Die Performer sind wir selber

von Nikolaus Stenitzer

Berlin, 6. Mai 2015. Wer dieser Tage zu Rimini Protokoll will, muss klingeln. Das neue Projekt "Hausbesuch Europa / Home Visit Europe" wird in privaten Wohnungen gespielt, und zwar von deren Bewohner*innen und ihren Gästen: Ein Spieleabend über die Tücken der Europäischen Verständigung.

Handlungsanweisungen von der Bonrolle

Europa ist zunächst eine selbstgemalte Landkarte: In der Wohnung im Prenzlauer Berg, in der "Hausbesuch Europa" zum ersten Mal gespielt werden soll, ist sie über einen langen Tisch gebreitet. Fünfzehn Personen werden sich im Lauf des Abends über sie beugen und über das "Projekt Europa" nachsinnen – oder auch über ganz andere Dinge. Ein freundlicher Master of Ceremony nimmt die Besucher*innen in Empfang und erklärt die Regeln: Zuerst malt jede Person mit Filzstift drei Punkte in die Landkarte und verbindet sie miteinander: Geburtsort, Wohnort, ein Ort, den man mit einem besonderen Ereignis verbindet. Während sich ein Netz aus bunten Linien über Europa zu spannen beginnt, ahnt man schon: Hier werden wir alles selber machen müssen.

hausbesuch europa 560 pigipsimenou uFluchtlinien mit Filzstift: Europa und ich.   © Pigi Psimenou

Die Annahme wird sich als richtig erweisen. Es handelte sich aber nicht um Rimini Protokoll, gäbe es keine technische Unterstützung. Als die letzten Gäste eingetroffen sind, stellt der Spielleiter die Maschine vor, die durch den Abend führen wird: Ein kleiner Kasten, der auf Knopfdruck Informationen und Handlungsanweisungen von der Bonrolle ausspuckt (und bei gegebenem Anlass auch feierliche oder dramatische Musik). Das Spiel wird also selbsterklärend sein. Die Performance wird von den Besucher*innen gegeben, die in ihren Handlungen der Struktur folgen, die von Rimini Protokoll konzipiert wurde. Ähnlich wie manche Performances im öffentlichen Raum. Nur dass hier ein privater statt öffentlicher Raum bespielt wird. Ein Lehrstück?

Den europäischen Kuchen in den Ofen schieben

Zumindest lernen wir im Verlauf des Abends regelmäßig etwas über Europäische Geschichte: An einem Tisch "wie diesem hier" wurden Europäische Verträge unterzeichnet, erklären uns die Ausdrucke aus der Maschine. Einem historischen Ereignis entspricht jeweils eine Stufe, ein Level im Verlauf von "Hausbesuch Europa". Nachdem die grundlegenden Fragen über den Ort des Spiels und die Gastgeberin geklärt sind (wie lange wohnt sie schon hier, was machen die Nachbarn), geht es um die anderen Anwesenden: Wer ist Mitglied in einem Verband, einer Partei, einem Club? Wer hat Vertrauen in die Demokratie? Wer hat schon einmal in Bezug auf die eigene Nationalität gelogen? Gestanden wird jeweils per Handzeichen.

Die Antworten werden noch eine Rolle spielen. Manchmal wird daher das Auskunftsverhalten noch einmal abgefragt und aufgeschrieben. Über wen weitere Informationen abgefragt werden sollen, wird per Mehrheitsentscheid beschlossen, die dabei erzählten Geschichten auf die Landkarte gezeichnet. Zwischendurch lockern Handlungsanweisungen das Programm auf: Manche Mitspieler*innen müssen sich unter dem Tisch verstecken, andere den "Europäischen Kuchen" in den Ofen schieben.

Die eigene Relevanz markieren

Im Verlauf des Spiels zerfällt die Struktur in kurzweiliger und womöglich nicht ungewollter Weise: Zum Teil sind die persönlichen Geschichten vielleicht einfach interessanter als die Entscheidungen auf europäischer Ebene. Jedenfalls entsteht dieser Eindruck, und die Informationen über politische Prozesse, die Rimini Protokoll den im Kreis wandernden Apparat ausspucken lassen, gehen oft unter, was auch an den vielen verschiedenen Sprachräumen liegen kann, aus denen die Teilnehmenden stammen und die oft zu Verständigungs- und Verständnisschwierigkeiten führen.

In der letzten Phase wird von Position auf Entscheidung umgestellt: Die Teilnehmenden werden auf der Grundlage ihres Abstimmungsverhaltens im Lauf des Abends in Teams eingeteilt, die sich dann mithilfe von mobilen Geräten an Abstimmungen beteiligen. Die europapolitische Analogie zu dieser Phase sind, so erfahren wir, die politisch bedeutsamen EU-Verträge aus jüngerer Zeit – Dublin und Maastricht, Asyl- und Wirtschaftspolitik. Und es geht auch viel um Ein- und Ausschlüsse, aber noch viel mehr um den eigenen Anteil am "Europäischen Kuchen", der jetzt schon aus der Küche duftet: In den Abstimmungen gibt es Punkte zu gewinnen und zu verlieren, die die eigene Relevanz markieren. Wer sich hier ungeschickt anstellt, auf das falsche Pferd setzt und dann womöglich auch noch irrtümlich das Mehrheitswahlrecht mitbeschließt, wird schnell zum irrelevanten Zwergstaat und am Ende ohne Kuchen verabschiedet.

Der unheimliche Prozess

Es ist schwer, eine Arbeit – künstlerisch, politisch, kunst-politisch – zu bewerten, die so stark vom Agieren der wechselnden Teilnehmenden abhängt wie "Hausbesuch Europa". Die erste Episode des Projekts, das in den kommenden Monaten durch Privatwohnungen in Europa touren wird, war an ihren diffusen Stellen oft am Interessantesten: Vor allem in der ausufernden Situation des Abstimmungsmarathons mit seinen widersprüchlichen Allianzen und hilflosen strategischen Versuchen, in denen es um alles ging, nur nicht um die Inhalte.

Der unheimliche Prozess, der hier im Spiel entsteht – und der sich erst nach dem zweiten oder dritten Nachdenken als eminent politisch erschließt –, ist wahrscheinlich das Stärkste, was eine Inszenierung wie diese leisten kann. Manch eingestreute politische Botschaft wie die gebackene Metapher vom "Europäischen Kuchen" wirkt dagegen leicht abgegriffen.

 

Hausbesuch Europa / Home Visit Europe
Konzept / Skript / Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel (Rimini Protokoll)
Dramaturgie: Katja Hagedorn, Interaktionsdesign: Grit Schuster, Hans Leser, Mirko Dietrich, Assistenz Interaktionsdesign: Philipp Arnold, Ausstattung: Belle Santos, Lena Mody, Assistenz Ausstattung: Ran Chai Bar-Zvi, Produktionsleitung: Juliane Männel, Technische Leitung: Sven Nichterlein.

www.homevisiteurope.org
www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

Auf der Seite von Deutschlandradio Kultur (6.5.2015) schreibt Elisabeth Nehring: Rimini Protokoll frage, "wie viel Europa in einem einzelnen Menschen" stecke. Fragen nach "persönlicher Solidarität, Kompromissbereitschaft, Verantwortung" würden berührt und immer wieder auch "Kernpunkte in der Geschichte der Europäischen Union". Nicht immer verknüpften sich die beiden Ebenen, doch trotz der "vielen losen Enden" in der Dramaturgie sei "Hausbesuch Europa" ein "psychologisch interessantes und vor allem höchst amüsantes Gesellschaftsspiel".

Insgesamt fünf Spiel-Level gibt es. Wir brauchen bald drei Stunden, um uns zur höchsten Stufe vorzuarbeiten, so Ute Büssing auf rbb Inforadio (7.5.2015). Die letzten beiden Level bestreiten wir in Zweierteams an unterschiedlich farbigen Computerkärtchen. Fazit: "Wie 15 haben wie europäische Nachbarn idealer Weise einiges voneinander erfahren. Wie viel wir von der politischen Idee Europa in private Taten umsetzen können und wollen wurde klug hinterfragt,"

 

 

Kommentare  
Hausbesuch Europa, Berlin: leicht verborgener Ernst
Die Verstörung, die etwa ein Projekt wie Situation Rooms auszulösen vermag, stellt sich hier nicht ein. Hat man sich an das Grundprinzip einmal gewöhnt, sind die meisten Teilnehmer nur zu gern bereits, sich von der netten Runde einlullen zu lassen und zurückzulehnen. Dabei sind insbesondere die späteren “Level” interessant, in denen abgestimmt wird, das eigene Abstimmungsverhalten später Konsequenzen hat, zunächst bei der Bildung von Teams im finalen Wettbewerb, in den das alles mündet, später bei der Aufteilung des Kuchens. Die Mechanismen, mit denen aus der eigenen Überzeugung taktisches Verhalten wird und die Gedankengänge, die sich entwickeln, wenn es plötzlich ums Gewinnen geht, sind durchaus lehrreich zu beobachten, nur geht diese Ebene schnell verloren in der Lockerheit des Geschehen, dem spielerischen Charakter des Ganzen, der seinen Ernst leicht verbergen kann, der freundlichen Atmosphäre des Beisammenseins. Am Ende dieser spezifischen Zusammenkunft wird dann auch die vorgeschlagene Kuchenaufteilung ignoriert, jeder bekommt ein gleich großes Stück. das mag gelebte Utopie sein oder bloße Höflichkeit. Die im Anschluss entstehenden Gespräche sind denn auch um einiges erhellender als dieses überraschend harmlose Projekt selbst.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/05/10/mit-netten-leuten-kuchen-essen/
Hausbesuch Europa, Rimini Protokoll: amüsanter Zeitvertreib
Am interessantesten wird es in der letzten Runde, wenn es ans Eingemachte oder besser gesagt um das größte Stück des Schoko-Kuchens im Backofen geht. Nach etwas undurchsichtigen Regeln werden Zweier-Teams gebildet, die gegeneinander antreten und mit den klassischen Fragen der Spieltheorie konfrontiert werden: Was bringt uns mehr? Kooperation? Oder sollen wir lieber nur auf die Maximierung des eigenen Gewinns schielen? Die Verhandlungen im real existierenden europäischen Mehrebenen-System sind sicher noch wesentlich komplexer als diese nette Runde, aber auch hier geht es schnell hoch her: Warum bekommt dieses Team plötzlich Punkte abgezogen? Was sind eigentlich die Regeln? Und schon steht die nächste Entscheidung an, der Countdown läuft, in 15 Sekunden muss die Bestätigungs-Taste gedrückt sein, sonst gibt es auf jeden Fall Punktabzug.

Auf der Zielgeraden wird mit qualifizierter Mehrheit entscheiden: Nein, kein Schnaps für das führende Team. Als der Wecker piepst, wird endlich der Schokokuchen verteilt: wie im richtigen Leben bekommen einige die größten Stücke, zwei Duos gehen leer aus und bekommen nur heimlich einige Brosamen zugesteckt. Den Wein schenken die Gastgeber aber für alle aus.

Ein amüsanter Zeitvertreib am Feiertag, aber von der Vielschichtigkeit und analytischen Schärfe früherer Rimini Protokoll-Arbeiten ist der Hausbesuch Europa leider ein Stück entfernt.

Mehr dazu hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/24960-hausbesuch-europa-von-rimini-protokoll-spieltheorie-mit-schokokuchen-ohne-schnaps.html
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