Das Komplizierte begraben

von Dirk Pilz

16. Juni 2015. Heute zu den Toten. Das Zentrum für politische Schönheit (ZpS), landesweit seit dem Ersten Europäischen Mauerfall zu einiger Bekanntheit gekommen, hat eine neue Unternehmung angekündigt; sie heißt "Die Toten kommen".

kolumne dirkUm 10 Uhr sollen heute auf dem Muslimischen Friedhof in Berlin-Gatow eine Mutter und ihr zweijähriges Kind beerdigt werden. Es sind zwei Menschen, die auf der Flucht nach Europa um ihr Leben kamen. "Die Opfer der militärischen Abriegelung werden massenhaft verscharrt", sagt das ZpS, "sie tragen keine Namen. Sie bekommen keine Blumen. Und ihre Angehörigen werden nicht ermittelt." Ihnen die "letzte Ehre" zu erweisen, dient diese Berliner Bestattung. Weitere Beerdigungstermine werden, so heißt es, "aufgrund der politischen Brisanz und der zu erwartenden Repression kurzfristig kommuniziert". Am Sonntag startet zudem ein "Marsch der Entschlossenen", der Tote zum Kanzleramt bringen will, "um sie direkt vor den politischen Entscheidungsträgern zu beerdigen". Der Vorplatz des Kanzleramtes soll sich so zum "Friedhof für die 'unbekannten Einwanderer'" wandeln. Finanziert werden diese Beerdigungen dabei wesentlich durch eine Crowdfunding-Kampagne. 14.900 Euro braucht es pro Bestattung, 31.128 Euro waren Stand 6 Uhr heute beisammen.

Jede Unternehmung des ZpS löst dieselben Reflexe aus

Jede Unternehmung des ZpS löst dieselben Reflexe aus, diese auch. Schnell ist der Einwand im Raum, es gehe ihm lediglich um Aufmerksamkeit, also nur darum, sich wichtig zu machen. Noch schneller, es gehe hier um ein Spiel mit der Realität, das wahlweise als zynisch oder entlarvend, geschmack- oder pietätlos beschrieben wird. Häufig wird darüber hinaus die bange Frage diskutiert, inwiefern man es mit Kunst oder Politik zu tun habe.

Der Theaterbetrieb glänzt dabei mit einer Debatte darüber, ob das ZpS in die heiligen Bezirke der darstellenden Kunst eingelassen werden dürfe oder nicht (sehr schön zu beobachten beim diesjährigen Theatertreffen, zu dem der "Erste Europäische Mauerfall" nicht eingeladen wurde). Die Diskussion war einzig von der Frage geprägt, ob das ZpS eine Kunst betreibe, die Grenzen überschreite oder nicht, vor allem die Grenze zwischen Theater und Realität selbst – als wären die Grenzen von Begriffen entscheidender als die Grenzen Europas selbst.

Eine peinliche Diskussionskultur

Entsprechend generiert diese peinliche Diskussionskultur die Typen der Entschleierer und Durchblicker, die je verschieden vorgeben, zu begreifen, was eine Kunst oder Nicht-Kunst wie die des ZpS eigentlich bedeute. Zu den beliebtesten, allerdings auch geistesschlichtesten Argumenten zählt hier jenes, dass alles komplexer und komplizierter sei als es das ZpS aussehen lasse. Geistesschlicht ist dieser Einwand mangelnder Komplexität vor allem deshalb, weil er erstens suggeriert, man überblicke diese Komplexität (was so gut wie immer falsch ist), er zweitens unterstellt, dass Komplexität das ausschlaggebende Kriterium für künstlerische Qualität oder politischen Gehalt ist (was beides falsch ist) und man drittens sich damit von der Pflicht suspendiert, die vermeintliche Komplexität darzulegen. Es ist ein Null-Argument mit dem vertuscht werden soll, dass nichts zu sagen hat, wer es vorbringt.

"Die Toten kommen" ist weder komplex noch kompliziert. Die Unternehmung trifft eine denkbar klare und unmissverständliche Aussage. Sie lautet: Ich bin schuld. Schuld an einem Europa, das derart mit seinen Flüchtlingen umgeht. Schuld an einem Europa, das sich, statt sich diesen Flüchtlingen anzunehmen, mit Ersatzhandlungen befasst, mit dem ZpS zum Beispiel – und mit diesem Text.

Keiner wird künftig jedenfalls sagen können, nicht Bescheid gewusst zu haben. Aber Bescheidwissen ist kein Handeln. Was zu tun ist, wissen wir dabei alle. Die Frage ist: Warum tun wir es nicht? Ich vermute, nicht, weil alles so kompliziert ist, sondern so einfach.

 

dirk pilz5 kleinDirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne Experte des Monats schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.




Zum Experten des Monats Mai wurde Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner erkoren.

Über die Aktion Erster Europäischer Mauerfall im November 2014 berichtete Sophie Diesselhorst. Im Juli 2014 stellte sie das Zentrum für Politische Schönheit auf nachtkritk.de bereits in einem Porträt  vor.

André Mumot berichtete von der ersten Begräbniszeremonie von Die Toten kommen am 16. Juni auf dem Muslimischen Friedhof in Berlin-Gatow.

Esther Slevogt berichtete von Teil zwei der Aktion: dem Zug zum Kanzleramt und der Gräberaktion vor dem Berlner Reichstag.

Tweets zur Aktion unter #dietotenkommen:

 

 

 

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