Zirkusdampfer der Selbstverbrennung

von Matthias Weigel

Berlin, 17. Mai 2015. Es sind Ausraster, die in die Geschichte eingehen. Worum es dabei geht, ist völlig Wurst. Schauspieler Ole Lagerpusch explodiert in einem einzigen langen Crescendo im Pingpong mit Sebastian Grünewald und Harald Baumgartner über die Streitfrage, ob es jetzt der Kreditnehmer oder der Kreditgeber ist, der eine Sicherheit braucht. Im Gebrüll geht es um das große Latinum, Steinewerfen in Frankfurt mit Joschka, wüste Beschimpfungen fallen, dazu unzählige verzagte Versuche, die Satzreihenfolge korrekt aufzusagen, sensationelle Situationskomik und lustvoll-verschwenderische Exaltiertheiten. Fast unmerklich geht es nach solchen Intermezzi wieder zurück zu Molières "Der Geizige", am Deutschen Theater Berlin von Martin Laberenz inszeniert, und Cléante hat den Kredit eingefädelt, den er braucht, um heimlich seine angebetete Élise zu ehelichen – um sie somit dem eigenen Vater, dem Geizigen, wegzuschnappen.

Völlig wahnsinnige Typen

Völlig wahnsinnige Typen scharen sich um einen drehbaren Bühnenkubus, der sich in der Mitte des Erdreiches erhebt: Ein geleckt-gehemmter Kaugummi-Sohn in Schlaghosen ist Ole Lagerpusch, zappelig brennend und plötzlich ganz erbärmlich leis', wenn er realisiert, dass der eigene Vater ihm die große Liebe wegschnappt. Dieser Geizige, gespielt von Michael Goldberg, ist ein verhinderter Bademantel-Dandy in seiner Phantasiewelt, ein lachhafter Borderline-Egozentriker, dem noch das Koks unter der Nase kleben könnte. Die Geldschatulle ist sein einziger perverser Schatz, den er im Schlamm versteckt – wo er sich deshalb auch selbst regelmäßig besudelt.

geizige1 560 arnodeclair hParade der Verausgabungskünstler: Meike Droste, Sebastian Grünewald, Anita Vulesica, Franziska Machens, Harald Baumgartner, Ole Lagerpusch © Arno Declair

Allesamt comichaft übertriebene Figuren, aus der Zeit gefallene Schablonen, die überprall gefüllt sind mit Blödelei und Selbstverbrennung. Der streberhafte Sebastian Grünewald hat als Maître Simon seinen Ausraster beim opportunistischen Valère (Andreas Döhler) und brüllt ihn minutenlang an: Warum er, Andreas, nicht deutlich sprechen könne, das Sächsische sei doch völlig unverständlich, er müsse sich mal anstrengen, sonst könne man ja gleich nebenan in die Box, die kleinste Spielstätte, gehen, die Kollegen bräuchten doch auch jemanden zum Anspielen, und er, Grünewald, müsse hier mit Gästevertrag alles allein reißen. Döhler steht daneben und lässt sich stoisch beschimpfen, grinst mal kurz breit ins Hemd, nimmt wieder Haltung an. Und weiter geht es. Und noch weiter. Und irgendwann packt Döhler seinen grölenden Kollegen und tunkt ihn in die Schlammgrube (mit der Geldkassette). Woraufhin sich der Besudelte aus Rache auf dem Sofa wälzt, dass Döhler als Valère gerade geputzt hatte – und schwupps, schon geht es wieder weiter im "Geizigen".

Die gigantischen Durchdreher sind zwar reine Selbstzwecke, aber mit Regisseur Labarenz umschifft das Ensemble eitles Schaulaufen. Die Schauspielheroen gehen vielmehr auf in einer saukomisch improvisierten, im besten Sinne nervtötenden Selbstverschwendung. Diese Verschwendung ist natürlich das Gegenmodell zum Geiz, aber ein Gegenmodell mit ähnlicher Logik: Sowohl Geiz wie auch Selbstverbrennung (auf der Bühne) ergeben rational gesehen überhaupt keinen Sinn, erfordern unnötige Opfer, sind so überflüssig und doch eine tief menschliche Zivilisationsleistung. Geiz als Verbrennung mit anderem Vorzeichen.

Auf großer Fahrt

Man weiß irgendwann gar nicht, auf wessen Auftritte man sich mehr freuen soll: Anita Vulesica ist eine legendäre Power-Heiratsvermitterlin namens Frosine, stapft im Minirock durch die Erde, wirft sich umständlich dem Geizigen um den Hals, verzettelt sich ungelenk, heult nach einem Geldvorschuss, bettelt, schreit, jammert, flüstert nach Geld, fällt in sich zusammen, gibt nur noch Laute von sich. Dieser infernalische Zirkusdampfer nimmt von jeder Seite immer und immer wieder an Fahrt auf, umschifft viele Klippen mit Volldampf. Wann explodiert nur das Maschinendeck? Oder wird vorher ein Hafen angelaufen? Wo liegt eigentlich nochmal das Ziel der Expedition?

Pause. Nach zwei Stunden.

Und weiter geht die Fahrt, nun ohne Bühnenpodest, nur noch auf Erde. Ab und zu rennt Grünewald in die Szene, schreit "Das muss doch weitergehen, das retardiert zu sehr", die Struktur wird offener, die Szenen zerfasern. Und dann ist da ja auch noch das Solo von Michael Goldberg, als geizigem Vater. Wie er seinem Sohn die Frau ausreden will, eine leisere, aber umso lustigere Wutimprovisation. Wie schwer er selbst es als Kind doch hatte, als er als Zweijähriger schon aufs Feld raus musste … und später dann, als ihn seine Frau verließ, noch bevor der gemeinsam Sohn geboren war (der vor ihm steht) … Studieren, das konnte er ja dann mit Kind auch nicht mehr!

Dass das letzte Viertel und der Schluss der Inszenierung offensichtlich nicht mehr ganz fertig geworden sind, ist da völlig zu verzeihen. Die gemeinschaftlichen Texthänger führen in der Premiere auch zu schönen Pointen. Und falls am Schluss noch weiter gearbeitet wird, kann man gleich nochmal hingehen. Lohnt sich, so oder so.

 

Der Geizige
von Molière
Aus dem Französischen von Frank-Patrick Steckel
Regie: Martin Laberenz, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Aino Laberenz, Dramaturgie: Anika Steinhoff, Live-Musik: The New Roman Empire.
Mit: Michael Goldberg, Ole Lagerpusch, Franziska Machens, Andreas Döhler, Meike Droste, Anita Vulesica, Sebastian Grünewald, Harald Baumgartner.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.deutschestheater.de

 

Molières "Der Geizige" lief in Berlin zuletzt an der Volksbühne in der Regie von Frank Castorf. Jan Bosse brachte 2010 PeterLichts Neuschreibung "Der Geizige. Ein Familiengemälde" am Maxim Gorki Theater heraus.

 

Kritikenrundschau

Dem Regisseur scheine es nicht darum zu gehen, dass sein "Geiziger" selbst geil wird, so Peter Zander in der Berliner Morgenpost (19.5.2015). Die Schauspieler spielen mit körperlichem Dauereinsatz: "spillerig, hypernervös, außer Atem", dürfen auch wiederholt aus ihrer Rolle treten, "dürfen über Joschka Fischer und '68 witzeln, sich sogar über das Spiel des Kollegen echauffieren. Das sei teils hinreißend improvisiert, manchmal sogar amüsant, aber mit Molière habe das nichts mehr zu tun. Neue Einsichten verschaffe es auch nicht. "Der jungenhafte Zuschauer neben uns amüsiert sich prächtig. Der prominente Linke-Politiker vor uns verzieht dagegen kaum eine Miene und hält es wie der Großteil des Publikums. Dieser 'Geizige' ist nicht geil. Man muss auch nicht knauserig sein, wenn man sich den Abend spart."

"Nein, es ist nicht alles schlecht in dieser Aufführung und manches gelingt mit Slapstick und Witz", so Irene Bazinger in der Berliner Zeitung (19.5.2015), "bloß traut Martin Laberenz weder seinem Talent noch Molières Genie." Deshalb lasse er die Akteure den Theaterbetrieb aufs Korn nehmen oder hysterisch aufgekratzt über Kollegen herziehen. "Im DT versucht man es also ein bisschen im Volksbühnen-Stil, kommt dabei indes über den eigenen Bauchnabel nicht hinaus. Die spießig aufgerüschte Inszenierung hat vor allem qualvoll schwere Füße und fällt bald in die Grube, die sie sich selbst gegraben hat – und darin ist wahrlich alles andere als Gold."

 

Kommentare  
Der Geizige, Berlin: Tiefe und Witz
Ja!

Einfach nur großartig: Tränen lachen und angerührt werden, Tiefe und Witz. Mein bestes Theatererlebnis seit Jahren.
Der Geizige, Berlin: unfassbar toller Abend
unfassbar toller abend, schließe mich an : tiefe und humor gleichermaßen. tolle bühne und sehr tolle musik zudem!
Der Geizige, Berlin: Verweigerung ökonomischer Vernunft
Martin Laberenz zeigt die Geburt des Wutbürgers aus der selbstgemachten Verunsicherung, in dem er die Mechanismen des täglichen Lebens bis zur Kenntlichkeit verzerrt. Im Programmheft ist in einem Text von Georges Bataille von der Verausgabung die rede. Und nein: Der Abend geizt nicht, er verschwendet und such seine Wahrheit in genau dieser Verweigerung vermeintlicher ökonomischer Vernunft. Hier ist nichts ökonomisch, nichts vernünftig und schon gar nichts effizient. “Man muss doch mal fort von der Stelle,” fleht Grünewald, “sonst retardiert das doch!” Doch es ist gerade diese in der Dauerüberdrehung angelegte Ausbremsung linearen Voranschreitens, in dem der Abend vollends zu sich findet – als vermeintlicher Selbstzweck, als pures an sich scheiterndes Theater, das in eben diesem Scheitern seine Bestimmung, seine Wahrheit findet inmitten einer Welt, die genau das tut, ohne es sich eingestehen zu wollen. “Der Abend hätte so schön sein können!”, wirft Grünewald Köhler in seiner Tirade entgegen. Groß ist er zumindest geworden.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/05/21/der-abend-hatte-so-schon-sein-konnen/
Der Geizige, Berlin: nicht helfen
"Doch es ist gerade diese in der Dauerüberdrehung angelegte Ausbremsung linearen Voranschreitens, in dem der Abend vollends zu sich findet – als vermeintlicher Selbstzweck, als pures an sich scheiterndes Theater, das in eben diesem Scheitern seine Bestimmung, seine Wahrheit findet inmitten einer Welt, die genau das tut, ohne es sich eingestehen zu wollen." - Ich kann mir nicht helfen, lieber Herr Krieger, aber für mich sind das Phrasen.
Der Geizige, Berlin: plump und zu lang
Ich war am 20.10. in der Vorstellung "Der Geizige".
Ich kann es nicht weiterempfehlen. Leider vertraut hier niemand dem "original" Moliere-Text. Die Improvisationen der Schauspieler haben nichts mit der Handlung zu tun und erzählen darüber hinaus nicht viel. Der Abend war für mich nicht humorvoll und leicht sonder ganz einfach plump und ungefähr eine Stunde zu lang! Schade!
Der Geizige, Berlin: Notiz vom Übersetzer
Ich habe, das kann ich versichern, diesen Moliére so original wie irgend möglich, übertragen - allerdings unter dem Titel DER GEIZHALS, welcher dem Theater zu altmodisch erschien.
Der Geizige, Berlin: reiner Genuss
Unglaublich amüsant! Endlich wieder humorvoll-energiereiches Theater, viel witzige Selbstdarstellung, egal wie weit weg von Molieres Original. Hätte Moliere mit ach so alten Texten und ach so anspruchsvollen Themen wie dem Geiz nicht Dasselbe gemacht? Ole Lagerpusch: Energie und Variationen pur, ein reiner Genuß!
Der Geizige, Berlin: nur für uns
Wie ein Rumpelstilzchen tobt Sebastian Grünewald über die Bühne und äfft den Kollegen nach. Andreas Döhler sei kaum zu verstehen, sein ganzes Auftreten nur peinlich und für die Große Bühne völlig ungeeignet. Bei Ensemble-Mitglied Döhler reiche es nur für die Box. Und Grünewald als Gast müsse es dann wieder ausbaden und es herausreißen, damit der Abend nicht scheitert.

Diese Einlage ist tatsächlich handwerklich gut gemacht: das Timing stimmt, die Pointen sitzen, während sich Grünewald immer weiter in Rage redet.

Während der restlichen drei Stunden wird auch noch ein bisschen Molière gespielt. “Der Geizige” erschöpft sich jenseits der genannten Nummern in viel Slapstick und manchem Leerlauf.

Ole Lagerpusch fasst das Konzept des Abends kurz vor Schluss gut zusammen: Nein, wir machen das nicht für euch. Wir machen das nur für uns. Weil es uns Spaß macht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/04/25/der-geizige-von-moliere-am-deutschen-theater-mit-wenigen-pointen/
Der Geizige, Berlin: Verwunderung
und sie haben nicht gelacht? und waren nicht bewegt? und spürten keine kraft der schauspieler,die sie auch bewegt? naja dann kann man nichts einwenden!
Der Geizhals, Berlin: um ihr Leben spielen
In der Tübinger Provinz habe ich das Beben dieser Inszenierung 2015 leider nicht wahrgenommen. Kurz und begeistert: Das ist Moliere "pur": das Publikum anmachen, Zoten in Wort-und Körpersprache, Seitenhiebe auf das hohe Theater, zu seiner Zeit Racine, Corneille, heute die große Bühne des DT,die Anleihe-burlesk,grotesk- bei der Commedia del arte...und Schauspieler/innen, die um ihr Leben spielen!!! Unglaublich. Danke! Ich habe im Halbdunkel ein paar Skizzen gemacht und werde diese in meinem blog "art77blog.axel-von-criegern.de" zusammen mit diesen Zeilen veröffentlichen.
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