Das Tataratà der Sumpfblüten

von Peter Schneeberger

Wien, 7. März 2008. Der Dichter hatte eine simple Erklärung, warum die Menschen sein Stück nicht mochten. "Der Widerwille eines Teiles des Publikums beruht wohl darauf, dass dieser Teil sich in den Personen auf der Bühne selbst erkennt." Und im Falle von Ödon von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald", uraufgeführt 1931 im Deutschen Theater Berlin, war dies eine höchst unvergnügliche Selbsterfahrung. Immerhin porträtierte Horváth grauenvolle Monster.

Der Bankangestellte Alfred beispielsweise ist kein guter Mensch. Zwar gelegentlich von Selbstzweifeln geplagt, schickt er seine Freundin Marianne nach wenigen Wochen zarter Zweisamkeit schnurstracks ins Bordell und meint zum Tod ihres gemeinsamen Kindes bloß: "Man setzt sich nicht fort und stirbt aus. Schad!"

Globaler Wahnsinn in der Wachau?

Derartige Gehässigkeiten stießen der Kritik sauer auf. "Horváth nennt sein Stück ein Volksstück", schnaubte ein Wiener Kritiker nach der österreichischen Erstaufführung 1948. "Was aber haben diese innerlich durch und durch faulen Lemuren, diese Sumpfblüten, die in jeder Großstadt gedeihen können, mit dem Volk von Wien zu tun?" Die Inszenierung von Hans Jungbauer ging als einer der größten Theaterskandale in die Aufführungsgeschichte Österreichs ein.

60 Jahre später wird Horváth im Wiener Volkstheater anstandslos beklatscht. Ist das Wiener Vorstadtmilieu der 30er Jahre nicht längst versunken? Sind die Abgründe der Figuren nicht ein liebgewordenes Wien-Klischee? Regisseur Georg Schmiedleitner hat in Interviews vor der Premiere redlich versucht, Gegenwart aus dem Stück herauszulesen. "Die Figuren sind alle heillos überfordert", sagte er dem "Kurier". "Deshalb ist das Stück zu jeder Zeit aktuell. Auch uns droht eine allgemeine Überforderung des globalen Wahnsinns." So sehr er sich auch mühte: Etwas anderes als derart profane Aktualisierungen kamen ihm nicht in den Sinn.

Ein überdeutlicher Teddybär

Also verpflanzte Schmiedleitner das Stück in eine Bühne (Stefan Brandtmayr), die zwar keine Wien-Klischees bedient, aber auch sonst nichts erklärt, wenig zeigt und noch weniger will. Der Boden ist schicksalhaft gewellt, zwei leere Zimmer fungieren als Zauberkönigs Puppenfabrik beziehungsweise Valeries Tabak-Trafik, bloß im Hintergrund räkeln sich – so viel Wachau muss sein – grüne Weinreben gen Himmel empor.

Tataratà!, die Falltür im Bühnenboden klappt auf und heraus springt Havlitschek, der Metzgergeselle mit blutigen Händen, der ein kleines Mädchen, dem seine Wurst nicht schmeckt, am liebsten "abstechen" würde, "und wenn es dann auch mit dem Messer in der Gurgel herumrennen müsst, wie die gestrige Sau".

Tataratà!, die zwei Schiebetüren in der Kulisse sausen auf und mitten im Geschäft des Wiener Zinnsoldaten-Händlers Zauberkönig hockt symbolträchtig ein überlebensgroßer Teddybär. Schmiedleitner, der 2005 den Nestroy Theaterpreis für die beste Off-Produktion mit nach Hause nehmen konnte, rettet sich am Wiener Volkstheater mit überdeutlichen Effekten durch den Abend. Marianne, das unglückselige Kind, klappt wirkungsvoll zusammen vor Schmerz, als ihr Vater eine Verlobung gegen ihren Willen verkündet. Ihre große Liebe Alfred wiederum ist ein lässiger Kerl – das bezeugt das coole Lederarmband, das er am Handgelenk trägt.

Tödliche Horváth-Umarmung

Zwar gelingen dem starbesetzten Ensemble immer wieder stimmige Szenen. Maria Bill setzt dem Abend als schamlose Valerie schauspielerische Glanzlichter auf, Katharina Vötter treibt ihrer Marianne jede falsche Mädelhaftigkeit aus: In dem scheinbar naiv-romantischem Ding entdeckt sie erfolgreich eine der großen emanzipierten Frauengestalten der Dramenliteratur. Doch fehlt Schmiedleitner ein entschiedener Zugriff auf das Stück. Drei Stunden lang wird nicht deutlich, was ihn an Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" eigentlich interessiert. Der Abend nimmt auf gediegenem Niveau seinen Lauf, Robert Palfrader liefert als Oskar brav berühmte Sentenzen ab ("Man ist und bleibt allein") und Michael Schottenberg verkleinert seinen Zauberkönig folgenlos zur Kabarettfigur.

"Man wirft mir vor, ich sei zu derb, zu ekelhaft, zu unheimlich, zu zynisch und was es dergleichen noch an soliden, gediegenen Eigenschaften gibt – und man übersieht dabei, dass ich doch kein anderes Bestreben habe, als die Welt so zu schildern, wie sie halt leider ist", notierte Horváth verärgert 1932. Heute hat das Publikum die Gemeinheiten seiner Figuren ins Herz geschlossen. Dass derartige Umarmungen auch tödlich sein können, wusste niemand besser als Horváth selbst. Schließlich meint Oskar zu Marianne in den "Geschichten aus dem Wiener Wald" finster: "Du entkommst meiner Liebe nicht."


Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Regie: Georg Schmiedleitner, Bühne: Stefan Brandtmayr, Kostüme: Elke Gattinger. Mit: Marcello de Nardo, Beatrice Frey, Erni Mangold, Günther Wiederschwinger, Maria Bill, Robert Palfrader, Christoph F.Krutzler, Johannes Seilern, Johanna Mertinz, Katharina Vötter, Michael Schottenberg, Thomas Meczele, Annette Isabella Holzmann, Thomas Bauer.

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

In der Presse (10.3.2008) meint Norbert Mayer, dass Georg Schmiedleitners Horváth-Inszenierung am Wiener Volkstheater so gefällig sei, "dass man von einer simultanen Aufführung gleich dreier Stücke sprechen kann; eine Farce, ein hohes Drama und ein bisschen Horváth ist dabei in diesem ständigen Auf und Ab." Mit einem Teil des Ensembles sei "die Spiellust durchgegangen", woraus zwar ein "tierischer Spaß" resultiere, der aber "von der tragischen Hauptsache" ablenke.  Katharina Vötter als Protagonistin Marianne hingegen wirke "zuweilen so, als ob sie sich aus der 'Johanna von Orleans' ins falsche Stück verirrt hätte, so pathetisch wird ihr Ton." Immerhin wird der Alfred "von Marcello de Nardo tadellos gespielt", und Robert Palfrader, "der dem Kabarettistischen in dieser Inszenierung gänzlich widersteht", sei "als ernster, brutal-sensibler Fleischhauer Oskar ... die Entdeckung des Abends."

Im Standard (10.3.2008) bemerkt Ronald Pohl bedauernd, dass Schmiedleitner "nicht etwa Horváths Gespensterreigen" inszeniere – er fertige "von jeder Figur einen individuell gewürzten Brühwürfel an. Man soll die Gefühlsrohstoffe förmlich schmecken können ... Jede Figur soll, weil ihr Horváths Sätze wie kleine Ungeheuerlichkeiten von den Lippen plumpsen, gleich viel mehr sein, als sie ist." Es herrsche "eine symbolistisch durchsäuerte, von Sphärenklängen zugekleisterte Betriebsamkeit, die man als neobabylonische Sprachverwirrung charakterisieren könnte. Jede der auftretenden Figuren gelangt mit dem, was sie äußert, völlig zur Deckung. Dabei ist es doch der Unterschied zwischen dem, was jemand sagt, und demjenigen, was er damit 'eigentlich' meint, dasjenige, was die ausschlaggebende Differenz markiert. Sie reicht bei Horváth als Riss durch die ganze Schöpfung – und ist so viel mehr als das Typentheater, das sich das Ensemble müde abringt."

Guido Tartarotti antizipiert im Kurier (9.3.2008) die Verrisse seiner Kollegen: "Dass Georg Schmiedleitner für seine mutige, interessante, sympathische Inszenierung des Horvath-Klassikers viele gute Kritiken bekommen wird, ist ungefähr so wahrscheinlich wie die Heiligsprechung von Josef Hickersberger [Österreichs Fußballteamchef] nach der EM." Einen Vorwurf erhebt dann aber auch Tartarotti selbst: "die Entösterreicherung dieser Bosheitssymphonie" sei "nicht mit letzter Konsequenz durchgezogen." Schmiedleitner habe "in seiner Erzählung dieser Ballade von der Verblutwurstung eines Mädchens die heiligen Kühe und die Rampensäue schlachten, den Klassiker aus der Aufführungstradition holen" wollen. "Im Falle des Fleischhauers Oskar und seines Darstellers ... Robert Palfrader" sei "ihm das gelungen." Palfrader stelle sich "uneitel, präzise und mit leiser Gefährlichkeit in den Dienst der Sache, diesen Oskar nicht als seelisch verfetteten Menschenmetzger zu erzählen, sondern als ... heillos überforderten, in seiner Brutalität auch sehr zarten Mann."

"Viele schöne Bilder" gelängen Schmiedleitner und seinem Team in ihrer Horváth-Inszenierung am Volkstheater, räumt Eva Maria Klinger in der Wiener Zeitung (9.3.2008) ein. Und auch alle Figuren stimmten, "aber allen fehlt auch etwas". Marcello de Nardos Alfred sei "ein kalter, gerissener Gigolo, aber jene verführerische Perfidie eines Feschaks, auf den die Frauen reinfallen, fehlt ihm." Katharina Vötter als Marianne sei "eine Protest-Liebende ... Aber sollte sie nicht auch eine romantisch Liebende sein ...?" Robert Palfrader spiele "ein sympathisches, in sich gekehrtes großes Kind, ohne Gefährlichkeit. Vor diesem Oskar müsste Marianne nicht fliehen." Und die "lebenslustige Trafikantin Valerie der Maria Bill" sei zwar "nymphoman, wütend und vulgär, die Resignation über das Unabänderliche männlicher Ignoranz" aber vermisse man. Fazit: "Was sonst noch hinter dem genialen Horváth-Text steht, kann man sich ja denken."



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