Noise - Sebastian Nübling und das Junge Theater Basel fragen bei den Wiener Festwochen mitreißend intensiv nach zeitgemäßem Protest
The kids are alright
von Johannes Siegmund
Wien, 17. Juni 2015. Der wilde Schrei der Jugendlichen füllt die Halle mit reiner Intensität. Er dröhnt verstärkt aus dem Boxentrichter in der Mitte, reißt nicht ab. Unglaublich, mit was für einer Kraft die schreien. Keine Kategorisierungen! Gegen die Enge! Noise! AAAAHH! Der Schrei wischt alle Formen weg, er ist pure Möglichkeit. Und er stellt damit die Frage des Abends: In welchem zeitgemäßen Protest ließe sich diese Energie politisieren?
Smartphonezombies? – von wegen!
Anknüpfend an die perfekt designte Occupy-Ästhetik sucht Sebastian Nübling in "Noise" mit den Jugendlichen vom Jungen Theater Basel einen neuen politischen Körper und findet einen queeren, hochenergetisierten und wandlungsfähigen Cyborg. Wem das zu sehr nach Science-Fiction und Smartphonezombies klingt: The kids are allright. Auch die technologisch aufgerüsteten Körper berühren sich, verlieben sich, trinken, tanzen, musizieren, haben Sex, empfinden vielfältige Emotionen und machen all die anderen Dinge, die Menschen so machen.
Dafür richten die acht Jugendlichen zunächst gemeinsam die Lagerhalle der alten Wiener Sargfabrik ein, wo die Koproduktion mit den Wiener Festwochen Premiere feiert. Sie ziehen weiße Stoffbahnen als Leinwände hoch, trennen den Raum in zwei Teile und lassen das Publikum auf der einen Seite zusammenrücken. Wie im Auge des Sturms hängt der Boxenturm von der Decke, in den sie sich mit ihren Smartphones einstöpseln. Sie spielen, chatten, sind online unterwegs, irgendwo in den digitalen Weiten. Mit dabei sind ab jetzt eine Kamera und ein Mikrophon, die alles vervielfältigen. Auf die Leinwände werden die Gesichter und die Smartphonescreens geworfen. Die Social Media machen bling bling, in Spielen werden Dinosaurier gestreichelt, Abenteuerlandschaften rauschen vorbei. Die Halle ist dunkel.
Zwischen Cyborgmanifesto und Akzelerationismus
Dann schaltet die Inszenierung einen Gang höher. Die Schauspieler*innen fahren einen Laufsteg in die Halle, ziehen Kleider, enge oder auch gar keine Shirts an, posieren, laufen durch den Raum. Die Kamera filmt Zungen, erotische Blicke, Berührungen, Haut. Alles geschieht mehrfach, auf der Leinwand, auf dem Smartphone, im Raum.
Die "Welt mannigfaltiger Simulation" reflektieren die Spieler*innen auch durch Sprechchöre und Theoriezitate. Während sie durch die Halle ziehen, sich durchs Publikum drängen oder sich auf den Schultern tragen, wird ein wilder Thesenmix, irgendwo zwischen Cyborgmanifesto und Akzelerationismus, skandiert. Die Politik sei in der Dauerkrise gefangen, denn sie verstünde die Technologie nicht, die längst ein eigenständiger Akteur geworden sei. Die Macht bündele sich bei einigen Großkonzernen. Die alten politischen Formen der Kritik und des Protests seien machtlos geworden. Hoffnung wird hingegen in die Verwandlung durch queere Technologie gesetzt und auch, etwas zynisch, in den totalen Zusammenbruch.
Dazwischen intensive Soli, in denen einzelne sich die Kamera schnappen und authentisch, kräftig und wütend ihre Unterdrückung auf den Tisch packen. Sie wehren sich gegen Kategorisierungen als Frau oder Mann, als Mädchen, als psychisch krank, als unsportlich oder als schwarz. Diese Selbstbehauptung führt aber nicht in die Vereinzelung. Die anderen sind immer dabei, bewegen sich mit, trennen sich, um dann spielerisch oder choreografiert wieder zusammen zu finden. Dazu geben Smartphonemusik und der brillante Gesang den Jugendlichen einen gemeinsamen Beat.
Schreie, Sounds, Stroboskop
Noch ein Gang wird zugelegt. Die Schauspieler*innen strotzen vor Kraft, Überzeugung, Selbstbehauptung und Drive. Sie ziehen noch zwei Leinwände hoch und bitten das Publikum in den engen Raum in der Mitte der Halle, verteilen Bier und Wasser. Spätestens jetzt überschreiten wir eine Schwelle und formen eine lose Gemeinschaft. Zwischen den Leinwänden erwartet uns ein Konzert aus Schreien, wilden Sounds und Stroboskop, abrupter Stille und einem Sprechchor, der die Paradoxien einer politischen Bewegung offen legt. AAAAHH! – Stille – AAAAHH! Wie könnte sich eine nicht-identitäre Gemeinschaft bilden, die alle frei lässt und die trotzdem schlagkräftig ist? AAAAHH! Der letzte Schrei bleibt in der Halle stehen. Die Lebendigkeit der Jugendlichen ist Performance geworden, Kunst, politische Formensuche auch.
Ein mir unbekannter Herr im Anzug sagt vor der Tür zu mir: "Ich dachte, alle feiern jetzt eine Party." "Dachte ich irgendwie auch", sage ich. Und denke mir später: Vielleicht ist es gut, dass die Energie nicht in Feierei verpufft. So bleibt der Abend ein Versprechen. Ein wenig Utopie schimmert durch. Wie wäre das, jenseits von Identitätszwängen und Kommerz, ein politisch tanzender Körper zu werden, reine Intensität, Energie, Bewegung?
Noise
Texte von Guy Krneta und den Spieler*innen, angeregt von Armen Avanessian, Laurie Penny, Ryan Trecartin u. a.
Uraufführung
Regie: Sebastian Nübling, Musik: Tobias Koch, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Ursula Leuenberger, Dramaturgie: Uwe Heinrich, Licht / Technik: Heini Weber.
Mit: Sascha Bitterli, León Cremonini, Rabea Lüthi, Ann Mayer, Khadija Merzougue, Robin Nidecker, Lukas Stäuble, Denis Wagner.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Koproduktion Junges Theater Basel mit den Wiener Festwochen
www.festwochen.at
www.jungestheaterbasel.ch
Bei den Wiener Festwochen besprach nachtkritik.de außerdem Der Fall Švejk (Regie: Dušan David Pařízek), Kings of War (Ivo van Hove), Die Brüder Karamasow (Regie: Frank Castorf), John Gabriel Borkman (Regie: Simon Stone), Edward II. Die Liebe bin ich (Regie: Nora Schlocker), Antigonón, un contingente épico (Regie: Carlos Diaz), The Apple Family Plays (Regie: Richard Nelson) und Tote Seelen (Regie: Kirill Serebrennikow).
Zu Beginn der Saison inszenierte Sebastian Nübling mit jungen Schauspielern am Gorki Theater Berlin open air die Gewalterforschungs-Performance Fallen.
Kritikenrundschau
"Noise" sei "kein großer Abschluss" der Wiener Festwochen, befindet Ronald Pohl im Standard (19.6.2015). Die Aufführung sei "ein Produkt angewandter Kapitalismuskritik", in dem "die Angst vor dem Stillstand" gäre. "Die jungen Darsteller – Schauspieler wird man sie nicht nennen wollen – halten niemals still." In "hundert kleinen Statements werde, man ahnt es schon: dem Kapitalismus der Prozess gemacht. Auf den Prüfstand gestellt wird das Nächstliegende. Die Veränderung der Welt beginnt beim eigenen Ich. Schlecht ist, was die Lust am Leben auf die Normen der Kultur- und Bewusstseinsindustrie herunterbricht." Sätze wie "Bewegen kann sich nur der Einzelne. Wir. Also ich." sind Pohl zufolge, "gelinde gesagt, Quatsch." Und so stehe Noise, "mit seinem sympathisch dampfenden Hyperaktivismus, unter Kitschverdacht."
Zu ganz anderen Schlüssen kommt Norbert Mayer in der Presse (19.6.2015): Die Performance rühre tatsächlich, "dem Jungen Theater Basel ist ein außergewöhnlicher Abend gelungen, die Regiearbeit zählt zu den besten von Nübling. Man meint nach diesen nicht einmal zwei Stunden tatsächlich ganz ernsthaft, die nächsten Generationen etwas besser zu verstehen." Die jugendliche Truppe vermittle "in offener Art das Lebensgefühl heutiger Jugend am Rand der Leistungsgesellschaft (...) Bei all den Enttäuschungen, traurigen Schilderungen von Rassismus, Ambiguitäten von Patchwork-Familien, Gruppenzwang bei Partys und angeblich cooler Beliebigkeit in der Sexualität spürt man immer auch ungeheure Energie, ja Lebensfreude."
Auf dem Online-Portal des ORF (Zugriff 19.6.2015) schreibt Sophia Felbermair: "Nübling hat eine Frage als Ausgangspunkt vor seine theatralische Suche nach Antworten gestellt: 'Überall wird nach Freiraum geschrien/ geschrieben/demonstriert. Aber wofür wird dieser Raum eigentlich gebraucht?' Gefunden hat er viele verschiedene Antworten - von denen sich der Großteil auf eine Grundaussage eindampfen lässt: um (einfach und bedingungslos) sein zu dürfen". Vieles in "Noise" sei "extrem. Nicht nur extrem laut. Einige der erzählten Episoden gehen unter die Haut, Erlebnisse in zerrütteten Familien und Drogenerlebnissen etwa. Vieles ist aber ganz einfach nur völlig normal für Erwachsene, die sich an die eigene Jugend erinnern können."
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