrontiert und die Hand zur zitternden Faust ballt, ist das mehr tapfer als wirklich wütend. Und Tim Poraths Wanja schließlich variiert zwei Stunden lang eine einzige Geste (erst wild mit dem Arm fuchteln! dann die Hand laut auf den Oberschenkel klatschen!), während er ein wahres Füllhorn an Füllwörtern entleert: "Na?" "Ne?" "Nü!" "Äh?" "Ja?" "Wa?" "Meine Fresse!"
Erpulats "Onkel Wanja" ist irgendwie von allem ein bisschen: Ein bisschen echtes Gefühl, ein bisschen Meta-Theater, ein bisschen melancholischer Singsang (mit Marina Frenk als Telegin im grünen Waldschrat-Kostüm am Klavier), ein bisschen Deklamieren an der Rampe. Ein bisschen gekürzt, ein bisschen neu geschrieben, ein bisschen originaler "Wanja"-Klamauk, ein bisschen dazugeschummelte Witzchen (und Hühner!). Ein bisschen schließlich wie in einem Tschechow-Stück: mal "interessant", meist aber "langweilig".
Lebensfrohe Gastlichkeit
Da ist es dann auch nicht verwunderlich, dass das stumme Anfangsbild der schönste Moment des ganzen Abends gewesen sein wird. Noch bevor der erste Satz fällt, kommen alle Figuren auf die Bühne und richten den Tisch an, um zu essen und vor allem zu trinken. Aus dem Off kommt wehmütige, schaurige Klaviermusik, und im Hintergrund funkelt eine fantastische, farbübersättigte Waldprojektion mit variablem Sternenhimmel (Bühne von Alissa Kolbusch).
Sehnsüchtig schauen die Protagonisten in die Ferne, dorthin, wo wir Zuschauer*innen sitzen, als wollten sie bei all der Verzweiflung, die folgen wird, im Zusammenkommen, im Zusammensein mit anderen doch noch einen Sinn finden. Es ist ein langer, fast utopischer Moment, der so nur im Theater sein kann, und der eine Spannung verspricht, die Erpulat den Rest des Abends nicht zu halten vermag.
Onkel Wanja
von Anton Tschechow, Übersetzung aus dem Russischen von Peter Urban
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Elke von Sivers, Musik: Sinem Altan, Lichtdesign: Hans Leser, Dramaturgie: Ludwig Haugk.
Mit: Mareike Beykirch, Marina Frenk, Anastasia Gubareva, Tim Porath, Sema Poyraz, Ruth Reinecke, Dimitrij Schaad, Falilou Seck.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.gorki.de
Kritikenrundschau
Doris Meierhenrich schreibt in der Berliner Zeitung (4.5.2015): Dass niemand den "großen Sprung" wage in Tschechows "Onkel Wanja" habe Nurkan Erpulat "gut erkannt" und "wirklich gelungen" sei die "Einsperrung des Jammer-Personals" in die "selbst aufgerichtete Illusionskulisse" und die "wiederholt passende Antworten" gackernden Hühner. Ansonsten sei der "sorgfältig ausgemalte Kulissentheaterabend" sehr "behäbig". Eine gute Idee sei auch die Figur des Professors, Falilou Seck müsse mal nicht "den eitlen tyrannischen Phrasendrescher" spielen., sondern einen "nachdenklichen Fremden", der das "in Routine und Selbsthass eingezäunte" 'Paradies'" durchschaue. Ansonsten dürfe kein Schauspieler "über das Mittelmaß des gehobenen Boulevards hinaus agieren". Alles bleibe auf "gute Unterhaltung" geeicht.
Auf Spiegel Online (4.5.2015) schreibt Anke Dürr, "weniger eindeutig", "unentschlossener", "mauer" sei Erpulats zweite Tschechow-Deutung nach "Kirschgarten". "Sehr hübsch" das gemeinsame stumme Mahl der Hausgemeinschaft zu Beginn, hübsch auch der Versuch, "die Tischgespräche tatsächlich wie alltägliches Geplauder zu sprechen", allerdings gelinge das nicht allen. Onkel Wanja verkomme bei Tim Porath zu einem "stumpfen Nörgler, als ob ein Kabarettist einen Schrebergärtner darstellen würde". Weitgehend wirkten die Figuren, als würden sie "ihre Probleme selbst nicht interessieren". "Nur wenn sie singen, laut und immer an der Grenze zwischen Euphorie und Melancholie, ist das anders." Am Ende kein Mitleid mit Wanja und seiner Nichte. Die zwei seien "geistig ganz schön unbeweglich". Ob das der Punkt gewesen sei, auf den Erpulat hinauswollte?
Überall lauern halb gare Einfälle – aber der Abend habe keine Idee, so Michael Laages im DLF Kultur heute (3.5.2015). "Nicht für all die gescheiterten Lebensentwürfe, auch nicht für den radikalen Umbruch, den der Professor nicht nur sich selbst, sondern all diesen Losern verordnen will, indem er das Gut, den Humus aller Lethargie, verkaufen will." Über dem Kunst-Wald schwebt im Finale (und per Video) eine riesige Eule, ob bedrohlich oder nur so, ist nicht zu sagen. "Wie der Vogel bleibt alles extrem uneindeutig in dieser Inszenierung – der 'postmigrantische' Ruhm mag vielleicht vergänglich sein; als braves Stadttheater aber gewinnt Maxim Gorkis feine kleine Bühne erst recht keinen Blumentopf."
"Tschechow, der große Lakoniker, wird hier auf die Psycho-Couch gelegt", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (7.5.2015). Das werde "naturgemäß" "etwas peinlich". Statt Melancholie herrsche ein nöliger Ton, so Meiborg und fasst die Grundstimmung des Abends so zusammen: "Ob man in Deutschland, Russland oder der Türkei ist, ist eigentlich egal: Unglücklich kann man überall sein."
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Subjektiv ist aber nicht alles. So stimmt es aus meiner Sicht einfach nicht, dass z.B. Beykirchs Sonja alles in einer Haltung durchspielt. Im Gegenteil: als sie an die Rampe tritt, um die Geschichte vom Kofferkind zu erzählen, findet sie eine ganz andere Körperlichkeit, die Schultern plötzlich nicht mehr hochgezogen, die verkrampfte Spannung ist weg, und die Stimme klingt plötzlich klar und durchdringend. Ob das unbedingt Sinn macht, kann man diskutieren -- auch klar.
Und was das wirklich sehr starke Anfangsbild angeht, entging dem Kritiker offensichtlich etwas: so sehen nämlich durchaus nicht alle Protagonisten "in die Ferne." Ob sie das überhaupt tun, sei mal dahingestellt: ich fand eher, dass sie uns direkt in die Gesichter geblickt haben. Auf jeden Fall aber waren es gar nicht alle, die in den Zuschauerraum blickten. Serebrjakow tut das nicht. Der schaut auf den Wald, weg von uns, und weg von all den anderen -- die mögen weg wollen und es nicht können, und das mag ihre Tragödie sein; er ist zurückgekommen, und das ist seine. Erst als die anderen sich wieder dem Essen und Trinken zuwenden, schaut Serebrjakow zu uns hinunter. Was genau das zu bedeuten hat, ist natürlich Interpretationssache, aber es kompliziert das Bild schon erheblich.
Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2015/05/05/huhner-im-leerlauf/
Habe ich denn mein Leben vertan? - mein Talent, meine Intelligenz, meinen
Wagemut?! - Nein, ich werde auf niemanden schießen . . .
Die Vergangenheit - verweht. Kann man denn ganz von vorne wieder beginnen?
Oder ist man doch schon fast am Ende? - jedenfalls, auf Visionen ist nicht mehr zu hoffen. Es bleibt nur die allzu-platte Existenz, nichts hat sich geändert, alles bleibt beim Alten. - Werden wir im versprochenen und vielbesprochenen Jenseits endlich zur Ruhe kommen?
Ist da ein G o t t der gnädig ist? - Aber ach - Lindenblütentee hilft auch
nicht gegen Kummer . . .
Und außerdem:
Es ist nichts Schändlicheres in der Welt, als sich auf Lügen und Märchen
einzurichten!