Nazis mit Spendenbüchsen

von Dorothea Marcus

Recklinghausen, 4. Juni 2015. Zu Beginn wird auf der Bühne die Geschichte vom Band zurückgespult. Hektisch verrichten die 15 Figuren Alltagshandlungen rückwärts, während Radio-Fetzen durch den Raum hallen: von Lampedusa über Mogadischu und Ulbrichts Mauer-Rede bis zum Vorabend des Hitler-Regimes – 1932. Da hat Anna Seghers ihren Roman "Kopflohn" veröffentlicht: Das Schicksal des jungen Kommunisten Johann, der in einem rheinhessischen Dorf bei entfernten Verwandten Unterschlupf sucht, weil er angeblich bei einem Hungeraufmarsch einen Polizisten erstochen hat.

David Schellenberg zeigt Johann aufrecht, charismatisch und grundehrlich. Er wird Zeuge der schleichenden Nazifizierung aus wirtschaftlicher Not – bis er schließlich doch, nachdem drei Dorfbewohner es nicht getan haben, denunziert, zusammengeschlagen und abgeführt wird. Im Hintergrund zeigt die Google Earth-Perspektive, dass dieses Dorf nur ein Prototyp dafür ist, wie ein Land den Nazis verfallen konnte.

Bauernhof und Bar

Dirk Laucke, der auch sprachliche Meister des Unterschichts-Sozialporträts, hat den rund 250-seitigen Roman mit großer Sorgfalt adaptiert: Er behält die traurigen Geschichten der Charaktere bei und kürzt sie, indem er Szenen miteinander verschränkt, er lauscht Seghers verarmter Landbevölkerung den Sound ab und verwandelt ihn in gesprochene, so bodenständige wie poetische Prosa. Oft ist sein Trick die Mauerschau: anstatt etwa den Selbstmord der von ihrem Mann gepeinigten Susanne Schüchlin direkt zu schildern, lässt er die bodenständig-lebenspragmatische Luise Merz (Katharina Alf), die durch das Schlüsselloch geguckt hat, die Szene nacherzählen.Kopflohn 560 Bettina Mueller uDie Nazis und das Dorf: "Kopflohn" bei den Ruhrfestspielen © Bettina Mueller

Tiefbraunes Möbel-Inventar, ein echter Baumstumpf, Erde auf dem Boden und 30er-Jahre Kostümschick – in solchem Setting führt der Regisseur K.D. Schmidt die Charaktere der Dorfgemeinschaft zu tropfender Klaviermusik (meist zu Schuberts trostloser "Krähe") zusammen. Der fast filmische Realismus wird durch Zeitsprünge und Überlappungen verfremdet: Da wir der Bauernhof eben mal zur Bar, wenn drei Männer nebeneinander die Bierverschlüsse ploppen lassen. Zu musikalischen Zwischenstücken wird immer wieder "vorgespult", viele Dorfszenen passieren gleichzeitig.

Hilflose Mitläufer

Doch auch die Einzelschicksale kommen nicht zu kurz: Johanns Gastgeber etwa, der Bauer Andreas Bastian, ist so verarmt, dass er sogar seine zehnjährige Tochter Dora zum Arbeiten schicken muss – in einer späteren, berührenden Szene sieht man die Entfremdung zwischen beiden, als sie sich stocksteif wiederbegegnen. Dann ist da die arbeitslose Bauerntochter Marie, die Kristina Gorjanowa als eifrig, patent und ehrgeizig zeigt, zugleich entwickelt sie zart und fröhlich ihre Liebe zu Johann. Später wird sie hilflos um den verprügelten Denunzierten umherhüpfen, ein Bild für deutsche Mitläufer: politisch zwar auf der richtigen Seite, aber letztlich feige und ohne Durchblick. Manch junger Mann sieht gleich gar keine Perspektive außer der Armbinde.

Erzählt wird auch die Geschichte der 16-jährigen, widerwilligen Zwangsverlobten Sophie Bastian, die ihrem Verehrer Merz Ohrfeigen verpasst und sich schließlich den ökonomischen Zwängen beugt – bis hin zur gewaltsamen Hochzeitsnacht mit der komplett verschleierten Braut im Hintergrund. Ganz zum Schluss fasst die nun nicht mehr so keusche Braut dem denunzierten und verprügelten Johann verächtlich in die Hose: wenn der Mantel der Moral erst einmal weg ist, ist die Enthemmung schrankenlos.

Der Urgrund der Verführung

Es gibt viele Geschichten in Anna Seghers Roman, und die Kunst an der Bühnenerzählung "Kopflohn" ist tatsächlich, dass diesen Geschichten trotz der notwendigen Raffung der angemessene Raum zukommt, um psychologisch schlüssig erzählt zu werden. So erleben wir die letzten Zuckungen der Moral im Angesicht des überdimensionalen, rot auf die Wand projizierten Fahndungsplakats von Johann. Und sehen zugleich, dass der Urgrund der Verführung das wirtschaftliche Elend ist – die nicht bezahlbaren Raten der Zentrifuge, der Hunger, die harte Arbeit.

Erst rasseln die Nazis noch harmlos mit den Spendebüchsen, von Szene zu Szene indes werden ihre Armbinden und Papierfähnchen mit Hakenkreuzen aufdringlicher zur Schau getragen, bis ihr Aufstieg aufs grausamste in der arrangierten Doppelhochzeit samt orgiastischer Folterszene von Johann kulminiert: Sieben Mal wird sie zurückgespult und von Neuem gestartet, jedes Mal werden neue Varianten enthemmter Gewalt hinzuimprovisiert. Johanns Schicksal hat sich im Dritten Reich endlos wiederholt. Und wenn wir nicht aufpassen, geht es immer weiter: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

 

Kopflohn
von Dirk Laucke
nach dem Roman von Anna Seghers
Uraufführung
Regie: K.D. Schmidt, Bühne: Maren Greinke, Kostüme: Sabine Böing, Musik: Christoph Iacono, Dramaturgie: Patricia Nickel-Dönicke.
Mit: Denis Larisch, Emely Floch, Holger Kraft, David Schellenberg, Martin Herrmann, Kristina Gorjanowa, Armin Dillenberger, Daniel Friedl, Katharina Alf, Klaus Köhler, Ulrike Beerbaum, Johannes Schmidt, Rüdiger Hauffe, Sebastian Brandes, Anika Baumann.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-mainz.com
www.ruhrfestspiele.de

 


Kritikenrundschau

Ein "sehr dichtes Stück" habe Dirk Laucke aus Anna Seghers Roman geschaffen, berichtet Stefan Keim im Gespräch für WDR 3 Mosaik (8.6.2015). Und der Abend wühle gerade mit seinen Folterszenen das Publikum auf und gehe "an Grenzen, was bei dem Thema auch mal nötig ist".

Laucke habe in seiner Dramatisierung des Romans "einen guten Job gemacht", schreibt Jens Frederiksen im Wiesbadener Kurier (15.6.2015) über die Mainzer Premiere. "Plötzlich haben die Figuren ihre eigene Stimme: Betuchte und Verelendete, Männer und Frauen, allen ist ein Portiönchen Individualität zugestanden." Regisseur K. D. Schmidt "arbeitet dramatische Zuspitzungen in der Regel sehr zutreffend heraus“, Timing und Tempo stimmten. Gänzlich unzufrieden ist der Kritiker aber mit den Gewalthandlungen zum Ende der Inszenierung: "Aufrütteln mit Drastik, heißt die Devise. Sie macht die gesamte, bis dahin sehr vorzeigbare Aufführung auf einen Schlag kaputt."

Dirk Laucke habe eine Bühnenfassung zu Anna Seghers hellsichtigem Roman "erstellt, die auf das vielstimmige Panorama und nicht das Einzelschicksal zielt“, berichtet Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (18.6.2015) von der Mainzer Premiere der Arbeit. "Der Menge an Schicksalsfäden dürfte es geschuldet sein, dass Laucke den alten Bauern Algeier (Martin Herrmann) als gelegentliche Erzählerfigur installiert. Aber auch ohne seine bitteren Kommentare wird klar, was die Zeiten geschlagen haben: Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger."

 

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