Die Verschnuckelung des entfremdeten Lebens

von André Mumot

Berlin, 18. Mai 2015. Ist doch alles gar nicht so schlimm, möchte man sagen. Es hat doch so vieles zu bieten, das Theater der Gegenwart. So viel Schönes. Nicht nur Verspieltes, auch Wahres. Auch Realität. Sogar, fürs politischere Publikum, Klassenbewusstsein. Erst kürzlich haben die Performerinnen von She She Pop Stuttgarts Theaterangestellte auf die Bühne gebracht und sie über ihre Arbeitsbedingungen sprechen lassen. Und Rimini Protokoll bringen die Realität unserer Welt doch nun schon seit Jahren auf die Bühne, mit Experten des Alltags, die verlässlich Tacheles reden über die Verhältnisse ihres Daseins. Aber? "Will man etwas über die Entfremdung der Verkäuferin erfahren", sagt Bernd Stegemann, "ist gerade die Verkäuferin die am wenigsten geeignete Person, Entfremdung auf einer Bühne zu zeigen."

Lob des Realismus StegemannEr gibt keine Ruhe. Nachdem der sendungsbewusste Schaubühnendramaturg und Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" 2013 die "Kritik des Theaters" vorgelegt hat, bringt er nun sein "Lob des Realismus" heraus. Nach dem wuchtigen Wälzer ein bescheideneres Taschenbuch, das erst einmal aussieht, als biete es nur einige zusätzliche Marginalien. Weit gefehlt. Bernd Stegemann hat seiner weitschweifigen Empörung über die Oberflächlich- und Selbstgefälligkeiten des zeitgenössischen Theaters eine weitaus konzisere Konkretisierung nachgeschoben, in der er noch einmal unterstreicht, dass die "Mittel der Subversion wie das Authentische, die Ironie und die ironische Authentizität schon seit längerer Zeit zu gängigen Waren geworden sind."

Für Stegemann ist klar: Das postmoderne und postdramatische Theater, das unentwegt betont, dass es sich keinen umfassenden Blick über seine Themen anmaßen dürfe und demonstrativ die eigene Begrenztheit mitreflektiert, ist zur beherrschenden Form auf deutschsprachigen Bühnen geworden: "Nur ein Ereignis, das sich selbst ein Bein stellt, ist ein künstlerisch zeitgemäßes." Damit aber entsteht für den Autor zugleich ein achselzuckend überfordertes Einverständnis mit den gegeben Verhältnissen, sodass sich eine auf den ersten Blick paradox erscheinende historische Ironie ergibt: "Der Vorwurf gegen den sozialistischen Realismus, parteilich und funktional zu sein, hat sich inzwischen im kapitalistischen Realismus verwirklicht."

Zu Maxim Gorki und Georg Lukács schaut er zurück, analysiert die Entwicklungsformen der realistischen Kunst und umkreist vor allem das vorbildlich dialektische Verfahren von Brechts epischem Theater, um dann immer wieder der Gegenwart ihr künstlerisches Unvermögen als affirmative Zeitgenossenschaft vorzuwerfen. Was er in hübsch gestelzter Altväterlichkeit die "Verschnuckelung des entfremdeten Lebens" nennt, erscheint als egomanischer Spieltrieb des Theaterbetriebs: "Die Feier des sich befreit ausdrückenden Subjekts (...) bildet das künstlerische Pendant zur Ideologie des Kapitalismus, in der der Einzelne im Wettbewerb steht, ohne jemals das Ganze begreifen oder verändern zu können."

Der gute Realismus hat den kalten Blick

Es ist, als wolle er mit manischer Chefredakteursstrenge "Fakten, Fakten, Fakten" einfordern, wo alle nur mit Unschuldsmiene von perspektivischer Relativität reden. Dabei hat Stegemann gerade für die Strategien des Dokumentar- und Alltagsexpertentheaters, für die "viel größere Lüge des Authentischen" wenig übrig, würden hier doch immer nur Einzelfälle präsentiert und sentimental aufbereitet. Zudem teilt er in diesem Zusammenhang noch kräftig aus gegen die "neuen Sprach- und Darstellungsverbote" der Political Correctness, passe doch "das PC-Sprechen ebenso zur postmodernen Subjektivität wie zum religiösen Fanatiker. Beide verweigern die Arbeit am politischen Bewusstsein oder an rationalen Argumenten und setzen an deren Stelle ihr authentisches Gefühl."

Was so erbittert daherkommt und sich wieder einmal liest wie ein unwirsches politisches Traktat, hat also vor allem ein Ziel: die Stärkung einer Autorschaft und eines Theaters, das es sich zutraut, gesellschaftliche Wirklichkeiten in ihrer Komplexität und ohne vorgeschobene Ohnmacht zu analysieren und zur Darstellung zu bringen, um eine Publikumsgemeinschaft derjenigen zu ermöglichen "die aufgrund eines ästhetischen Erlebens die reale Umwelt mit anderen Augen sehen." Der gute Realismus ist also kein illusionistischer, sondern ein dialektischer, einer, der "den kalten Blick" einsetzt.

Von der Kritik an der "Kritik" scheint Stegemann jedenfalls nicht unberührt geblieben zu sein. Statt wie im prallen Vorgängerwerk all dies rein akademisch abzuhandeln, zieht er im "Lob des Realismus" nun ganz konkrete Praxis-Beispiele heran, beschäftigt sich ausführlich (wenn auch ohne klares Urteil) mit Elfriede Jelineks "Kontrakte des Kaufmanns" und sogar mit Polleschs "Kill your Darlings! Streets of Berladelphia". Hier kann er sich das Zugeständnis einer gewissen Bewunderung nicht verkneifen, findet aber am Ende für die performative "Feier der Ambivalenz" doch nur wegwerfende Gesten: "Daher ist die diskursiv getunte Gemeinschaftsverweigerung bei Pollesch die zeitgemäße Form der Gemeinschaftsbildung für eine westeuropäische Großstadt. Man versteht sich über die geteilten ästhetischen Unterschiede und anerkennt sich für die Qualität des unendlichen Unterscheidungsvermögens."

Die Renaissance der Vierten Wand

Es mutet dann doch ein wenig kurios an, dass der Schaubühnen-Dramaturg Stegemann eine vorbildliche Theateraufführung ausgerechnet in der Schaubühnen-Produktion von Ibsens "Volksfeind" und der dortigen Verschiebung der Vierten Wand zwecks Publikumsdiskussion begreift, die "gerade nicht den avantgardistischen Schock benötigt", sondern das Gegenteil: "Es braucht die Konkretion des Realismus, um auf diesem Fundament eine Debatte über die Realität führen zu können."

Polemisch ist das alles und insofern unfair, als dass Stegemann es nach wie vor kategorisch für unmöglich hält, in ironisch gebrochenen Spielformen brauchbare Erkenntnisse über die Zusammenhänge unserer Welt zu Tage zu fördern. Zugleich jedoch erscheint sein Querulanten-Furor als überfällige Aufstörung. Man muss nicht in seine oft verschwurbelte Klassenkampfrhetorik einsteigen, um einzusehen, dass sich komplexe, nicht von Ressentiments gesteuerte und von Ironie verwässerte Wirklichkeitsdurchdringungen eher selten auf den deutschsprachigen Bühnen finden lassen.

Tatsächlich ist Stegemanns Pamphlet also weniger konservativ, als es vielleicht den Anschein hat, träumt es doch ganz utopisch (und geradezu unschuldig) von einer Kunst der nicht nur behaupteten, sondern konstruktiven, gesellschaftsverändernden Relevanz. Ob die sich nun wirklich finden lässt in einer Rückkehr zu realistischeren Darstellungsformen (oder in einer Feier von Schaubühnen-Ästhetik), bleibt auch diesmal anzuzweifeln. Um sie aber überhaupt zu verwirklichen, muss, das weiß Stegemann, klein angefangen werden, mit Feststellungen, die selbstverständlicher sein sollten, als sie es in der hochfahrenden Intellektualisierung der Diskurse sind: "Es gibt eine Realität, und wir können versuchen, sie zu verstehen."

 

Lob des Realismus
von Bernd Stegemann
Verlag Theater der Zeit, Berlin 2015, 212 Seiten, 18 Euro

 

Bernd Stegemanns Kritik des Theaters besprach André Mumot im September 2013 für nachtkritik.de

Die Buchvorstellung von Lob des Realismus in der Berliner Akademie der Künste am 13. Mai 2015 hat Regisseur und Autor Kevin Rittberger zu einer Polemik provoziert. Auf seine Kritik der Veranstaltung antwortet Schriftstellerin Kathrin Röggla, die mit auf dem Podium saß.

 

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