Geheiligter Schuldner

Darmstadt, 14. Juni 2015. Als Mitinitiatorin der Kunstaktion, die die Gala-Datterich Aufführung am 10.6.2015 unterbrach, ist es mir zunächst wichtig zu klären, wie diese entstanden ist und welche inhaltlichen Anliegen sie motiviert haben. Dabei handelte es sich nicht um eine geplante Aktion des Theaterensembles oder der Regie der Produktion "Schulden. Eine Befreiung", sondern um eine, die spontan nach dem Applaus und mit den Zuschauer_innen der Mittwochsvorstellung entstanden ist. Dieses Projekt hat als experimentelles Gesamtkunstwerk über neun Tage hinweg ein dionysisches Forum in der Stadt geschaffen, das jeden Tag mit neuen performativen Aktionen die in Europa brennende Schuldenproblematik thematisiert und mit verschiedenen interaktiven Formaten das Publikum teilweise als Akteure darin mit eingebunden hat.

Aus dieser Situation heraus kam nach dem Schlussapplaus an jenem Abend folgende Debatte auf: Es erschien absurd, dass auf der Hauptbühne des Darmstädter Staatstheaters zur gleichen Zeit das die Schuldenlogik der Gläubiger parodierende Theaterstück über den Schuldner Datterich vonstatten ging. Und zwar mit Darsteller_innen, die mit ihrer Medienberichterstattung und Politik explizit gegen die heutigen Schuldner handeln, etwa die Griechen. Vor dem Hintergrund der Griechenlandberichterstattung von Focus und BILD stehen die Herren Markwort und Döpfner gerade für diejenigen, die allein im Interesse der Gläubiger(-banken) schreiben. Außer dem Publikum haben die Aktion ich selbst sowie die Schauspielerin Susanne Bredehöft und der bekannte Perfomer Julian Blaue aus Norwegen durchgeführt.

Diffamierung und Griechen-Witze

Da aufgrund der Spontanität der Aktion die Kritik nicht ausreichend akustisch vermittelt werden konnte, wollen wir die inhaltliche Motivation der Aktion explizit machen: Wir haben dem Schuldner gehuldigt mit dem Mantra : "Oh Schuldner, geheiligt sei, dass du die Schuldenlogik nicht verstehen willst... die Mathematik deines Unverständnisses sei die Philosophie unseres Dionysiums". Diese performativ-poetische Huldigung basiert auf die in David Graebers Werk "Schulden – die letzten 5000 Jahre" formulierte These, dass das Verhältnis von Herr und Knecht sich heute als das der Herrschaft von Gläubigern über Schuldner manifestiert - siehe auch die Schuldensituation des Globalen Südens.

Demnach beabsichtigten wir mit unseren Rufen "Die Gläubiger dürfen nicht die Schuldner spielen" zu kritisieren, dass im Promi-Datterich diejenigen, die für die Gläubiger einstehen, mit dem Schicksal der Schuldner auf der Bühne kokettieren und ihre Armut romantisieren, während sie aus ihren Büros die heutigen Datterichs als "faul" und "raffgierig" diffamieren. Es geht nicht darum, dass Reiche nicht die Armen im Theater spielen dürfen, sondern um die konkrete politische Verantwortlichkeit der Darsteller des Gala-"Datterich" in der europäischen Schuldenkrise. Dass in den ursprünglichen Text von Niebergall immer wieder "Griechen-Witze" eingemischt wurden, bestätigt nur, dass wir, die wir eine Woche lang mit griechischen antiken Gewändern uns explizit in die Rolle der Schuldner versetzten, recht getan haben, die Würde der Schuldner/Griechen durch die Intervention während der Aufführung zu verteidigen.

Es geht um reale Debatten

Verteidigen wollten wir aber auch Niebergalls Theatertext "Datterich": Wir kritisieren, dass jener radikale Text als naturalistischer und rückwärtsgewandter Kostümschinken inszeniert und damit seiner ursprünglichen Intention sowie jeder potentiell kritischen Ästhetik beraubt wurde. Natürlich geht es hierbei auch um den Konflikt zwischen verschiedenen Theaterlogiken: In der Tradition des interventionistischen Aktionstheaters ging es uns darum, reale Debatten um die heutige Dimension des Themas Schulden und der Geschichte des Datterich in Darmstadt anzustoßen. Nicht zuletzt sind wir deswegen auch zur Gala nach der Vorstellung geblieben, um mit dem Publikum der "Datterich"- Aufführung produktive Gespräche über den vielschichtigen Themenkomplex Schuldner, Datterich, Griechenlandberichterstattung und Theater zu führen.

Im Namen des „Schulden"- Ensembles: Margarita Tsomou, Mitwirkende in der Kunstaktion während der "Datterich"-Gala

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