Best Practice der Illegalität

von Susanna Petrin

Birsfelden bei Basel, 4. Juni 2015. Papierlose Asylsuchende haben ein Zimmer zu vergeben und prüfen Schweizerinnen und Schweizer auf deren WG-Tauglichkeit. Am liebsten hätten sie jemanden, der sozial ist, aber nicht zu laut, der einen Flatscreen mitbringt und Trompeten-Stunden unterrichten kann.

Drei Afrikaner geben dem Publikum eine ausgiebige Lektion über die besten Methoden, um als Illegaler in Europa durchzukommen – und womöglich mit illegalen Tricks einen legalen Status zu erlangen. Eine Art Best Practice der Illegalität.

Stripperinnen aus Drittstaaten, die hier bald nicht mehr legal ihrem Handwerk nachgehen dürfen, feiern eine ausgelassene Ausschaffungsparty. Nebenbei suchen sie unter den Schweizerinnen im Publikum mögliche Nachfolgerinnen.

Wildwuchs StarBoys 280h KoenBroos u"Star Boy Production" © Koen Broos

Die WG namens Schweiz

Sämtliche Eröffnungsproduktionen des Kulturfestivals Wildwuchs gehen in die Offensive. Lustvoll drehen die Mitwirkenden gängige Machtverhältnisse um. Und sie beweisen Stolz und Humor im Spiel, trotz ihrer schwierigen Situationen in der Realität. Denn die Asylsuchenden im Hörspiel "Zimmer Frei!" sind echte Sans-Papiers. Einige warten schon seit Jahren in einem der Asylheime Basel darauf, in der WG namens Schweiz angenommen zu werden. Die drei Tipps predigenden Afrikaner der "Star Boy Productions" lebten selbst über Jahre illegal als Fußballspieler in Europa; sie geben "gesammelte 15 Jahre Erfahrung" weiter. Und die Stripperinnen in "Ausländer ausziehen" wissen noch nicht so recht, wie es für sie weitergehen soll, wenn sie ab 2016 in der Schweiz wegen einer Gesetzesänderung nicht mehr legal als Cabaret-Tänzerin arbeiten dürfen.

"Auf der Flucht" lautete das Motto des Eröffnungsabends im Roxy Birsfelden. Auch ein kurzer Film über Afrikaner, die in Mali teils jahrelang auf eine Gelegenheit warten, um nach Europa flüchten zu können, wurde gezeigt. Dazwischen gab's Einlagen dreier tanzender Putzfrauen, die Playback-Texte aus echten Interviews mit Putzfrauen sangen. Das biennale Basler Festival, das früher Menschen mit psychischen oder körperlichen Behinderungen im Fokus hatte, hat sich seit der letzten Ausgabe thematisch geöffnet. Sämtliche Menschen am Rand der Gesellschaft sollen bei Wildwuchs in die Mitte geholt werden; Begegnungen zwischen Menschen, die sich sonst nie begegnen, werden gefördert.

Stripperin Mary

Zum Beispiel eine Begegnung mit Mary, einer Cabaret-Tänzerin aus der Ostukraine. In "Ausländer ausziehen" gehen die Zuschauer in einem nachgebauten Striplokal von Tisch zu Tisch und werden so praktisch gezwungen, mit Tänzerinnen, anderen Zuschauern oder einer Mitarbeiterin der Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) zu reden. Was hat Stripperin Mary vor, wenn sie hier nicht mehr arbeiten darf? Sie weiß es noch nicht so recht. Vielleicht werde sie ihr Chemiestudium beenden. Wird sie als Chemikerin in der Ukraine arbeiten können? Sie zuckt mit den Schultern. In ihrem Land wisse niemand, wie es weitergeht.Wildwuchs AuslaenderAusziehen 560 DominikLabhardt u"Ausländer ausziehen" © Dominik Labhardt

Mary stellt eigentlich lieber selber Fragen. Cabaret-Tänzerinnen sind geübte, gute Gesprächspartnerinnen. So manchem einsamen Mann ersetzen sie den Psychotherapeuten. Sie bedauert, kurz zuvor die Tipps für den illegalen Aufenthalt in Europa verpasst zu haben. Mary ist ledig, und heiraten ist eine gute Möglichkeit, um an einen Pass zu kommen. Aber in Europa müsse man beweisen, dass man jemanden liebe, das werde von Beamten kontrolliert bis auf die Unterhosen in der Wäsche, warnt Star Boy Lateef Babatunde. Die Frau ist älter? "Schönheit liegt im Auge des Betrachters." Und das eigene Alter wird großzügig auf oder abgerundet, je nach Situation.

Bundesrätin in Endlosschlaufe

"Flexibilität" ist die wichtigste Eigenschaft jedes Sans-Papiers, will er hier überleben. In einer Szene beginnt Lateef das zu tun, was sonst Mary tut: Er zieht sich aus, er preist seinen Körper an, einer älteren reichen Europäerin. In diesem Moment wird die sonst ausgelassene, lustige Predigt unangenehm fürs Publikum: unangenehm wahr.

Auch die Star Boys können bedauern, dass sie die Stripperinnen verpasst haben. Zwischen den Gesprächen tanzen sie. Es sind attraktive Frauen, langes Haar, schlank, geschmeidig; sie bewegen sich selbstbewusst und elegant. Wie schön doch Frauenkörper sind! Im seltsamen Kontrast dazu läuft gegenüber auf einem Flachbildschirm eine Medienkonferenz mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga in Endlosschlaufe. Es scheine "paradox", dass ein Gesetz, das zum arbeitsrechtlichen Schutz dieser Frauen eingeführt worden sei, wieder aufgehoben wird, sagt sie. Der Film ist so geschnitten, dass Sommaruga uns darin eine Erklärung für dieses Paradoxon schuldig bleibt.

Ernster Humor

Niemand rede gern darüber, aber es gebe einen Markt für illegale Menschen, sagt der Regisseur der Star Boy Productions, Ahilan Ratnamohan, in einem Interview. "Europe is getting difficult!" betont einer in seinem Stück. Nun auch für Drittstaaten-Stripperinnnen. Theorie und Praxis klaffen immer weiter auseinander. Es ist schwer geworden für Ausländer in Europa, doch im Ausland ist es für so viele noch viel schwerer. An diesem Theaterfestival wird das alles mit viel Humor sehr ernst genommen.

 

wildwuchs Festival 15
Basel, 4.-14. Juni 2015

Star Boy Productions
Regie: Ahilan Ratnamohan, Dramaturgie: Kristof Persyn, Koproduktion: Monty.
Mit: Lateef Babatunde, Etuwe Bright Junior, Aloys Kwaakum, Jimmy Nwaoze.

Ausländer ausziehen
Konzept und Regie: Thom Truong, Koproduktion: wildwuchs.
Mit: MisSa Blue, Lady Mary, Eleonora Mond, Louise de Ville, Zhanna Zottawa.

Homeradio wildwuX: Zimmer Frei!
Hörspiel
Künstlerische Leitung: Grazia Pergoletti, Koproduktion: wildwuchs und Radio X.
Mit: Ashraf Ahmed, Gan Ahmed, Khadija Rifi, Ahmet Jizawi u.a.

In Erwartung Europas
Film, Mali 2015, 30 Min. Digital HD. F/d
Idee, Realisation, Kamera & Postproduktion: Diego Ndombasi, Musik: Paco Mbassi.
Mit: Aicha Camara, Getou Ndombele, Kabibi Cisse, Bladine, Adidas Kiese, Bellevue.

Cleaning Women
Konzept und Regie: Philippe Heule, Musik: Sandra Kirchhofer, Michael Studer, Koproduktion: wildwuchs in Zusammenarbeit mit den Sans-Papiers Anlaufstellen Zürich und Basel.

www.wildwuchs.ch

 

SusannaPetrin
Susanna Petrin
ist Kulturredaktorin bei der Basler Tageszeitung „bz Basel"; ihre Spezialgebiete sind Theater, Literatur und Film. Sie ist zudem zum zweiten Mal in der Jury für den Schweizer Buchpreis.


 

 

 

 

 

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