Missversteht euch!

von Wolfgang Behrens

19. Mai 2015. Ich gehe ja übrigens nicht mehr zu den Publikumsgesprächen beim Theatertreffen. Ich möchte nicht sehen, wie Kritiker*innen als Moderatoren oder Juroren den Kuschelkurs fahren ("Für mich war das die beste Aufführung des Festivals – wie sehen Sie das als Regisseur?") oder wie sie – schlimmer noch – den Produktionsdramaturgen spielen ("Ich habe die Aufführung als ganz große Metapher für die ausgebrannte Gesellschaft gelesen. Liege ich da richtig?"). Ich möchte nicht hören, wie Schauspieler*innen wie Fußballer antworten ("Wie haben Sie die Rolle angelegt?" "Also ich hab' die Rolle einfach so gespielt! Ich hab' da nicht groß nachgedacht ..."), und ich möchte nicht erleben, wie sich Regisseur*innen als nette Menschen präsentieren ("Man hätte das auch ganz anders inszenieren können, aber ich hab's halt so gemacht."). Ich muss und will nicht dabeisein, wenn sich das Theater in seiner ganzen betriebsnudeligen Harmlosigkeit offenbart.

Feste der Aufgeblasenheit

Als ich noch ein Zuschauer war, da war das – naturgemäß – etwas Anderes. Da drückte man sich noch nicht verdruckst im oberen Foyer der Freien Volksbühne herum, sondern wurde repräsentativ im Spiegelzelt (das etwa so aussah wie heute die "Bar jeder Vernunft") empfangen. Da trafen dann Juror*innen, die die Weisheit mit Löffeln gefressen hatten – ein paar davon gibt's heute noch –, auf Regisseure (meist ohne *innen), die ihre Verweigerungshaltung wie eine Monstranz vor sich hertrugen. Was waren das für Schlachten des Missverstehens und Nicht-Verstehens, was für Feste der Aufgeblasenheit, was für ein clash of vanities!

kolumne wolfgangWie ungemein bereichernd war jenes Gespräch, in dem der alte George Tabori konsequent eine halbe Stunde lang auf jede Frage hin nuschelte: "Entschuldigung, ich habe die Frage nicht verstanden, ich habe mein Hörgerät im Hotel vergessen." Wie toll war es, als Johann Kresnik anlässlich des Gastspiels seiner Choreographie "Wendewut" von einer Frau mit blonden Haaren im Publikum vorgeworfen bekam, es sei anmaßend, dass er als Österreicher stellvertretend die Sache der Ostler verhandeln zu müssen glaube. Von da ab wehrte Kresnik alle Fragen vom Podium brüsk ab und schrie wie angeschossen zu Beginn jeder weiteren Stellungnahme den Halbsatz: "Wos i no' zu der blonden Dame sogen woit' ...".

Und wie schön war es, als beim Gastspiel von Sarah Kanes "Gesäubert" die Schauspielerin Gabi Herz auf die gleich eingangs gestellte Frage, wie denn diese ihre erste Zusammenarbeit mit Peter Zadek gewesen sei, antwortete, dass dies mitnichten ihre erste Zusammenarbeit mit Zadek war, und der unvergessene Ulrich Mühe daraufhin die Lippen schürzte, um im genüsslich ausgekosteten Triumph über die Jurorin leise hervorzugiften: "Schschschon falsch!"

Von Kotzbrocken und Drecksäuen

Hach, wie großsprecherisch in ihrer Belanglosigkeit, wie böse mit ihren Profilierungsbedürfnissen waren doch diese Publikumsgespräche, als ich noch ein Zuschauer war! Nur der ultimative Kampf der Kotzbrocken hat leider nie stattgefunden, weil der Regisseur Einar Schleef schon ein paar Stunden vor dem Publikumsgespräch zur "Sportstück"-Inszenierung seiner eigenen Laudatorin Sigrid Löffler bei der Verleihung des 3sat-Preises mündlich einen vor den Latz knallte, weil diese ihm einige Jahre zuvor schriftlich einen vor den Latz geknallt hatte. Löffler sagte das Gespräch daraufhin ab – schade, schade, da wären die Eitelkeitsfetzen nur so geflogen!

Nebenbei gesagt: Ich bin dann in diesem Jahr doch einmal zu einem Publikumsgespräch gegangen, nämlich zu dem zur unverheirateten von Ewald Palmetshofer, inszeniert von Robert Borgmann. Und wer hätte das gedacht? Da war doch tatsächlich ein Dramaturg, der schon auf die erste Frage angepisst reagiert; da war eine Schauspielerin, die dem Moderator vorhält, er rede unverständliches Zeug; da war ein Regisseur, der die "Künstlichkeit" seiner Aufführung, die ihm jemand vorwirft, mit dem Hinweis verteidigt, im Dritten Reich habe man Kunst wie die seine mit dem Etikett "entartet" belegt – und plötzlich fällt aus dem Publikum gar das Wort "Drecksau!" Holla, denke ich, da geht ja noch was. Und bin selig.

 

Zuvor schrieb Wolfgang Behrens in seiner Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war über die Coolness der Theatertreffenkarten-Vorverkaufsschlange, über einen handgreiflich ausgetragenen Urheberrechtsstreit und seinen Hass auf junge Leute.

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Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war

Wolfgang Behrens

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 am Staatstheater Wiesbaden tätig - zunächst als Dramaturg, inzwischen als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

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