Ich dachte, ich hätte ein Thema!

von Matthias Weigel

Berlin, 25. Juni 2015. Die Autorentheatertage am Deutschen Theater Berlin werden ja auch im Eigeninteresse nachhaltiger. Die vier auserwählten neue Theatertexte sind in diesem Jahr nicht nur einmalig in Werkstattinszenierungen zu sehen, sondern wandern als "vollwertige" Uraufführungen danach in die Repertoires der Theater in Wien, Berlin und Zürich. In den letzten Jahren ging es bei der Tiefstapelei der "Werkstattinszenierungen" eher darum, den öffentlichkeitswirksamen "Uraufführungs-Credit" nicht zu verbrauchen. Dabei grenzte es fast an Verschwendung, dass es bei der einen Aufführung im Rahmen der Langen Nacht der Autoren blieb.

In diesem Jahr lohnt sich die Arbeit der Regisseur*innen also auch noch mehr. Friederike Heller geht an die Inszenierung von Sascha Hargesheimers Stück "Archiv der Erschöpfung" (der dritte Text in der Reihe, hier die Nachtkritik der ersten beiden) so heran, wie man es bei den Autorentheatertagen erwartet: dem Text dienend, auf die Sprache konzentriert. So beginnt das Stück mit einer Kleinfamilienszene dicht auf einem Sofa gedrängt: Während eines Abendessens mit den üblichen frustrierten Gemeinheiten steht plötzlich Großmutter vor der Tür. Etwas sei ihr vors Auto gelaufen. Ein Tier? Oder gar…? Nein, weder noch: ein Erdbeben hat die Straße aufgerissen. "sagen wir dass es so angefangen hat. sagen wir so war es als die stadt begann sich zu erheben wie sonst nur tote es tun", schreibt Hargesheimer. Generell fast immer ohne Rollenzuweisung, Großschreibung oder Punkt; sei es aus Manierismus oder weil er den Leser zur Konzentration nötigen will.

"eine kleine masturbation ganz angenehm"

Denn eigentlich ist der Text ganz gut unterschiedlichen Sprecherpositionen zuzuordnen, wenn man ihn denn mal formal entziffert hat. Regisseurin Heller verteilt die Szenen in der Kleinfamilie, im Krankenhaus, am Kiosk, in der Stadtverwaltung – kurz in der Provinz – auf fünf Schauspieler*innen, die mehrmals ihre Rollen wechseln. Dabei übernimmt Daniel Hoevels nicht nur die (Haupt)rolle des Heimkehrers "Anders", sondern auch die Position des Erzählers, Kommentators. Sympathisch angespannt tänzelt er immer wieder in schräger Haltung auf das Publikum zu und trifft dabei den perfekten Ton: humorvoll, aber nicht ironisierend oder gar veralbernd.

archivderschoepfung2 560 arnodeclair hEher aufgescheucht als erschöpft: v.l.n.r. Lisa Hrdina, Almut Zilcher, Felix Goeser, Daniel Hoevels,
Markus Graf (aus dem Bild rennend) © Arno Declair

Was bei manchen Abschnitten gar nicht so einfach ist: "zuhause den wasserhahn aufdrehen eintauchen ins warme wasser die badewanne wie einen schild um sich herum tragend gewiegt werden die resonanz aus dem erdboden wird lauter wird im wasser verstärkt / eine kleine masturbation ganz angenehm das warme wasser und auch sonst alles ganz angenehm eigentlich angenehm dann klumpen von sperma im lauwarmen wasser das wasser eigentlich angenehm / eigentlich unbefriedigend eigentlich widerlich / sich selbst widerlich finden und im warmen wasser den alkohol merken das alleine sein auf einem level von körperlichem schmerz bemerken sich anziehen und zum supermarkt mehr bier kaufen ein bier kaufen lieber ein sechser mitnehmen falls das unsagbare überhand nimmt des nachts."

Der Besuch des Erdbebens

Hoevels aber arbeitet liebevoll immer wieder kleine Pointen raus, wie besonders auch Lisa Hrdina, die als Familienmutter im Zwist mit der Großmutter oder als "Azubine" in der Stadtverwaltung mit fast jedem Satz einen Knaller raushaut – allein durch ihre Haltung, ihre leicht zu laut oder knapp daneben gesprochenen Lamenti. 

Die große Geschichte der Stadt, die nicht von einer alten Dame, sondern eben einem Erdbeben heimgesucht wird, erzählt Hargesheimer nicht aus. Vielmehr schlittert er mit schnell wechselndem Personal nur so durch die Szenen, Hoevels liegt als Autor-Alter-Ego auch schonmal bei Almut Zilcher als Verlegerin auf der Meta-Couch: "ich meine ich dachte ich hätte ein thema / mehrmals sogar / aber immer wenn ich das denke merke ich / das ist gar nicht mein thema / das ist das thema von jemand ganz anderem / oder / das remake von zwei oder drei büchern."

Daraus entsteht stellenweise der Eindruck einer Fingerübung in neuer Dramatik: ein bisschen Meta, ein bisschen Geschichte, eine große Metapher (Erdbeben), ein bisschen Masturbation. Friederike Heller macht daraus mit der (elektronischen) Musik ihres treuen Wegbegleiters Peter Thiessen von der Band Kante eine unterhaltsame, anständige Uraufführung, die nicht aneckt oder weh tut – wahrscheinlich weder beim Publikum noch beim Autor.

Archiv der Erschöpfung
von Sascha Hargesheimer
Regie: Friederike Heller, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musik: Peter Thiessen (Kante), Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Felix Goeser, Markus Graf, Daniel Hoevels, Lisa Hrdina, Peter Thiessen (Kante), Almut Zilcher.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Das "Archiv der Erschöpfung" sei mehr poetische Zustandsbeschreibung als Stück mit Handlung, so übersetze es Friederike Heller, schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (29.6.2015). "Piff Paff sagt ihre Inszenierung. Genauer: lässt sie singen." Denn Hellers langjähriger musikalischer Wegbegleiter Peter Thiessen von der Hamburger Band Kante sorge für unheilvoll wabernde Atmosphären, während das Ensemble farcefreudig sprachchoreografiert durch eine Bühnenlandschaft mit Gerüst und Metallrollo tänzelt. "Hargesheimers Text fordert Abrissbirnen-Fantasie. Heller liefert Aufsage-Akrobatik."

 

 

Kommentare  
Archiv der Erschöpfung, Berlin: routiniert
Sabine Kohlstedts Bühne öffnet sich in Häppchen: Zunächst ist da ein Sofa vor einer Jalousiewand, öffnet sich diese. sehen wie eine Art Bar- oder Kioskinterieur samt Musiker-Ecke für Peter Thiessen, mit dem Heller schon mehrfach zusammengearbeitet hat. Die Jalousie hebt sich weiter und enttarnt eine zweite Ebene, eine kahle Gerüstgalerie mit einsamem Bürosessel. Später hebt sich die zweite Rückwand und wie starren ins Nichts. Sascha Hargesheimers Text funktioniert so ähnlich: Level um Level wird eröffnet und am Ende ist da die große Leere. Dystopisches Szenario oder Albtraum? Der Text bleibt unentschieden, Hellers Inszenierung nivelliert jegliche Ambivalenz. Stattdessen überschüttet sie alles mit Thiessens monoton plätschernderm Elektro-Mix, der ebenso erschöpft wirkt, wie die Welt dem Text nach sein soll. Die ständigen Tonfallwechsel rattert Heller routiniert und reichlich gelangweilt herunter, lässt das exzellente Ensemble mal ein wenig überzeichnen, mal in nicht pathosfreien Ernst kippen. Doch bleibt alles beliebig, wirkt alles bemüht. Vielleicht ist das Konzept, soll es die im Titel vorgegebene Ermüdung symbolisieren. Doch wirkt es vor allem lust- und antriebslos, überträgt der Abend die Erschöpfung und Leere schnell auf den Zuschauer. Ist es auch Langeweile, hat es doch – vielleicht – Methode. Dafür, dass sich beim Zuschauer irgendetwas festsetzt, Erkenntnis gar, sorgt es nicht.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/06/26/ein-leerstuck/#more-4606
Archiv der Erschöpfung, Berlin: Erdgasbohrung
Ein Erdbeben? Wirklich? Ich dachte, es geht um Erdgasbohrungen, die der Stadt zwar Geld bringen, aber sie eben auch von innen heraus zerstören. Deshalb erhebt sich die Stadt, bricht letztlich auseinander, überall tauchen Risse auf. Der Bürgermeister versucht, diese Folgen zu verschleiern, damit die Kommune nicht zahlen muss. Also kein unverschuldetes Naturereignis, sondern eine menschgemachte Katastrophe, letztlich also eine Kapitalismuskritik. Das ist wirklich etwas ganz anderes. Hat mich auch an Fritz Kater erinnert. Herr Weigel, haben Sie den Text von Hargesheimer überhaupt gelesen???
Archiv der Erschöpfung, Berlin: Tschechow lässt grüßen
Die von Umwelt-NGOs beschworenen Ängste vor dem Fracking sind hier Realität geworden. Die Erdgasbohrungen führten zu Rissen, zunächst in den tieferen Schichten, dann auch im Asphalt.

Im "Archiv der Erschöpfung" dient das umstrittene Fracking als Chiffre für eine Gesellschaft, die das dumpfe Gefühl hat, den Boden unter den Füßen zu verlieren, sich aber nicht dazu durchringen kann, wirklich etwas zu unternehmen statt nur ein bisschen vor sich hin zu lamentieren. Dafür sind die meisten Figuren im "Archiv der Erschöpfung" auch viel zu lethargisch. Tschechow lässt grüßen, wenn eine Mascha durch die Kulissen geistert. Und wenn jemand doch mal versucht, die Initiative zu ergreifen, wird schnell wieder das Rollo heruntergelassen. Entweder wird er von den anderen ausgebremst oder er gibt gleich selbst wieder auf. Denn in dieser kleinen Stadt hat niemand einen Plan: Wie soll denn die erhoffte Veränderung aussehen? Ist sie überhaupt möglich?

Almut Zilcher kann die Situation mit ihrer Merkel-Raute nur kurz beruhigen. Aber irgendwann sind die Risse im Fundament nach den Erdgasbohrungen dann doch so tief, dass der Antrag beim Katastrophen-Hilfsfonds gestellt werden muss: „Vielleicht ist es gut / nicht mehr bloß auf Veränderung zu hoffen / sondern ihr nicht mehr entkommen zu können.“

Autor Sascha Hargesheimer, der an der Berliner UdK Szenisches Schreiben studiert hat, und Uraufführungs-Regisseurin Friederike Heller liefern eine gallige Zeitdiagnose, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Nach der Premiere bei den Autorentheatertagen wurde das "Archiv der Erschöpfung" ins Repertoire der Kammerspiele des Deutschen Theaters übernommen, lief aber schon bei der dritten Vorstellung vor spärlich besetzten Zuschauerreihen.

Mehr dazu hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25495-im-archiv-der-erschoepfung-zwischen-merkel-raute-schreib-blockade-und-fracking-aengsten.html
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