Im Sog der Weltverlorenheit

von Claude Bühler

Zürich, 16. Mai 2015. Sehnsucht und Furcht müssen Autorin Judith Schalansky bewegt haben, als sie ihren "Atlas der abgelegenen Inseln" (2009) verfasste. Im Spiegel-Interview sagte sie: "Angefangen habe ich aus einer Art Kinderglauben heraus: Es muss doch irgendwo noch einen wirklich schönen Ort geben! Es kam etwas anders." Mehrheitlich ein Atlas des Grauens entstand. Viele der kurz umrissenen Anekdoten aus der Geschichte von 50 Inseln, die verstreut um den ganzen Erdball liegen, schildern das Scheitern und Sterben von Menschen an und in grausig unwirtlichen Verhältnissen. Dem beigefügt ist jeweils eine Karte der betreffenden Insel. Man betrachtet sie, als ob die Abbildung das Rätsel um das beschriebene Drama preisgeben könnte.

Daraus hätten andere eine szenische Revue gemacht. Regisseur Tom Schneider jedoch hat den Inselatlas nicht direkt umgesetzt, sondern ihn als Atlas der menschlichen Regungen fortgeschrieben. Dazu setzte er bei der Weltverlorenheit an und beim perspektivischen Sog, den die Inseln im Meer als Sehnsuchtsorte auslösen. Wie als Hinweis darauf wird uns beim Zutritt ein Feldstecher zugesteckt.

Einsamkeits-Blues

Vor uns liegt ein gänzlich schwarzer Raum, am hinteren Ende ein Guckkasten mit verheißungsvoll goldenem Rüschenvorhang. Hebt er sich endlich, folgt ein weiterer Guckkasten weiter hinten: In einer großen Pappschachtel blinkt einer liegend mit Taschenlampe wie ein Positionslicht, jemand in orangefarbenem Sturmzeug guckt mit dem Feldstecher (zu uns in der Ferne), einer kriecht ängstlich in die Ecke. Dazu Möwengeschrei ab Lautsprecher, Meeresrauschen. Sind sie in Seenot oder sind es Gestrandete?AtlasDerAbgelegenenInseln2 560 CasparUrbanWeber uFinsternisse, Positionslichter, Möwengeschrei: Judith Schalanskys "Atlas" in Zürich
© Caspar Urban Weber

In diese Erörterung bricht Marcus Signer als "Willi" lautstark durch den Seiteneingang herein, Typ Straßenkünstler, der hier nach der Gassenküche sucht, uns seine Skizzen verkaufen will, das dunkle Anfangsszenario sprengt; abgelegene Inseln findet man eben nicht nur im Atlas oder in den Weiten des Meeres, sondern mitten unter uns, ja, in uns selbst. Willi gibt einen Blues über seine Einsamkeit zum Besten.

Menschliche Abgelegenheiten

Auf kleinen Lichtinseln im dunklen Raum vor der Bühne winden sich danach die Drei aus der Pappkiste, flüstern Positionsangaben, röcheln vor Angst, geben Nottelegramme durch ("Hier lebt niemand – Stopp"), berichten von arktischen und antarktischen Inseln, Rauch fließt über den Boden, Wind rauscht, Gitarrensounds an der Feedbackgrenze verklingen, Steine kollern über den hohlen Holzboden. Ist das die Außenwelt oder das Innenleben? Das ist packend und atmosphärisch dicht: man sieht wenig, ahnt viel. Willi holt die Drei von der Spielfläche, legt prüfend seine Hand auf überhitzte Stirnen.

Unser Trio fläzt sich wie als Inseln vereinzelt in Liegestühlen, sie wissen kaum mehr, wie sie sich maximal entspannt darin räkeln können, bauen sich mit Scheinwerfern je ihre eigene Sonne hin, stöhnen wie "schön", wie "herrlich" es hier in der Öde ihrer Langeweile sei. Man lacht über Martin Butzke, der sich mit Klebeband eine Insel markiert, um da zu rauchen. Oder der an die vielen Namen von Ferieninseln, die er aufzählt, ein "war ich" anhängt. Sein Erkenntnisgewinn? Dass es 20 Marken von Badelatschen gebe. Man erschrickt über Janet Rothes abgelegene Neigung, wenn sie erregt erzählt, sie habe als Kind die Einzelheiten sämtlicher bekannt gewordenen Haiangriffe auswendig gelernt.

Kultur der Vereinzelung

Am Ende schließt Willi den Kreis, indem er den dunklen Raum vor uns lichtdicht verschließt, ein Loch bohrt und mit dem Camera obscura-Effekt die Inselhelden auf dem Kopf stehend von weitem winken lässt. So weit, so rund. Aber davor haben auch in einem Einschub drei Vögel (warum Vögel?) ein abgerissenes Rezital von Mahlers "Ich bin der Welt abhanden gekommen" dargeboten. Gut, sagt man sich, das zeigt ja schön, wie stark Vereinzelung in unserer Kultur verankert ist, ja sogar geadelt wird.

Und auch Nietzsches Text "Das Meer liegt bleich und glänzend da, es kann nicht reden" haben wir gehört. In Ordnung, es geht um Meer und Fernweh. Aber warum nicht auch noch was von Heine oder Goethe? Genau da liegt das Problem. Je weiter sich Schneider von Schalanskys Vorlage entfernt, also konkret, wenn die szenischen Inselschilderungen im ersten Teil zu Ende sind, desto mehr verliert die Aufführung die Kontur. Bei den Bruchstellen hängt sie durch. Die dargebotene Langeweile auf den Liegestühlen wirkt allzu bekannt. Der Sog der Perspektive als Leitmotiv wird aufgegeben. Auf einmal sind wir da in einem Themenabend mit austauschbaren Elementen. Schade um den vielversprechenden Anfang.

 

Atlas der abgelegenen Inseln
Schauspiel und Musik nach dem Buch von Judith Schalansky
Regie: Tom Schneider, Bühne und Kostüme: Moritz Müller, Musik: Thomas Jeker, Dramaturgie: Inga Schonlau.
Mit Simon Brusis, Martin Butzke, Thomas Jeker, Janet Rothe, Marcus Signer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

In Hannover hatte bereits der Schweizer Regisseur Thom Luz seine Version des Atlas der abgelegenen Inseln gezeigt (hier die Nachtkritik), die auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde (hier die Nachtkritik zum Berliner Gastspiel).

 

Kommentare  
Atlas der abgelegenen Inseln, Zürich: Imagination?
Kritiker sollten vor allem Besetzungszettel lesen können: Der Musiker heißt Thomas Jeker. Und warum alles erzählen, verraten? Weil Sie nicht besser, freier assoziieren und imaginieren können, Herr Bühler? Warum Vögel? Haben Sie dem Nietzsche Text denn zu gehört? Oder nur nach noch einem Text für Ihr Namedroping geschielt? Schade, daß die Zeiten von F.Luft vorbei sind. Schade um den hoffnungsvollen Anfang Ihrer Kritik, die es nicht schafft Kritik im konstruktiven, im Neugierde weckenden Sinn zu sein. Sondern - wie heutzutage leider sooft - selbstverliebt und eitel ist. Seid doch besser mal wieder Vögel...

(Vielen Dank für den Hinweis auf den Irrtum, wir haben den Namen des Musikers korrigiert. - jnm)
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