Spannung auf Eis

von Karin E. Yesilada

Paderborn, 30. Mai 2015. Tagsüber hatte es tatsächlich gehagelt, auf dem Marktplatz vor dem Dom froren die Marktverkäufer, abends blies ein kalter Wind ums Stadttheater. Die Paderborner Dramaturgie hätte sich kein besseres Wetter wünschen können für die Premiere von "Die Reise ins Eis" nach Christoph Ransmayrs Roman "Die Schrecken des Eises und der Finsternis".

Auf der zweigeteilten Studio-Bühne (von Ariane Scherpf und Tobias Kreft) entfaltet sich das historische und gegenwärtige Geschehen in drei unterschiedlichen Zeitebenen: Im vollgestopften Wohnzimmer links schildert Schriftsteller Josef Mazzini seiner Lebensgefährtin Anna Koreth sein Buchprojekt über die österreich-ungarische Nordpolar-Expedition 1872-1874 auf den Spuren der legendären Nordost-Passage. Seine Recherchen baut er aus, fabuliert, ergänzt, vermutet; immer angestachelt durch Koreths ungläubiges, mitfühlendes Nachfragen. Später wird sie die Erzählung fortführen, denn auch Mazzini wird sich in der Gegenwart der 1980er Jahre aufmachen, um diese Route ins Eis zu nehmen. Auch sie wird nun aus den Resten der Dokumente heraus berichten, fabulieren.

Lauter Opfer – für was?

Rechts spielt das Geschehen um die historische Expedition, agieren sechs Schauspieler als Schiffsbesatzung der "Admiral Tegethoff" die Beschwernisse und traumatisierenden Erlebnisse dieser mehr als zwei Jahre andauernden Expedition ins Eis. Angeworben im sonnigen Norditalien, erleben die Tiroler und Triester Matrosen, Handwerker, Bergführer und Schiffsleute nach kurzer Abenteuerfahrt eine Hölle im Eis, als ihr Schiff festfriert. Eingeschlossen in die polare Finsternis harren sie monatelang aus, erkranken, werden wahnsinnig, halten durch. Machen sich schließlich zu Fuß auf den Rückweg und entdecken dabei unbekanntes Inselgelände. Werden schließlich fast alle gerettet.

In diesem Eis-Drama fordert das Entdeckertum grausame Opfer. Und noch in der größten Verzweiflung sind die österreichischen Expeditionsleiter Weyprecht und Prayer hin- und hergerissen zwischen Lebensrettung und Abenteuer. Lohnt sich die "Entdeckung" des nach dem Kaiser benannten "Franz-Josef-Lands" wirklich, wenn dabei die Gliedmaßen erfrieren? Lohnt es sich wirklich, knapp einhundert Jahre später hinterher zu reisen, nur um im ewigen Eis zu verschwinden?

DIEREISEINSEIS2 560 Schultz Rohland Meinschfer uWenn sich die Ebenen überlappen: Markus Schultz und Max Rohland © Meinschfer

Ransmayrs gewaltiges Eis-Epos funktioniert auch auf der Bühne. Spannend, wie während der ersten Erzählung aus dem Off Stimmen als fernes Echo hörbar werden, sich in die Erzählung mischen, wieder verschwinden. Und wie dann mit einem Schlag – geniale Lichtchoreografie von Fabian Cornelsen! – die Szenerie der Expedition auf der Unterbühne sichtbar wird. Unheimlich, wie die sechs ausgemergelten Schiffsgestalten, Kernbesatzung der "Admiral Tegethoff", ums Überleben kämpfen, hadern, wie sie beten, wahnsinnig werden, sterben, weitermachen. Als teils stumme, teils sprechende Tableaux vivants werden sie immer wieder ein- und ausgeblendet im Wechselspiel mit der Erzählung links auf der Bühne.

Grausiger Reigen

Katharina Kreuzhages Dramaturgie spielt dabei mit dem Leitmotiv des Vereisens. Die Tableaux frieren fest, verdeutlichen die lähmende Eiseskälte in verlangsamten, tänzerischen Bewegungen der Expedition. Von der Maske als Eiszombies hergerichtet, tanzen die in schwere Wintermäntel und Fellmützen gehüllten Gestalten nach der Choreografie von Isabelle von Gatterburg einen grausigen Reigen. Immer wieder verschmelzen die zwei Bühnenblöcke und gehen ineinander über, wenn etwa Mazzini sich unter die Besatzung mischt. Die Erzählung aus dem Eis wird lebendig, hat Unterströmungen.

Katharina Kreuzhage, seit 2013 Intendantin an den Westfälischen Kammerspielen, schrieb das Stück nach Motiven von Ransmayrs Roman "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" von 1984. Dabei strafft sie den Romantext behutsam und übersetzt die collagenartige Struktur klug für die Bühne. Dokumentarische Passagen lässt sie von Mazzini oder Koreth referieren, durch Ransmayrs Quellen belegen (herrlich: die abgenutzten Bücher, auf dem Schreibtisch und Bühnenboden verteilt, mal zu Boden fallend, mal von der hausmütterlichen Buchhändlerin sorgsam verstaut) und per Dia-Projektor anzeigen. Festgefrorene szenische Stills der Expedition werden aus dem Wohnzimmer von Mazzini und Koreth kommentiert.

DIEREISEINSEIS1 560 BontempsRohland Meinschfer u Koreth (Bontemps) und Mazzini (Rohland) im Warmen © Meinschfer

Als Visionär und Geschichtenerzähler versteht sich Josef Mazzini selbst. In dieser Figur hat Ransmayr Facetten seines Alter Ego angelegt, das Umherreisen, das sich und die Welt wandernd erfahren, aber auch das Spurenlesen auf der Suche nach der Geschichte, das Materialsammeln in Archiven und Buchhandlungen, das Aufschreiben und Erzählen. Ein Schreibtischlöwe, wunderbar verkörpert von Max Rohland: Wie er sich in den Sessel fläzt und von dort aus die schrecklichen Geschehnisse und Erlebnisse der verzweifelten, ausgehungerten Expeditionsmannschaft erzählt, kommentiert, wie er umhertigert, seine lange Haarmähne zurückwirft und zugleich fein ironisierend Ransmayrs Text moduliert, ist umwerfend.

"Die Schrecken des Eises und der Finsternis" ist die Geschichte des Verschwindens. Denn Mazzini wird von seiner Expedition in die Nordarktis nicht mehr zurückkehren. Verschwinden lassen hätte man allerdings auch die ins Stück hineingeschriebene, obligatorische Vergewaltigung und die bedeutungshubernde musikalische Referenz zu Schuberts "Winterreise". Sie bleiben die einzigen Schwachpunkte der Paderborner Inszenierung. Alles Andere ist das, was sich auch Mazzini für seine Erzählung über die Nordpolarexpedition vorstellte: spannende, gut erzählte Unterhaltung.

 

Die Reise ins Eis (UA)
von Katharina Kreuzhage nach Motiven aus Christoph Ransmayrs Roman "Die Schrecken des Eises und der Finsternis"
Regie: Katharina Kreuzhage, Bühne: Ariane Scherpf, Tobias Kreft, Kostüme: Ana Tasic, Musikalische Einrichtung. Katharina Kreuzhage, Alexander Wilß, Choreographie: Isabelle von Gatterburg, Ton und Video: Till Petry, Dramaturgie: Birgit Lindermayr, Licht: Fabian Cornelsen.
Mit: Max Rohland, Anne Bontemps, Willi Hagemeier, Alexander Wilß, Stephan Weigelin, Matthias Belgard, Markus Schulz, Denis Wiencke.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theater-paderborn.de

 

Kritikenrundschau

"Vorsicht", warnt Dietmar Gröbing in der Lippischen Landes-Zeitung (1.6.2015), "die Wahrheit besitzt die Brüchigkeit einer Eisscholle. Alles, was man betrachtet, sind nichts weiter als die Projektionen Josef Mazzinis. Der ist gleichsam Erzähler und Illusionist in einer Person. Dementsprechend könnte das Geschehen auch ein Hirngespinst sein. Oder die Vision eines Theatermachers, der seine ganz persönliche Sicht der Dinge vor großem Publikum zur Aufführung bringt." Katharina Kreuzhage jedenfalls habe aus der Vorlage von Christoph Ransmayr "ihre eigene Geschichte geformt, hat die Ecken rundgefeilt und das Ganze in eine szenische Form überführt." Dabei gelinge Kreuzhage unter Mithilfe der kongenialen Bühnenbauer Ariane Scherpf und Tobias Kreft ein kühner Entwurf, der unter dem Deckmantel des Zeitreisedramas vom Verschwinden des Individuums erzählt."

Max Rohland als Mazzini amalgamiere "das objektive Beschreiben eines Historikers mit dem subjektiven Nachbilden eines Literaten in einem unendlich ruhigen, nie dramatisierenden, betulich monotonen Erzählfluss", schreibt Jens Fischer in der Online-Ausgabe der Deutschen Bühne (Zugriff 1.6.2015). "Souverän surft er auf den Sprachwellen des Wortsetzkünstlers, taucht aber nie hinab. Was alles zum Theaterclou des Abends passt: Kreuzhages regiemeisterlich karge Verschmelzung der Erzählebenen." Die Aufführung lese "sich zwar flüssiger als das Buch. Da aber Möglichkeiten der Emotionalisierung seriös gemieden, analytische Durchdringung oder inszenatorische Kommentierung ungenutzt bleiben, wird Ransmayr auf die Spitze getrieben: Aus dem Buchtitel 'Die Schrecken des Eises und der Finsternis' wird der Stücktitel 'Die Reise ins Eis' wird eine Orgie der Sachlichkeit, die fast so frostig daherkommt, dass die Eiseskälte am Nordpol und im Herzen eines Lebensmüden zu spüren ist."

 

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