In den Kulissen: die Gewalt

von Leopold Lippert

Berlin, 14. Mai 2015. Der Theatertreffen-Themennachmittag zu Theater und Postkolonialismus – "Wer sind wir in einer weißen Welt?" – eröffnete mit einem Screening von Göran Hugo Olssons Dokumentarfilm "Concerning Violence". Eine ambivalente Strategie. Der Film handelt von den Dekolonialisierungskämpfen in mehreren Ländern Afrikas während der 1960er und 1970er Jahre. Einerseits ermöglicht die historische Distanz der Thematik die emotionale Distanzierung der Zuschauer*innen: "Concerning Violence" verwendet grobkörnige und farbstichige Filmaufnahmen, hat mit portugiesischen und britischen (statt mit deutschen) Kolonialherren zu tun, und deren zeitweise Bloßstellung vor der Kamera bringt einige im TT-Camp sogar erleichtert zum Lachen. Andererseits ist die Doku aber auch eine Hommage an den gleichnamigen Text von Frantz Fanon, der diese "violence" durchaus physisch versteht, und für den auf die Gewalt der Kolonialmächte die Gegengewalt der Kolonisierten folgen muss. Erst dann kann, so Fanon, in einer Art dialektischen Auflösung eine neue Menschlichkeit entstehen.

Das Archivmaterial zeigt diese Brutalität ungebrochen, zeigt zerfetzte und verstümmelte Körper, und ist damit zuallererst schockierend. Diese körperliche Ebene rassistischer Gewalt wird in den darauffolgenden Diskussionsbeiträgen nie thematisiert werden, und doch ist sie wegen "Concerning Violence" auf sehr eindrückliche Weise präsent.

WeisseWelt1 560 Piero Chiussi uDas Podium von links nach rechts: Monika Gintersdorfer, Julia Wissert, Moderator Mekonnen Mesghena,
Sandrine Micossé-Aikins, Azadeh Sharifi. © Piero Chiussi/ Agentur StandArt

Trennung von politischen und ästhetischen Diskursen

Für Keynoterin Azadeh Sharifi ist eher die strukturelle und repräsentative Ebene von Rassismus interessant, und damit auch ihre eigene Vereinnahmung durch die Institution des Theatertreffens. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Themen Postkolonialismus und Rassismus hätte schließlich auch durch eine andere Stückauswahl stattfinden können, und nicht nur durch ein kritisches "Begleitprogramm" wie diesen Themen-Nachmittag. Letzterer erzeuge nämlich erst wieder eine "künstliche Trennung" von politischen und ästhetischen Diskursen, und verstehe damit Antirassismus-Kritik immer als "Kritik von außen", die man unter dem Stichwort "Political Correctness" lächerlich machen könne oder mit Verweis auf die "Freiheit der Kunst" einfach überhöre.

Sharifi lässt die Rassismus-Debatten der letzten Theatertreffen Revue passieren (anlässlich Sebastian Baumgartens Die Heilige Johanna der Schlachthöfe 2013, Alain Platels Tauberbach 2014, sowie Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen und Dušan David Parízeks Die lächerliche Finsternis in diesem Jahr) und plädiert für eine verstärkte Wahrnehmung der fundamentalen Verschränkung von Ästhetik und Materialität in der Auseinandersetzung mit Rassismus am Theater: nicht nur die Darstellung von People of Color auf der Bühne sei zu kritisieren, sondern auch ihr Nichtvorhandensein im deutschen Theaterapparat.

Stadttheater für Biodeutsche über 40

Das Diskussionspanel, das den Nachmittag beschließt, ist zunächst sehr eindeutig in der Verteilung der Rollen in diesem Theaterapparat nach Gut-Böse-Schema. Regisseurin Julia Wissert etwa behauptet: "In den Institutionen wird Theater gemacht für weiße heterosexuelle Männer", und Kuratorin Sandrine Micossé-Aikins ergänzt: "Für Biodeutsche über 40!" Und auch wenn die deutschen Stadttheater zunehmend "Bewusstsein" für strukturellen Rassismus entwickelten (allerdings eher auf als hinter der Bühne), so reiche das dekonstruierende Zitat rassistischer Praktiken und Stilmittel bei weitem nicht aus. "Warum benutzen wir Mittel", fragt Wissert, "die genau das erzeugen, worüber wir uns erheben wollen?" Statt performativer Brüche, so sind sich die Diskutierenden einig, solle man lieber grundsätzlich andere Darstellungsformen suchen – eine Suche, die das Theater auch ästhetisch weiterbringen würde.

Wie genau diese Formen aussehen sollen, bleibt allerdings vage. Vielleicht auch deswegen, weil unter den Beitragenden der ungebrochene Wunsch besteht, Theater nicht nur als Repräsentations-, sondern auch als Identifikationsmaschine zu begreifen. Von allen Diskutant*innen wird auf die eine oder andere Art eingefordert, dass das Theater "unsere Geschichten" (Sharifi) erzählen solle, dass Theater der Ort sei, "der sich mit unser aller Lebenswirklichkeit auseinandersetzen" (Wissert) müsse, und von dem wir uns "angesprochen fühlen" (Micossé-Aikins). Und so erklärt Sharifi den Erfolg des Ballhaus Naunynstraße auch damit, dass es "etwas repräsentiert, was sich im Publikum auch wieder gefunden hat".

WeisseWelt2 600 Piero Chiussi u"Wer sind wir in einer weißen Welt?" Das Publikum der Podiumsdiskussion, in der Mitte stehend Wagner Carvalho bei der Erläuterung seines Rassismus-Vorwurfs an die Inszenierung "Die Schutzbefohlenen"
© Piero Chiussi / Agentur StandArt

Identifikations-Gebot

Dieses Insistieren auf Identifikationsmomenten, auf einem Sich-Wiederfinden über die politische und ästhetische Repräsentation hinaus, ist bemerkenswert; denn bei aller Unterschiedlichkeit der politischen und historischen Legitimierung ist es eine durchaus bekannte, "kleinbürgerliche" Strategie der Theaterrezeption. Das erklärt wohl auch die Renaissance des Empört-aus-der-Vorstellung-Rausgehens, eine schon verschwunden geglaubte Stadttheaterprotestformel, die sich aber nach wie vor hervorragend für reflexhafte Debatten eignet:

Als Wagner Carvalho, der künstlerische Leiter des Ballhaus Naunynstraße, in einem Wortbeitrag noch einmal erklärt, warum er Nicolas Stemanns Inszenierung von "Die Schutzbefohlenen" Anfang des Monats vorzeitig verlassen hat, fragt Ernest Allan Hausmann, Schauspieler in der Szene des Anstoßes, entgeistert zurück: "Ich kann nicht verstehen, warum du rausrennst!?" Auch wenn er erzählt, er sei klar wegen seiner schwarzen Hautfarbe in die Produktion geholt worden, findet Hausmann trotzdem, Rausgehen sei keine Haltung. Ein bisschen verletzter Schauspielerstolz spricht da schon aus ihm: Wie solle man schließlich mit jemandem ernsthaft diskutieren, der das Stück gar nicht zu Ende gesehen hat?

Man könne auch über Theaterzeichen prinzipiell diskutieren, ohne "das Stück" gesehen zu haben, wirft Micossé-Aikins ein (und erntet dafür manch verächtlichen Lacher aus dem Publikum). Und dass diese Diskussion auch am Theatertreffen stattfindet, finden alle, sei grundsätzlich zu begrüßen: Nun ginge es darum, diese Gelegenheit auch zu nutzen, und dem "Bewusstsein" strukturelle Veränderungen folgen zu lassen, und zwar "durch alle Abteilungen hindurch" (Regisseurin Monika Gintersdorfer). In zwei Jahren werde man über diese Debatte heute nur noch lachen können, hofft Wissert. Und Sharifi wünscht sich, man könne dann endlich "über Künstler*innen sprechen, nicht immer nur über People of Color." Es herrscht also Aufbruchsstimmung.

 

Wer sind wir in der weißen Welt? – Theater und Postkolonialismus 
Camp beim Theatertreffen 2015
"Concerning Violence" - Dokumentarfilm von Göran Hugo Olsson basierend auf dem Essay von Frantz Fanon 
Keynote von Azadeh Sharifi  
Gespräch mit: Monika Gintersdorfer (Regisseurin), Sandrine Micossé-Aikins (Kuratorin), Azadeh Sharifi (Kulturwissenschaftlerin), Julia Wissert (Regisseurin) moderiert von Mekonnen Mesghena.

www.berlinerfestspiele.de

 

Mehr dazu: alle Texte zum Theatertreffen 2015 verzeichnet die Festivalübersicht.