Das Kohlhaas-Prinzip – Yael Ronen denkt mit ihrem Ensemble am Berliner Gorki Theater Kleists Novellenstoff für die Gegenwart
Kohlhaas Global
von Anne Peter
Berlin, 23. Mai 2015. Die Welt steht in Flammen. Die Kontinente brennen. Vor der in Brand gesteckten Weltkarte krümmt Thomas Wodianka sich übers Mikro, schießt seinen augenaufrissig-wütigen Wodianka-Blick ins Publikum, krächzt Paint it black! und würde wohl jeden Mick-Jagger-Überbietungswettbewerb gewinnen. Mach schwarz die Welt, die in Arglist versunken ist! Was einst zur Anti-Vietnam-Kriegs-Hymne taugte, fetzt hier und jetzt als Kleist-Revival-Song. Rock it, Kohlhaas!
Benachteiligungsklischee-Kanonade
Die Geschichte jenes gerechtigkeitsfanatischen Rosshändlers Michael Kohlhaas ist es, von dem aus dieser ideenschäumende, spielfreudesprühende und heftig beklatschte Abend im Berliner Gorki Theater Anlauf nimmt. Nach ihrer gefeierten Balkankriegs-Auseinandersetzung Common-Ground und der vergleichsweise nabelbeschaulichen Großstädter-Sex-Talkshow Erotic Crisis tänzelt die Hausregisseurin und unerschrockene Konfliktzonen-Bezwingerin Yael Ronen mit "Das Kohlhaas-Prinzip" wieder in Richtung Großthema: Gerechtigkeit, Rache, Selbstjustiz.
Brandstifter oder Feuerwehrmann? Kohlhaas-Variante von Thomas Wodianka
© Ute Langkafel | MAIFOTO
Und wie so oft gelingt es ihr aufs Leichtfüßigste, das sich politisch gebärdende Theater in seinem Relevanzbemühen gleichzeitig zu verfertigen und selbstironisch auf die Schippe zu nehmen. "Vielleicht sollte ich etwas sagen, was 'ne wirkliche Bedeutung hat", räsoniert Dimitrij Schaad zu Anfang in einem scheinbar hinimprovisierten Monolog. "Wir sollten mal aufbegehren, wir sollten wütend werden!" Um kurz darauf seine Kollegen mit einer Kanonade aus schlimmsten Benachteiligungs-Klischees zu überfallen: "Jerry, wenn ich du wäre, ich wäre so sauer! So ein behinderter Schwarzer in diesem Land! Du musst ja andauernd diskriminiert worden sein."
Kohlhaas, der Fahrrad-Händler aus Friedrichshain
Nachdem Ronen einen derart am eigenen Vorurteilsschlafittchen gepackt und die moralischen Messlatten des Zuschauers schon gleich zu Beginn durcheinanderrüttelt hat, steigt Wodianka mit Pappsteckenpferd und ältertümelnder Perücke in die moralisch ebenfalls höchst schwierig zu sortierende Geschichte des Rosshändlers Kohlhaas ein und verwandelt sich flugs in einen Schrotthändler ... Fahrradhändler ... "Entrepreneur für elektrische Fahrräder".
Die zusammenkonstruierte, sich lose an Kleist-Parallelen entlanghandelnde Story, die von den fünf Spielern kollektiv erzählt wird, dreht sich um Wodiankas ökologischen Zweirad-Revolutionär, der samt (Puppen-)Sohnemann von dem mit Vitamin B vollgepumpten Milliardärssöhnchen Hajo von Tronka (Schaad schön kotzbrockig) über den Haufen gefahren wird. Er fordert Ersatz für sein zerschrottetes E-Bike samt Entschuldigung und wird vom Rechtsstaat ob massiver Korruptionsverfilzung ähnlich gefoppt wird wie Kleists Gewährsmann im 16. Jahrhundert von der adeligen Willkür.
Wutbürger, Justizopfer, Flüchtling, Terrorist
Gekreuzt wird das mit einer weiteren Kohlhaas-Variante um den palästinensischen Käsehändler Michail (in mehreren Rollen groß in Form: Taner Şahintürk), der von israelischen Grenzsoldaten schikaniert, um sein Auto gebracht wird und schließlich in Deutschland Asyl beantragt – wo sein Verfahren vorbei ist, bevor es angefangen hat, weil er nicht in dem ihm zugewiesenen Asylbewerberheim bleiben will, das von Neonazis belagert wird. Während der eine Kohlhaas aus Prinzip zum Terroristen wird, versucht der andere, aus existentieller Notwendigkeit heraus die eigene Haut zu retten – welch Luxusproblem ist die Fahrerflucht im Vergleich zum illegalen Flüchtlingsdasein. Oder? Ist Wodiankas Kohlhaas jener Wutbürger, der seinen Hintern nur hochkriegt, wenn's vor der eigenen Haustür ungemütlich wird?
Heike Schuppelius' Bühne besteht aus einem Haufen hingeworfener Auto- und Fahrradteile, die für windeseilige Spielsituationen diverser Art taugen. Mal bebildern die Autotüren den Stau vor dem Checkpoint, mal wird eine als Anwaltsschreibtisch aufgebockt. Stimmungsverstärkend wirken Hanna Slaks Videobilder und die tolle Soundspur, die Nils Ostendorf von den Stones über Elektro bis in rachelustige Western-Gefilde legt. Und dann wimmelt es auf der Bühne noch von schwarzen Raben, die als Metapher aller Erniedrigten und Beleidigten und als "invasive Spezies" speziell die Flüchtlingsproblematik ins aggressive Bild fassen.
Bitterer Ernst mit Amüsement-Faktor
Der Plot dient dabei vor allem Gerüst, an dem alle erdenklichen Gegenwartsprobleme und -problemchen in Form kabarettistisch zündender Kabinettstücke aufgehängt werden, in denen sich die Schauspieler karikierend durch verschiedene Rollen brillieren. Kohlhaas selbst ergeht sich zeitgemäß rechtschaffen im mülltrennenden Biobürgertum, protestiert als Stehender Mann vom Taksim-Platz, startet später eine Facebook-Kampagne, die nach seinem ersten Bombenanschlag auf das Soho-House 15.000 Likes zählt, während Attac und Blockupy via Twitter gratulieren und Spieler mit Guy-Fawkes-Masken durch den Bühnennebel robben. Ein assoziationsseliges Protestbewegungs-Potpourri mit hohem Wiedererkennungs- und entsprechendem Amüsement-Faktor.
Und doch schafft Ronen es, den Zuschauer Kohlhaas gegenüber in ein beständiges Hin- und Hergeworfen-Sein zwischen Identifikation und Distanzierung zu bugsieren. Bei all dem Herumgewitzel scheinen die aus Mai-Manifesten und Papstreden ersampelten Sätze wie "Die gegenwärtige Krise ist kein natürlicher Unfall!" und "Baut eine bessere Welt!" bitter ernst gemeint und gleichzeitig Ausdruck davon, dass alle Protestformen, alle Rebellenposen längst erprobt, bloß Zitat sind – und die Welt noch immer dieselbe ungerechte ist. Die Erkenntnis, dass auch unser Rechtsstaat heute von Vetternwirtschaft und Bestechlichkeit durchschlupflöchert ist, ist zwar keineswegs neu, aber immer noch erschreckenswert. Es ist jedenfalls längst auch unsere Hütte, die da brennt.
Das Kohlhaas-Prinzip
von Yael Ronen und Ensemble, frei nach Heinrich von Kleist
Regie: Yael Ronen, Bühne: Heike Schuppelius, Kostüme: Miriam Marto, Musik: Nils Ostendorf, Video: Hanna Slak, Licht: Hans Fründt, Puppenbau und Coaching: Ulrike Langenbein, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Jerry Hoffmann, Cynthia Micas, Taner Şahintürk, Dimitrij Schaad, Thomas Wodianka.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, ohne Pause
www.gorki.de
Eine blitzgescheite, wirbelnde Performance über Political Correctness und Klischee-Zuschreibungen sei das, so André Mumot auf Dradio Fazit Kultur vom Tage (25.5.2015). Ob Deutschland die bestmögliche aller Welten sei, diese Frage werfe das Ensemble schon zu Beginn der Premiere im Berliner Gorki-Theater auf. "Grandios ist das, absolut hinreißend – besser noch im Grunde als das, was kaum weniger virtuos darauf folgt". Es fehle das verzweifelte, selbtsironische, lösungslose Hin und Her, "dafür setzt es umso mehr Aktion und Humor, jede Meneg kurzweilige Momente, in denen das feuereifrige Ensemble nur allzu gern seine Glanzstücke abliefert. Pralles, hyperaktives Volkstheater ist das – so mitreißend, dass einem schwindlig werden könnte."
"Ronens theaterselbstkritischer Humor ist wahrscheinlich die klügste Haltung, wenn es darum geht, mit derben Zügen, mit Anklängen ans Kabarett aus dem Kleistschen 'Kohlhaas' Bauanleitungen für zeitgenössische politische Revolten zu entwerfen", findet Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (24.5.2015). Sie benutze das Stück als dramatisches Skelett, dem sie ein heutiges Themenkostüm überwerfe und lasse in der Frage nach der biografischen Legitimation von gewalttätigem Widerstand ihre israelisch-palästinensische und ihre deutsche Lebenswelt aufeinandertreffen. "Als Politkabarett, lustig buntes und ziemlich lautes Sittenbild und mit Schauspielern in einer revoluzzenden Jungmännerpose, wie es so nur am Gorki zu sehen ist."
"Yael Ronen, die ihre Stücke stets zusammen mit den Schauspielern entwickelt und dabei auch diesen kreativen Prozess mitreflektiert, hat die diesmal die Pferde durchgehen lassen", meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (26.5.2015). "Weil so viele Funkenflug-Einfälle und verblüffende Querschläger rübergebracht, so viele verschiedene Typen karikiert werden müssen und darüber hinaus auch noch alle Nase lang das sperrige, aus illustrativem Schrott bestehende Bühnenbild kompliziert umzubauen ist, bleibt wenig Raum für Figuren, Spiel und moralische Irritation." Bei aller fantastischer Überfrachtung und bei aller verzweifelten Albernheit sei zu verbuchen, "dass die Inszenierung in dem Drang, alles auf einmal zu erzählen, auf dass des Zuschauers Nerven explodieren, doch ziemlich nah bei Kleist landet."
Gar nicht amüsiert ist Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.5.2015): Ronen schmeiße sich mit ihrem fünfköpfigen Ensemble schamlos ans Publikum heran und setze voll auf ökologisch-populistische Comedy. Am Ende versinke "das biologisch-dynamische Gutmenschentum, mit dem Kohlhaas bei Yael Ronen in knapp zwei Stunden abgespeist wird, in saurem Kitsch – und in rührseligem Studententheater, in dem viel geulkt, aber wenig gedacht, viel gebrüllt, aber wenig gespielt wird: Klamauk ja, Kleist kaum".
Anders als in "Common Ground" arbeite Ronen beim "Kohlhaas-Prinzip" nicht mit den Biografien der Schauspieler, sondern werfe gemeinsam mit ihnen bewusst alles umstandslos in den "Kohlhaas"-Topf, was so an Ungerechtigkeitsstereotypen und Widerstandsposen im zeitgenössischen Bewusstsein herumschwirrt, berichtet Christine Wahl im Tagesspiegel (26.5.2015). Ihr Fazit: "Wohl war: Wohl dem, der Widerspruch und Revoluzzer-Pose, Protest und Protestfolklore anno 2015 auseinanderzudividieren vermag!"
Ronen verstehe sich darauf, sich hochpolitischen Stoffen mit Leichtigkeit und Selbstironie anzunähern, so Mirja Gabathuler in der tageszeitung (26.5.2015). "Die Kernfragen von Kleists Novelle verlieren durch die bewusst eingesetzten ironischen Brechungen aber nicht an Sprengkraft, scheinen die Zuschauer dadurch sogar unvermittelter zu treffen."
In der Süddeutschen Zeitung (27.5.2015) schreibt Peter Laudenbach: "Die Inszenierung gibt sich diffus radikal – sie bedient aber nur die üblichen Ressentiments. Dass der Abend als gekonnt inszenierte Farce, als fröhlicher Klassenkampf-Boulevard trotzdem funktioniert, verdankt er der tollen Spielfreude der Schauspieler." Selbstironie werde zur Selbstfeier und das Spiel mit der Authentizität zum Kalauer. Ziemlich platt sei der " Versuch, die Klassengesellschaft im Straßenverkehr zu entdecken oder den Rechtsstaat mit feudalen Herrschaftsverhältnissen gleichzusetzen." Es gehe auch nicht um etwas anderes als um "eine Bebilderung von Klischees, der Kleist höchstens als Stofflieferant dient".
Nach einem furiosen Auftakt geht dieser Abend für Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (30.5.2015) nicht recht auf. Ronens Kohlhaas kenne "einzig irdische Ungerechtigkeit. Was bei Kleist ein aufschlussreich unlösbarer Konflikt ist, wandelt sich bei Ronen zum knalligen Prinzip. Es lautet: Aus Ungerechtigkeit erwächst Fanatismus, Gewalt, Mordbrennerei." Der Held des Abends sei "hauptsächlich damit beschäftigt, wider das Gefängnis seiner eigenen Prinzipienreiterei zu wüten statt gegen die Ursachen der Ungerechtigkeit. Er wird zum Genarrten der gesellschaftlichen Verhältnisse – und der Zuschauer bleibt schlicht Voyeur einer schön anzuschauenden Entsetzlichkeit."
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„Der Plot dient dabei vor allem (als [sic]) Gerüst, an dem alle erdenklichen Gegenwartsprobleme und -problemchen in Form kabarettistisch zündender Kabinettstücke aufgehängt werden. Ein assoziationsseliges Protestbewegungs-Potpourri mit hohem Wiedererkennungs- und entsprechendem Amüsement-Faktor.“ Was hier von Anne Peter so hoch gelobt wird, ist m. E. aber auch das große Manko des Abends, der über diese Mätzchen hinaus keinerlei echte Haltung zeigt. Als wenn es Bücher wie „Der kommende Aufstand“ oder „Empört Euch!“ nicht gegeben hätte. Und Organisationen wie Blockupy, Attac oder Wikileaks nur Ansammlungen von Wutbürgern wären. Eigentlich ein Schlag ins Gesicht echter Bürgerempörung und -bewegtheit angefangen von Aktionen gegen den Nato-Raketenbeschluss über Atomkraft Nein danke bis zu den Ostermärschen der 1980er Jahre, die viele nur noch vom Hörensagen kennen. Über die 68er will ich gar nicht erst reden. Wahrscheinlich geht es uns wirklich zu gut. Das macht der Abend ja wenigsten einigermaßen deutlich.
Das Runterbrechen von Kleists Kohlhaas auf einen Latte trinkenden Ökofaschisten in Radlerhosen aus Friedrichshain, der im Internet zu Gerechtigkeits-Kampagnen aufruft und damit einen infernalischen Flächenbrand auslöst, ist aber ein ziemlich schlechter Witz. Also mich bugsiert da nichts in irgendeine Identifikation oder Distanzierung zu dieser Person, die in ihrer Überzeichnung eher bedauernswert ist. Ich will nicht sagen, dass wir uns an der Entertaste des Computers nicht alle mal abreagieren würden. Brennende Autos und ähnlich Gewaltaktionen gibt es ja auch. Wir regen uns mehr über Prenzlschwaben, laute Biergärten, Bahnstreiks oder die allgemeine Gentrifizierung auf, als über Flüchtlingsprobleme oder Machenschaften von Geheimdiensten. Dass das aber wiedermal nur in eine Frage nach der Gewalt mündet und schließlich in die Nähe der R.A.F. gerückt wird, ist äußerst kurzsichtig und zeugt nicht von einer dialektischen Denke, wie sie z.B. Stéphane Hessel einfordert.
Interessanter Weise macht Yael Ronen nebenbei noch eine zweite Baustelle auf, in der ein entrechteter Palästinenser namens Michail aus Israel nach Berlin flieht, dem Wutbürger Kohlhaas als Zeuge seines Unbills zufällig über den Weg läuft und schließlich in einer Geheimdienstposse (erst israelischer dann deutscher Art) als Sündenbock herhalten muss. Dem kommt dann auch, wenn die Bomben vor dem Soho-Haus explodieren, plötzlich alles so bekannt vor. Wow, wie provokativ ist das denn? Na ja, leider wird dieser Plot nicht wirklich weiter verfolgt, dazu hätte es einer guten, plausiblen Story bedurft, die Fragen unserer tatsächlichen Verfasstheit betrifft. Und hiermit meine ich durchaus auch ein Nachdenken über die Buchstaben des deutschen GG. Das hat Anja Gronau mal anhand des Kohlhaas‘ sehr schön in ihrem Theatersolo „Kohlhaas. Hiermit kündige ich als Staatsbürger“ getan.
Natürlich lässt es sich in Deutschland als unbescholtener, rechtschaffender Bürger relativ unberührt von den Sorgen der Welt recht gut leben. Niemand wird das ernsthaft in Frage stellen. Das ist dann vielleicht auch der Punkt, wo das Denken einsetzen muss, und nicht beim Streit BMW-Schlitten mit Pandafell versus kaputtem E-Bike. Rachefabel hin oder her, der Kleist`sche Kohlhaas zweifelt neben der Absurdität einer kleinstaaterischen Anmaßung von Recht und Bürokratie (Da gibt es sicher auch Parallelen ins Heute. Der Ausflug an den israeleichen Checkpoint oder die Ignoranz deutscher Polizeibeamter lässt das zumindest erahnen) auch die allgemeine, gottgewollte Rechtsordnung seiner Zeit an. Das betrifft dann schließlich den Landesfürsten selbst und da hörte der Spaß bekanntlich auch bei Luther auf, der mitnichten ein pazifistischer Einbeter war, und wenig zu tun hat mit dem von Yael Ronen herbeizitierten US-amerikanischen Bürgerrechtler gleichen Namens M. L. King und dem Begründer des passiven Widerstands Mahatma Gandhi, die hier den außer Kontrolle geratenen Eiferer mit den Worten des Reformators aus Kleists Novelle zur Ordnung rufen wollen.
Die Samthandschuhe sind ausgezogen, das Spiel kann beginnen: den Kohlhaas gibt es hier gleich in doppelter Ausführung. Mit der Obrigkeit legt sich sowohl ein E-Bike-Verkäufer aus dem Friedrichshain als auch ein Schafskäse-Händler aus Ramallah an. Der eine wird von einem BMW, der mit allen Extras ausgestattet mehr einem Panzer als einem herkömmlichen Auto gleicht, gerammt und sein Sohn dabei verletzt. Der andere Kohlhaas wird an einem Checkpoint der israelischen Armee aufgehalten, in ein kafkaeskes Labyrinth aus Anträgen und Formularen geschickt und schließlich ins Gefängnis geworfen. Da er später mit einem Visum nach Deutschland einreist, kreuzen sich die beiden Kohlhaas-Erzählstränge in Berlin. Ab dieser gewagten Volte wackelt das Erzählkonstrukt teilweise bedenklich, fliegt Ronen und ihrem Ensemble aber nicht um die Ohren.
Es ist jetzt ohnehin Zeit, das Tempo noch mal gehörig anzuziehen, findet Yael Ronen. Sie bringt nicht nur die schon erwähnten aggressiven Raben ins Spiel, die schon längere Zeit mehr oder minder dezent als Videoprojektionen über die Wände flimmerten, sondern sprintet rasant durch immer neue Verästelungen ihres Plots, bis sie bei zwei weiteren großen Auftritten ihrer Schauspieler landet. Der eine gehört Cynthia Micas, die fest entschlossen ist, Timo Weisschnur nach seiner jüngsten Superhelden-Performance in der Box des Deutschen Theaters den Fehdehandschuh hinzuwerfen: Wer schwingt sich eleganter von der Decke? Sie in ihrem schwarzen Batwoman-Kostüm oder er mit dem Veto-V auf der nackten Brust?
Der zweite große Auftritt vor dem Finale gehört Thomas Wodianka: er lässt die Pappbühne in Flammen aufgehen und tigert in bester Mick Jagger-Manier mit seinem Paint it black-Solo über die Bühne. Gut gekontert im Wettstreit um den Titel, wer sich als coolste Rampensau des Gorki-Ensembles bezeichnen darf! Die Jury plädiert auf Unentschieden.
“Total durchgeknallter Abend” seufzt eine Besucherin nach dem Schlussapplaus. Aber nach dem lautstarken Beifall zu urteilen, ist die Mehrheit damit sehr glücklich. Endlich, endlich sind wieder der Schuss Anarchie und die überschäumende Spielfreude am Gorki zu erleben, die das Haus in der ersten Spielzeit unter der neuen Intendanz von Shermin Langhoff so interessant machten, an einigen Abenden zuletzt aber vermisst wurden.
Dieses Feuer, das "Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen", "Small Town Boy" und mit Einschränkungen auch "Common Ground" zu Theaterereignissen machte, springt auch auf "Das Kohlhaas-Prinzip" über. Dass der Abend diesen Vorbildern dennoch nicht ganz gewachsen ist, liegt daran, dass er die zahlreichen politischen Probleme, die er kurz antippt, nur streift, ohne sie so strukturiert zu vertiefen, wie es die genannten Abende auszeichnete.
Vollständiger Text hier: kulturblog.e-politik.de/archives/25057-yael-ronens-das-kohlhaas-prinzip-am-gorki-stinkbomben-aufs-soho-house-schikanen-am-israelischen-checkpoint-und-ein-bisschen-kleist-ergeben-eine-explosive-mischung.html
Also wenig gespielt ist absoluter Hohn und Spott auf die grandiose Leistung der fünf wunderbaren Schauspieler. Mehr Spiel geht kaum. Frau Bazinger scheint auch nicht genau zu wissen, in welches Stück sie ging. Michael Kohlhaas von Kleist war nämlich mitnichten angekündigt. Eine offenkundig feindselige Kritik, die aber natürlich nicht sehr überrascht, sieht man doch von wem und für welche Zeitung sie geschrieben wurde.
Im Stück wird das Flüchtlingsheim Hellersdorf namentlich erwähnt
Eine Chronik der Ereignisse im Sommer 2013 ist z.B. hier zu finden: www.rbb-online.de/politik/thema/fluechtlinge/berlin/bildergalerie-chronologie-hellersdorf-hilft.html
Bin ich auch schon neonazis, wenn ich den flüchtlingen sage: kämpft in der heimat für den erhalt der heimat - macht dort klassenkampf, nicht bei uns?
Wo genau ist schlecht recherchiert worden? Dass Forrest Gump nicht der Gründer von Apple ist, dürfte jedem klar sein. Und damit auch, dass eine rein fiktive Figur in reale Vorgänge des Lebens eingebettet wird, sowohl in Film als auch im Theater.
@18: Nun ist ja Hellersdorf repräsentativ für andere Flüchtlingseinrichtungen gedacht, im verlängerten Denkraum der Zuschauerschaft. Klar sind die Ostdeutschen in ihrer strammen pegidaneonaziusw. Haltung zu nennen. Ein Blick in die Biographien der Wachmannschaften hätte offenbart, dass die Lage sehr viel schlimmer ist, denn a) (das schreibt sogar die konservative Theaterpresse) handelt es sich bei dieser Gruppe um die abgehängten Ostdeutschen und b) blendet der Schluss auf die allgemeine Gültigkeit diesen Hintergrund aus. Das ist der Kern meiner Kritik. Es braucht keinen Dirk Laucke als Vorzeugeossi für Probleme in der Zone. Es braucht auch keine postmigrantischen Perspektiven für Probleme in den Ghettos. Wo ist der Unterschied zwischen Zone, Ghetto oder gated community/nation? Alle drei Wohneinheiten stellen unerträgliche Zustände dar. Die Arbeit am Gorki ist unbedingt zu begrüßen. Aber was dabei heraus kommt, wenn einseitig Migranten (und Westdeutsche zähle ich in Ostberlin aus sozialgeschichtlichen Gründen dazu) den Blick in die Zone schweifen lassen, dann kommt Plastik heraus, leider. Deshalb schlage ich mehr Zusammenarbeit vor, um die eigentliche Tragik der Ereignisse besser in den Blick zu bekommen.
Ausserdem, ich kann mir vorstellen, dass Sie das als Metapher/Bild verwenden, aber "Kolonialgebiet Ost", das ist doch auch nicht ganz richtig. Ebenso wie der Vorwurf der "westdeutschen Arroganz", das ist mir alles zu pauschal. Klar ist auch mir die tatsächlich arrogante Treuhandpolitik bekannt. Aber bei einzelnen Individuen sollte man mit vorschnellen Begriffen vorsichtiger und - ja - empfindsamer sein.
Apropos, in den Ländern, wohin Sie die Geflüchteten zurückschicken wollen, gibt es zum Teil überhaupt keinen Wohlfahrtsstaat. Natürlich kann man sagen, man muss die Probleme vor Ort lösen. Aber wenn Kriege auch mit durch den Westen (Politik und Wirtschaft) ausgelöst werden?
Schließlich, sind Sie da nicht auch etwas empfindlich? Ich bin es ja auch, in Bezug auf die angebliche "westdeutsche Arroganz". Warum müssen Sie sich diesen Neonazi-Schuh anziehen? Ich bin mir sicher, dass die Inszenierung klar macht, dass nicht alle Menschen in der "Zone" Neonazis sind. Sondern dass es, ja, Sie erwähnen es, um die Abgehängten geht. Und das ist tatsächlich ein Problem. Und zwar global betrachtet.
Bach kam auch aus Ostdeutschland, nicht wahr? In diesem Sinne, mehr Empfindsamkeit.
Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2015/06/15/spiel-mir-das-lied-vom-klischee/#more-4563
- Die Einseitigkeit der nebenbei vorgenommenen Darstellung des Nahostkonflikts (armer Palästinenser, bürokratisch-böse Checkpoint-Soldaten) grenzt an Antisemitismus und macht auch dramaturgisch kaum Sinn, da dieser Plotteil im weiteren Verlauf des Stücks zur Fußnote wird (Palästinenser bleibt Opfer nun der deutschen Gesellschaft bzw. Bürokratie, aber wird am Ende zumindest von Kohlhaas verschont).
- Die Willkür in der spätmittelalterlichen ständisch-feudalen Gesellschaft ist also direkt übertragbar zum modernen Rechtsstaat, weil dort Politik, Polizei, Justiz incl. anwaltlicher Vertretung alle untereinander und mit dem Geldadel in Totalität mafiös miteinander verstrickt seien. Das ist keine Gesellschaftsanalyse oder -kritik, sondern eine von jeder ernstgemeinten oder -zunehmenden Theorie oder Empirie unberührte boulevardeske Zuspitzung von Klischees:
- Die Inszenierung bebildert die ungefähre Dynamik in der Novelle mit einer zeitgenössischen Revoltenromantik incl. Facebook, Feueraction, Stones-Song usw. Das ist sicher teilweise mitreißend und unterhaltsam, aber ist relativ plumpe Aktualisierung statt Reflexion. Die Inszenierung zeigt null Interesse an Kleists Menschenbild.
- Die SchauspielerInnen sind oft mitreißend und spielfreudig, aber auch zwischen der pseudospontanem Anfangsimprovisation und der weiteren Inszenierung und Besetzungspolitik kann ich nicht viel Sinn ausmachen: Über Cynthia wird am Anfang gesagt, jeder denke an hartem Sex bei ihrem Anblick. Im weiteren Verlauf trägt sie meist einen sexy Catwoman-Suit und hat wenig Sprechanteile. So what? Warum nicht anders besetzen und inszenieren statt einmal kurz über Sexismus zu reflektieren?
- selbst die in den Rezensionen z.T. gelobte Schnelligkeit des Stücks kann ich nicht nachvollziehen: Nachdem klar war, dass die Ideen und Aktualisierungen ziemlich dumpf sind und die Kleist-Geschichte in der Eskalationsdynamik mehr oder weniger nachvollzogen und bebildert wird, fand ich es eigentlich nicht mehr spannend und habe ab und zu gedacht, dass es jetzt auch langsam zu Ende gehen könnte.