Hier ist ein Mensch drin – und ein Affe mit Eisbärfell

von Jens Fischer

Bremen, 8. Mai 2015. Eine Kindheitserinnerung als Live-Performance. Anfangs liegt eine knitterige Plastikfolie verheißungsvoll auf dem Bühnenboden, aber dann heißt es: Luft marsch – und sie erhebt sich sanft, bläht skulpturale Details peu à peu auf, Wände schießen empor, Dinoeierköpfe wachsen sich zu gemütlich wippenden Alien-Figuren aus. Unbeschreiblich, diese Vorfreude auf den ersten Schritt vom festen Boden auf das nachgiebige Luftkissen. Jetzt springen, schweben und die Illusion genießen, der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen...

Müde hopsend auf der Burg

Auch wenn die Zuschauerkörper leider sitzen bleiben müssen, der Verstand erhebt sich: Ja, wer sagt denn, das Leben sei eine Rutschbahn, eine Abwärtsspirale – es ist eine Hüpfburg! Auf jeden Fall folgt sprungfederleicht der nächste Höhenflug. Ein Kinderspiel. Das ewige Scheitern als stetige Chance eines glorreichen Comebacks. Amerikanischer Optimismus, globalisierter. Aber wenn nun die im gesellschaftlichen Funktionsmodus leerlaufenden Figuren aus Thomas Melles Roman 3000 Euro die Bühnenbildmetapher betreten, sind es spaßfreie Gesellen, die nur müde vor sich hin hüpfeln.

Während die Verlierer der Gesellschaft gar nicht mithopsen dürfen. Am linken Bühnenrand, unterm Traumstrandurlaub-Schirm, hibbelt Denise im Doku-Soap-Tussi-Design durch ihre Rauchpause. Sie ist Kassiererin in einem Supermarkt, der in der Bremer Uraufführung nur leere Plastikbehältnisse verkauft. Das ist natürlich verpackungskritisch gemeint. Aber darum geht es gar nicht. Sondern um die zweite grenzgängerische Randexistenz, die unter der Hüpfburg im Landstreicher-Schlumpfdesign hervorkriecht und behauptet: "Hier ist ein Mensch drin, auch wenn es nicht so scheint."

3000b 560 Joerg Landsberg uSpaßfreie Gesellen: Annemaaike Bakker, Alexander Swoboda, Paul Matzke © Jörg Landsberg

"Arme hübsche Sau"

Gutbürgerfreunde treten nun den Beweis an, enthaaren diesen Anton und stecken ihn einen blauen Anzug. So sieht er etwas weniger obdachlos aus. Und tauscht bei Denise Flaschenpfandbons gegen Alkohol. "Arme hübsche Sau", sagt sie. Eine sehr gute Beschreibung. Wegen 3000 Euro Schulden fühlt Anton sich "aus dem System gekegelt". Ist aber nicht bereit, Hilfe oder Arbeit anzunehmen. Nölt lieber prätentiöse Monologe und verrenkt sich zu schlagerschlichten Liedchen. Immer schön den Märtyrer raushängen lassen. Anton ist ganz unten. Während Denise sich mit ihrer Armutsexistenz nicht abfindet. Sie war noch niemals in New York und will das ändern – schreckt aus purer Geldnot auch vor einem nebenberuflichen Einsatz als Pornodarstellerin nicht zurück. 3000 Euro soll sie dafür bekommen. So passt sie finanziell ideal zu Anton.

Ein Filmemacher würde die gestrandeten Protagonisten jetzt aufeinanderhetzen, bis der Sozialkitsch knallrot und die Solidarität der Ausgegrenzten quietschebunt erblühen. Melle selbst nutzt seine Ausgangssituation, um kaltwütig aus der Froschperspektive die feindselige Hüpfburgwelt mit schmerzend genauen Beobachtungen zu beschreiben – er feiert nicht das schöne Verlierertum notorischer Pechvögel, sondern skizziert Lebenswege kurz vorm Ende aller Handlungsmöglichkeiten. Wobei die Nachhaltigkeit des Scheiterns die Frage nach den Möglichkeiten gelingenden Lebens provoziert. Geschickt dramatisiert und inszeniert könnten Theaterleute mit dem Stoff an die Ästhetik dramatischer Abstiegsklassiker von Tschechow, Horváth oder Fallada andocken und Empathiemöglichkeiten maximieren. Aber in Bremen führt Anne Sophie Domenz Regie, die dort mit performativen Albernheiten und comichaft überzeichnetem Personal bereits Schillers Maria Stuart inszenatorisch ignoriert, ihre Lustige-Einfälle-Show mit Seifenblasen garniert und als Entschädigung Wackelpudding kredenzt hatte.

Reihung von Fragmenten und Leerstellen

Nun ist ihr das hüpflos kriselnde Dasein der Melle-Helden vor allem Anlass, revuelustig mit Theaterformen und ihren Auflösungen zu spielen. Ob nun jemand mit einem Lampenschirm auf dem Kopf herumläuft oder in Wasserlachen herumrobbt, ob Leidensposen ausgestellt, Körper bemalt, Krickelkrackel projiziert, im Planschbecken gespielt wird: Es ergibt sich kein erzählerischer Fluss, kein Netzwerk von Bedeutungen. Nur eine Reihung szenischer Fragmente und Leerstellen. Aber dank Nadine Geyersbachs einfühlsamer Entwicklung der Hauptrolle gewinnt der Abend doch noch menschliche Wärme. Die erst panische Angst der Denise, Männerblicke würden ihren Körper pornografisch abscannen, ihre Scham, ihre Einsamkeit als alleinerziehende Mutter – aus all dem entwickelt sich Neugierde, Vertrauen, Mut. Den Anton, Paul Matzke spielt ihn leider unverrückbar selbstgefällig, lockt sie heimlich auf die Hüpfburg, erobert ihn dort mit tobender Zärtlichkeit, traut sich das Geständnis "Dich finde ich gut" – und genau in dem Moment heißt es: Ventile auf, Luft raus. Endlich ein wirkungsvolles Bild. Nach der Pause hängt die Hüpfburg wie ein nasser Sack von der Decke.

Viel Platz ist nun für nicht hüpfende Selbstentwürfe. Leider auch für ein ratlos machendes Finale: Jedenfalls tritt ein Affe (also ein Mann) mit Eisbärfell (Schutz gegen soziale Kälte?) auf und trägt Denise davon, die jubilierend kiekst. Ist ihre Anton-Fantasie als King-Kong-Traum der weißen Frau zu verstehen, sich einmal in den starken Armen eines wilden, großen Kuscheltieres zu verlieren, zu verlieben? Wohl eher handelt es sich um einen weiteren Versuch, dem Stoff mit schlicht ironischer Schaumschlägerei zu entgehen.

 

3000 Euro
Uraufführung nach dem Roman von Thomas Melle
Regie/Bühne: Anne Sophie Domenz, Dramaturgie: Marianne Seidler, Kostüme: Julia Borchert, Video: Jonas Alsleben, Licht: Frédéric Dautier.
Mit: Annemaaike Bakker, Nadine Geyersbach, Paul Matzke, Alexander Swoboda und Andy Zondag.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

"Eine vermeintlich liberale Gesellschaft, die gelernt hat, ihre Standesgrenzen mit Blicken zu ziehen statt mit Adelstiteln, und ein Paar, das sich aus der Angst vor diesen Blicken zusammenfindet: Dieser Stoff könnte durchaus bühnentauglich sein", schreibt Johannes Bruggaier in der Kreiszeitung (11.5.2015). Doch nach ersten "wunderbaren Szenen" bemächtige sich "der Leerlauf nichtssagenden Monologen und diffusen Bildern des Textes", durchaus umfangreiche Passagen würden "ohne Not Statisten anvertraut, deren plattes Spiel als solches auch noch von der Regie beabsichtigt zu sein scheint." So bleibt Bruggaier nicht nur mussmutig zurück, sondern stellt zudem die ganze Roman-Bearbeitungspraxis der Bühnen in Frage: "Die Wahrheit ist: Es gibt Gründe, weshalb ein Roman als Roman geschrieben wird und nicht als Theaterstück. Vielleicht sollte das mal jemand den Dramaturgen und Regisseuren im Lande sagen."

"Die dringend unter Überkonstruktionsverdacht stehende Geschichte um 3000 Euro, die Anton dringend braucht und die Denise ins Haus stehen, ist das Produkt eines fantasiebegabten Autors", meint Hendrik Werner im Weser-Kurier (11.5.2015). Sowohl für den Autor als auch für die Regisseurin gelte, dass für sie "Realitätsnähe gegenüber Ästhetik ein nachgeordnetes Kriterium zu sein" scheine. Und so entfalte denn Anne Sophie Domenz in ihrer Inszenierung "eine staunenswerte Suggestivkraft" – was man sehe, sei "ein revueartiger Szenenreigen", der viel von Melles "mal kunstvollem, mal artifiziellem, mal bildungshuberndem Text" bewahre.

 

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