Im Zirkus der Revolution

von Sascha Westphal

Marl, 9. Juni 2015. Als sich der klassische rote Samtvorhang öffnet, gibt er den Blick auf einen weiteren Vorhang frei. Auch der ist rot, aber dunkler und zudem von im Licht glitzernden Fäden durchzogen: ein schillerndes Versprechen, wie die Vorhänge, durch die man in der Kindheit ein Zirkuszelt betrat. Nur ist das keine gewöhnliche Menagerie. Davon künden schon die drei Worte, die oben über dem Eingang hängen: Liberté, Égalité, Fraternité. Mehr ist gut 225 Jahre später vom Wahlspruch der französischen Revolution nicht geblieben. Was einmal alle Menschen vereinen sollte, verspricht nun zirzensische Attraktionen. Die Revolution, eine Clowneske. Der Traum von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, nur noch ein ferner Nachgeschmack, längst schal geworden.

Auftrag1 560 KatrinRibbe uDie Revolution – eine Clowneske: Corinna Harfouch als Pierrot auf der Schaukel, Sarah Franke daneben in Rüschen © Katrin Ribbe

"Erinnerung an eine Revolution" nennt Heiner Müller im Untertitel sein Stück über die drei Abgesandten des französischen Nationalkonvents, die auf der von den Engländern beherrschten Karibikinsel Jamaika einen Sklavenaufstand vorbereiten sollen. Am Anfang schon ist alles vorbei. In Frankreich hat Napoleon die Revolution beseitigt und ihre Reste dann auf den Schlachtfeldern Europas entsorgt. Und von den drei Exporteuren des Umsturzes sind zwei tot, der dritte ein Verräter. Was folgt, sind Blicke zurück in Zorn und Trauer, nichts als Bruchstücke, mal Reminiszenzen, mal eher Traumprotokolle.

Corinna Harfouch als Mann im Fahrstuhl

Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Inszenierung, eine Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Schauspiel Hannover und zu sehen im Theater Marl, könnte allerdings auch einen anderen Untertitel tragen: "Erinnerung an Heiner Müller". Im Zentrum ihrer Annäherung an den "Auftrag", die das Eklektische des Textes, die schroffen Brüche und freien Assoziationen, fortwährend betont, steht der Mitschnitt einer Lesung aus dem Jahr 1980, bei der Heiner Müller sein Stück selbst vorgetragen hat, in diesem typischen, ein wenig nasalen, sich kaum einmal verändernden Heiner-Müller-Ton, den man vor allem von Interviews und Fernsehauftritten kennt. Begleitet wird diese Einspielung von der Band Die Tentakel von Delphi. Ihr Live-Soundtrack ist Auslegung und Gegenrede, eine Ausweitung der künstlerischen Kampfzone, die an den Abgrund reicht, um sich in die Höhen des Aufstands zu erheben.

Die Spielerinnen und Spieler bewegen meist einfach die Lippen zu Müllers Stimme. Nur ganz selten sprechen sie selbst den Text. Aber diese raren Momente, zu denen auch das Traum-Zwischenspiel um den Mann im Fahrstuhl gehört, haben dadurch ein besonderes Gewicht. Wenn die als Pierrot gekleidete und geschminkte Corinna Harfouch, die einst Müllers Lady Macbeth war und hier ansonsten den Verräter Debuisson verkörpert, diesen Monolog spricht, schwingt zunächst noch etwas Lächerliches mit. Ein leichtes Sächseln reicht, um das Kafkaeske der DDR-Bürokratie ins vollends Absurde zu überführen. Aber wenn der Mann schließlich den Fahrstuhl verlässt und sich in einem Dorf in Peru wiederfindet, weicht jede Überzeichnung aus Harfouchs Stimme. Die Ratlosigkeit und die Melancholie, die nun aus dem Text sprechen, sind schier atemberaubend.

Jede Menge Rausch

Das alte Tondokument hält das Vergangene in der Gegenwart lebendig. Theater als Séance, die "Erinnerung an eine Revolution" als unerlässliche Geisterbeschwörung. Zugleich ergibt sich so eine deutliche Trennung zwischen Text und Spiel. Die Szenen, die bei Kühnel und Kuttner zu Zirkusnummern werden und extrem unterschiedliche Theaterformen und -Stile zitieren, sind mehr als nur Illustrationen des Dramas. Sie werden zu einem Kommentar, der weitere Räume aufschließt.

Es beginnt komödiantisch. Der Matrose, der dem Auftraggeber Antoine den Brief des verstorbenen Revolutionärs Galloudec bringt, trägt die Uniform der russischen Matrosen, die 1905 einen Aufstand wagten. Sein Gegenüber Antoine ist als Teekanne verkleidet: der Revolutionär in der Maske der Biederkeit. Das Versteck- und Lügenspiel nach dem Ende der Revolution wird zu einer grotesken Choreographie. Sozialistische Staatskunst samt artistischem Fahnenschwenken trifft auf eine psychedelische, an Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" erinnernde Karikatur bürgerlichen Lebens.

Und das ist nur der Auftakt zu einem überwältigenden Reigen von Ideen und Assoziationen, Verknüpfungen und Interpretationen. Fast scheint es, als würde Müllers Engel der Verzweiflung durch diese Inszenierung schweben und dabei mit vollen Händen den Rausch austeilen. In diesem Zirkus der Revolutionen hat alles Platz, eine Live-Aufnahme von Billie Holidays "Strange Fruit" genauso wie ein Spiel mit Motiven aus dem Hollywood-Klassiker "Vom Winde verweht", ein Live-Animationsfilm, der Müllers "Theater der Revolution" mit den Mitteln des Kinos neu erfindet, genauso wie eine live gefilmte Soap über das Leben und Sterben der Revolutionäre, nachdem alle Aufstände vorüber sind. Für jede dieser Szenen gilt in leicht abgewandelter Form, was Jürgen Kuttner einmal über Müller als Rezitator gesagt hat: "Müller ist der beste Sprecher seiner Texte, weil er nicht so tut, als ob er sie versteht." Auch Kühnel und Kuttner tun nicht so, als ob sie Müllers Texte verstehen, und darin liegt eine revolutionäre Freiheit.

 

Der Auftrag
von Heiner Müller
Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Schauspiel Hannover
Regie: Tom Kühnel & Jürgen Kuttner, Bühne: Jo Schramm, Anna Sörensen, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Video: Impulskontrolle (Peer Engelbracht, Stephan Komitsch - Live-Kamera), Dramaturgie: Johannes Kirsten, Musik: Die Tentakel von Delphi (Peter W. Bartz, Moritz Bossmann, Hannes Gwisdek, Boris Nielsen).
Mit: Sarah Franke, Corinna Harfouch, Janko Kahle, Jürgen Kuttner, Daniel Nerlich, Hagen Oechel, Jonas Steglich.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Für Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (10.6.2015) bietet der Abend "den vergnüglichsten und zugleich authentischsten Heiner Müller aller Zeiten – diesen Spagat muss man erst mal hinkriegen." Die Regisseure Tom Kühnel und Jürgen Kuttner hätten erkannt, dass niemand "den rohen, naturgemäß großartigen Text" besser abliefern könne als der Autor selbst. "Das Tondokument von 1980 präsentiert Heiner Müller keineswegs als geschmeidigen Performer, im Gegenteil: Staubtrocken reiht er die wie in Stein gemeißelten Sätze aneinander, man meint ihn zwischendurch an der Zigarre schmatzen zu hören." Dann aber nehme dieses sonderbare Playback-Konstrukt Fahrt auf, und wie! Werde Show, Varieté, große Oper.

"Dramaturgisch unterernährt, optisch aber geradezu adipös," schreibt das WAZ-Portal Der Westen und spricht von einem "Debakel". "Und Corinna Harfouch? Tänzelt tapfer als Weißclown durch den Abend, den großen 'Auftrag'-Monolog versächselt sie in ratloser Komik. Am Ende ein Lichtblick, da erzählt Harfouchs schönes Tragödinnengesicht von Müllers Anti-Illusion. Doch der Moment ist: eine Filmprojektion, ist Kino. Tragisch, dass wir das Theater nicht einmal vermisst haben."

Dorothea Marcus schreibt auf der Website des Deutschlandfunkes (11.6.2015), Revolutionen seien in Zeiten von "Pegida und Wutbürgertum" wie "Zirkusattraktionen": "fern, nostalgisch, irgendwie von gestern". Es sei "großartig", wie sich Corinna Harfouchs "leicht veralbernde Distanzierung" im Laufe des Monologs "Mann im Fahrstuhl" zu "melancholischem Ernst" wandele und "geradezu ergreifend", wie Harfouch mit dem Verrat ein "verschämt-erotisches Tänzchen hinlegt" und zum Schluss von der "Schande des Glücks" spreche, "der sie nicht widerstehen kann. Genau das ist es wohl, was mit dem linken Bewusstsein letztlich passiert ist." Trotzdem frage man sich am Ende: "Hätte man dem großen melancholischen Abgesang auf Revolutionen nicht doch noch ein wenig konstruktive Hoffnung beimischen können?"

Agnes Bührig schreibt auf der Website des Norddeutschen Rundfunks (12.9.2015): Die "Auseinandersetzung mit der Frage, wie weit es heute steht um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" erschließe sich auf eine "sehr intuitive Weise". Nicht zuletzt durch die Klänge der Band. Die Inszenierung mache "den Zugang zu einem schweren Text" einmal "ganz leicht macht". Kein "Rummüllern" mit "leerer Bühne und schwarz gekleideten ernsten Mimen", sondern "Zirkus, Burleske und Varieté". Ein "Experiment, das sich zu sehen lohnt".

 

Kommentare  
Der Auftrag, Ruhrfestspiele: Müllers bester Interpret
Haben letztes Jahr in Leipzig eine geniale Wolokolamsker Chaussee ebenfalls mit Original Heiner Müller Playback gesehen. Er ist immer noch sein bester Interpret: https://www.youtube.com/watch?v=ITNSdLxa2hk
Der Auftrag, Hannover: blau gefärbter Sklave
Sascha Westphal benutzt zum Schluss das Wort "überwältigend" und das trifft die Inszenierung sehr gut. Doch wird dem Zuschauer nicht gewalttätig etwas übergestülpt, das ihn in einem Denken einengt. Im Gegenteil: Die gewählten Mittel ermöglichen es, selbst zu denken. Das wird möglich durch die Wahl der Lesung des Textes durch Müller selbst - in der Monotonie und bewusst gewählten Kunstlosigkeit wird keine Interpretation vorgegeben, jedes Wort wird verständlich, zumindest akustisch. Wir müssen uns dann als Zuhörer einen Reim drauf machen. Deutlich wird so auch Müllers Hang zum Sentenzhaften.
Die Bilder und die Klangcollage aus Livemusik und eingespielter Musik lösen Assoziationen aus, zwingen zum Denken (Man fragt sich sofort: Warum ist Antoine eine Kaffekanne?) und überzeugen durch ihre Stimmigkeit: "Strange Fruit" schafft im Kopf mehr Bilder der Gewalt und Unterdückung als jede Illustration. Und anders als der wohl als Praktikant aus der Sportredaktion ins Theater Marl geschickte "Kritiker" auf "Der Westen" (siehe den Link oben) löste bei mir der blau geschhminkte Sasportas nicht die Assoziation Blue Men Group aus, sondern ist als dritte Farbe der Trikolore der Dunkelhäutige - ebenso der andere blau gefärbte Sklave - und vermeidet als Blauer auf diese Weise die Blackfacing - Diskussion. Dass Debuisson weiß geschminkt ist, passt ebenfalls, denn Weiß ist in der Trikolore die Farbe des Königshauses, und Debuisson wechselt ja wieder die Seiten.
Ich habe nur noch sehr dunkle Erinerungen an Müllers eigene Inszenierung des Stücks in den Bochumer Kammerspielen 1982, weiß aber noch, dass der Bilderreichtum - der Panther, der durch die Röhre im Zuschauerraum sich bewegen sollte - eher vom Text abgelenkt hat, mich zumindest. Die Inszenierung in Hannover tut das nicht.
Bis gestern dachte ich, Frank - Patrick Steckels Inszenierung von "Germania Tod in Berlin" sei das Maximum dessen, was man mit Müller machen könne, das sehe ich jetzt anders. Die Inszenierung in Hannover hat mir eine ziemlich schlaflose Nacht bereitet, die Bilder und Gedanken wollten sich nicht beruhigen.
Das Publikum applaudierte, wie ich es in Hannover lange nicht mehr erlebt habe. Das galt sicher dieser unglaublichen Inszenierung.
Aber: was ist mit dem Inhalt? Was ist mit der Frage der Revolution, die Müller ja durchaus stellt. Der wohlhabende Debuisson verrät die Revolution und wird wieder zum Bourgeois, der gut leben möchte; der Bauer (das Proletariat?) und der Schwarze (die Ausgebeuteten und Unterdrückten der südlichen Länder?) wollen den Aufstand und scheitern. Das Publikum applaudiert. Welche politische Haltung hat es?
Der Abend endete mit einem Aufruf zu Spenden für den Hannoveraner Flüchtlingsrat, die Schauspielerinnen und Schauspieler standen am Ausgang und sammelten. Gut so. Keine Revolution, aber auch wichtig.
Der Auftrag, Gastspiel Berlin: bunter Stilmix
Gastspiel am DT Berlin mit anschließendem Videoschnipselvortrag

"Der Auftrag" als bunter Stilmix mit Pudel-Ballett, "Vom Winde verweht"-Parodie, wehenden roten Fahnen und Corinna Harfouch im Pierrot-Kostüm

Im Zentrum der Clownerien steht der Text, eingespielt als Tonband-Mitschnitt der Volksbühnen-Lesung (1980). Die Schauspieler bewegen die Lippen zum Playback von Müllers charakterischem Raunen.

Mehr über das Gastspiel und die anschließenden großartigen Schnipsel-Fundstücke:
http://daskulturblog.com/2016/03/29/heiner-mueller-revue-der-auftrag-zu-gast-in-berlinund-videoschnipsel-von-kuttner/
Der Auftrag, Gastspiel Berlin: gedankenfetzig
Hier prallt das Vergangene auf die Gegenwart, ist ersteres selbst vergangen – der Text ist ja über weite Strecken ein Rückblick – und letzteres ebenso: Wer geht denn heute noch in den Zirkus. So zerbrechen die Ebenen, driften auseinander wie arktische Eisschollen in Folge des Klimawandels. Auf ihnen treiben uralte Wünsche und Träume der Menschheit nach Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden. Worte nur, erstarrt, gebannt auf alten Tonbändern, wo sie längst ihrer Bedeutung beraubt sind. Füllwörter. Die Kühnel und Kuttner in bunte symbolschwangere Bilder und gern auch albern überzogene Assoziationsreigen übersetzen, die sich erst langsam und mühselig in irgendeine Art von Beziehung mit dem geschriebenen und gesprochenen Wort hineinspielen müssen.

2015 hatte der Abend Premiere, zu einer Zeit, als der Begriff Revolution sicher in Geschichtsbüchern verwahrt schien. Jetzt, vier Jahre später, ist er plötzlich wieder aufgetaucht, usurpiert von seinen Erzfeinden, mutierend zu einem rechten Kampfbegriff, der den Umsturz einst revolutionärer Gesellschaftsformen, die Abschaffung all jener Errungenschaften will, die selbst die Blutbäder der Guillotinen überlebten. Und so klingt das Ende diese Abends heute womöglich anders als bei seiner Premiere. Die Bühne ist leer, Müller Wort dröhnen, entkörperlicht, davon in das Nichts, aus dem sie kamen. Ein einzelnes Spotlight erhellt die Bühne. Doch niemand steht in seinem Kreis, niemand tritt hinein. Der Mensch, das revolutionäre, weltverändernde Wesen bleibt abwesend. Es wird dunkel.

Und lässt Fragen offen: Teilt der Abend den Müllerschen Pessimismus oder offeriert er in seiner verspielt vielstimmigen Bildererfindung Wege, das einst Gescheiterte neu zu denken, verbirgt sich in der Juxtaposition des Nichtpassenden, der intellektuellen und zirzensischen, vergangenen und gegenwärtigen, papiernen und physischen Ebenen so etwas wie ein Rest Hoffnung? Lädt er ein, den Lichtktreis zu füllen, bevor es andere tun, welche die Dunkelheit permanent machen wollen? Ruft er die Stunde der Zauberer aus, des Theaters als Möglichketen denkbar machender Traumort? Vielleicht. In jedem Fall steckt der Kopf am Ende dieser 100 Minuten voller Bilder, gedankenfetzen, assoziativer Ansätze, die weitergesponnen werden wollen, sich festhaken und insistieren, beachtet zu werden.. Was mehr will Theater eigentlich können?

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/01/24/die-stunde-der-zauberer/
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