Aus dem Wal geschnitten

von Alexander Kohlmann

Hannover, 16. Mai 2015. Ist das die erst jüngst beschworene Rückkehr des Realismus auf deutschen Bühnen? Eine große Wohnküche ist auf die Bühne des Hannoveraner Schauspielhauses gebaut. Hinter den Küchenfenstern hängen Blumentöpfe. Draußen regnet es Bindfäden. Das Wasser plätschert gegen die Fensterscheiben. Leider regnet es nicht gleichmäßig vom Bühnenhimmel, sondern aus unterschiedlichen Richtungen. Es ist eben immer noch gar nicht so leicht, einen filmischen Realismus auf der Bühne nachzubauen.

Der Albtraum eines nicht gelebten Lebens

Schon beim Einlass ist die in die Jahre gekommene Hausfrau Rebecca (Katja Gaudard) emsig beschäftigt. Trotz rosa gepunktetem Petticoat und blonder Wella-Frisur ahnt man die Falten. Die gute Laune beim Zubereiten des neuen Flunder-Rezeptes aber ist echt: Rebecca will sich nicht aus der Bahn werfen lassen, von einer Welt, die schon längst aus den Fugen geraten ist.

Doch die vom realistischen Setting im neuen Stück des amerikanischen Theater- und Drehbuchautoren Noah Haidle ausgelöste Erwartung eines typisch amerikanischen "well-made plays" löst sich nicht ein. Die Risse in Rebeccas heiler Welt werden im Laufe des Abends immer größer, bis ihr schließlich der ganze krampfhaft bemühte Traum vom glücklichen Leben um die Ohren fliegt. Und sich der Albtraum eines nicht gelebten Lebens seinen Weg in das Idyll frisst.

Mit dem Küchenmesser aus dem Inneren schneiden

Das beginnt schon, während Rebecca in der Küche fröhlich beste amerikanische Schlager trällert: Als sie zur Radio-Musik mitsingt, tritt eine zweite, junge Rebecca von der Seite auf die Bühne. Neben der Frau an der Spüle röhrt live die einstige Highschool-Queen, die ihr Leben noch vor sich hat. Bevor der Ehemann verschwand, um sein Glück zu suchen und der Sohn sich immer tiefer in seine Psychosen hinein fraß. Später sehen wir nicht nur eine, sondern immer mehr Abbilder dieser Rebecca in unterschiedlichen Altersstadien auf der Bühne staubsaugen, wischen und kochen. Geisterhafte Abbilder, deren Konturen hinter genau choreografierten Bewegungen und gespenstisch eingefrorenen Gesichtern verschwimmen. Ein wirklich magischer Moment ist das, in dem das Theater für den Augenblick tatsächlich mit den bewegten Bildern einer Leinwand-Montage mithalten kann.

homemaker 560 KatrinRibbe hSie wird ihren Sohn aus dem Wal schneiden: Katja Gaudard (Rebecca) © Katrin Ribbe

Dann öffnenen sich die Bühnenwände wie in einem Gemälde von Salvador Dalí. Ein riesiger Wal schiebt sich von der Hinterbühne majestätisch nach vorne. Aus seinem Bauch hören wir und Rebecca ein Rufen. Mit dem Küchenmesser schneidet sie den Riesen auf. Aus dem Inneren quillt nicht nur der Plastik-Müll der Weltmeere. Auch der verloren geglaubte Sohn (Philippe Goos) purzelt glücklich in ihre Arme. Da steht er nun mit lange, grauen Haaren und berichtet überdreht von seinen Abenteuern – bevor das Licht finster wird und kurz ein menschliches Wrack aufschimmert. Der Sohn entpuppt sich als nicht mehr ganz junger Mann, der in immerwährender Angst lebt vor dem nächsten psychotischen Anfall, der ihn in die Tiefe reißt. Einer, den die verzweifelte Mutter nicht jedes Mal aus dem Bauch des Wals retten können wird.

Mit dem rosa Regenschirm zerplatzt

Regisseurin Anna Bergmann verzichtet darauf, die surreale Vorlage von Noah Haidle zu dekonstruieren, sondern entwickelt auf der Bühne eine Welt der traumhaft verschobenen Bedeutungsebenen. Wie gut sie das kann, hat sie schon oft bewiesen, zum Beispiel in einer Horror-Version von Lessings "Miss Sara Sampson" im benachbarten Braunschweig. Ihr gelingt es wie wenig anderen Regisseur*innen immer wieder, eine erbarmungslos-subjektive Weltsicht ihrer vorzugsweise weiblichen Charaktere zu etablieren. Hinter den traumhaften Phantasmen verbergen sich fast immer große Verzweiflung und Trauer der vielfach gebrochenen Protagonistinnen.

Umso überraschender, als diesmal tatsächlich für ein Moment ein guter Ausgang in dieser "American Horror Story" schimmert. Als ganz zum Schluss der verschwundene Mann (Christoph Müller) aus dem Schnürboden im Anzug an einem rosa Regenschirm herab schwebt, findet sich sich das Paar zu Elvis' "Only You" zum schmalzigen Happy End. Bis die Blase zerplatzt und Rebecca alleine unter den funkelnden Sternen der Disko-Kugel zurückbleibt.

 

The Homemaker – Alles muss glänzen (UA)
von Noah Haidle
Deutsch von Brigitte Landes
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Claudia González Espíndola, Sounddesign: Heiko Schnurpel, Dramaturgie: Lucie Ortmann.
Mit: Lisa Natalie Arnold, Bea Brocks, Katja Gaudard, Philippe Goos, Christoph Müller, Oscar Olivo; Katharina Leocadia Klyk, Kim Kraul, Angelika Mollenhauer, Stephanie Röttger, Elena Sapega, Viktoria Kogan, Benita Weber.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Noah Haidle hat ein ganz erstaunliches Stück geschrieben, findet Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (18.5.2015). "Es ist sehr kurzweilig, aber auch von erheblicher Tiefe." Anna Bergmann setze in ihrer Inszenierung auf "Schauwerte und Tempo und Musik". Und das Stück, obgleich es starke Regieeinfälle "nicht unbedingt braucht", vertrage sie dennoch gut. Es fügt sich für den Rezensenten zu einem Abend, der "gleichermaßen zu unterhalten wie zu berühren vermag".

Für Jörg Worat ist es in der Neuen Presse (18.5.2015) "nur bedingt" ein gelungener Abend. "Das Thema der zerbröselnden heilen Welt ist so originell nicht", schreibt Worat, "und vor allem haftet dem durchgeknallten Reigen etwas Beliebiges an." Wer auf größere Bögen weniger Wert lege, der könne mit dieser Inszenierung vielleicht glücklich werden.

mehr nachtkritiken