Schändung auf dem Markusplatz

von Christian Rakow

Berlin, 30. Juni 2015. Auf Postkarten sieht man den Markusplatz Venedig mitunter von Wasser überflutet. Wasser, das, so ahnt man, den Unrat des Tages verdeckt: zertretene Weintrauben, Tücher, hingeworfenes Spielzeug. Nur hocken auf solchen Karten für gewöhnlich nicht zehn gut trainierte Männer, wie unter Geburtswehen keuchend, an der Wand des Dogenpalasts. Und auch eine Bestattungslimousine mit geflügeltem Kuscheltier auf dem Dach schwebt eher selten vorüber. Das alles sieht man nur auf dem Markusplatz, wie Radikalperformerin Angélica Liddell ihn ins Haus der Berliner Festspiele gebaut hat, für die "Foreign Affairs"-Deutschlandpremiere von "You Are My Destiny (lo stupro di Lucrezia)".

Schmerz und Lust

Wenn bei Liddell Wasser schwappt, dann kommt der Unrat erst recht zutage. Auch bildlich gesprochen. Venedig, so stellt Liddell in einem Tagebuch- Prolog voran, sei der Ort ihrer Vergewaltigung, einer realen oder geträumten, das bleibt offen. Das biographisch anmutende Intro weicht schnell dem Spiel mit der mythischen Folie: der im Untertitel des Stückes zitierten Vergewaltigung der Lucrezia. Das römisch-antike Missbrauchsopfer wählte im Anschluss an die "Schändung" den Selbstmord, um sich eines hehren Tugendideals zu versichern. Bei Liddell nimmt sie sich den Täter Tarquinius zum Mann. Die spanische Regisseurin deutet "das Vergewaltigungstrauma als Liebesgeschichte um", wie es im Programmzettel heißt. "Ich interessiere mich für Gefühlsverwirrungen, für das Verstehen der Beziehung zwischen Begehren und Schmerz", so Liddell.

youaremydestiny3 560 brigitte enguerand uRoter Raum, große Symbolik: Angélica Liddell (im Hintergrund) in "You are my Destiny" 
© Brigitte Enguerand

Wie bitte, Vergewaltigung als eigentliche Lusterfahrung, der Täter als Traumpartner??? Stockholm-Syndrom auf venezianisch??? Die übergroßen ethischen Fragezeichen, die sich an eine solche Interpretation stellen, lassen sich allenfalls provisorisch verdrängen, wenn man dem Abend denn zugestehen will, dass er ohnehin keinen sozialen Resonanzraum sucht. In privatistischer Manier stochert Liddell in den besagten "Gefühlsverwirrungen", die ihr zunehmend zu metaphysischen Verwirrungen geraten. Das Ineins-Sein von Schmerz- und Lusterfahrung gilt ihr irgendwie als Disposition des Menschlichen schlechthin, als Daseinsgrund. In der "Zerbrechlichkeit" bestätigt sich das Leben.

Katholischer Bilderschatz

Der krude Vitalismus gießt sich in durchaus gängige Konfektionsbilder aus dem Handbuch der Performing Arts. Der Zehnertrupp Männer hämmert hitzig auf Trommeln, wenn die Vergewaltigung symbolisiert werden soll. Liddell kreischt dazu mit Hall unterlegt und tanzt in ihrem türkisenen Prinzessinnenrock, darüber eine Lederjacke, alles in allem ein wenig wie die jüngere Schwester von Teufelsgitarrist Steve Vai. Bald werden sich die Männer in die Gebärhocke begeben, ehe eine nackte Lucrezia sich einem jeden von ihnen in den Arm schmiegt und sich zwischen den Beinen befühlen lässt.

Liddell hat all das fraglos mit größter innerer Beteiligung ersonnen. Überall schlagen sich die Performer*innen inbrünstig gegen die Brust, die Muskeln brennen, Schweiß fließt. Der katholische Bilderschatz mit allen Selbstkasteiungen und Waschungen wird weidlich ausgekostet. Drei ukrainische Sänger speisen Liedgut aus dem Hause des Herrn ein, und Kirchenglocken läuten. Eine zehnköpfige Kinderriege – in Korrespondenz zu den zehn Mannsbildern – verströmt das Pathos des unglücklich geborenen Lebens. "Ihr sollt Gesten machen, die zeigen, dass menschliche Zerbrechlichkeit zugegen war", heißt es einmal. Aber die Gesten künden nur von der menschlichen Zurschaustellbarkeit.

Getuschte Postkarte

Alles wirkt wie mit greller Tusche nachbearbeitet, wie kunsthandwerkliche Postkarten, die man am Markusplatz kaufen könnte. Postkarten aus Performistan, einem fernen Land, in dem Pathos die Inlandswährung und enervierende Langsamkeit der Zinssatz ist. Gern wäre man Liddell in dieses Land nachgereist. Aber das Visum war heute nicht zu haben.

You Are My Destiny (lo stupro di Lucrezia)
von Angélica Liddell / Atra Bilis Teatro
Deutsche Erstaufführung
Text, Regie, Bühne und Kostüm: Angélica Liddell, Italienische Übersetzung: Marilena de Chiara, Übersetzung: Monika Kalitzke, Übertitel: Victoria Aime, Licht: Carlos Marquerie, Ton: Antonio Navarro, Kostüme: Pipa & Milagros, Hauben: Carolina Rivas, Regieassistenz und Inspizienz: Julio Provencio, Produktionsmanagement Génica Montalbano, Sindo Puche, Saité Ye, Übersetzung: 36caracteres.
Mit: Joele Anastasi, Fabián Augusto, Ugo Giacomazzi, Julian Isenia, Lola Jiménez, Antonio L. Pedraza, Andrea Lanciotti, Angélica Liddell, Borja López, Emilio Marchese, Antonio Pauletta, Roberto de Sarno, Isaac Torres, Antonio Veneziano und Acelya Aydinoglu, Jona Eisenblätter, Carlo Healy, Simon Kux, Lea Metscher, Serafin Mishiev, Jenja Schichau, Nina Semmelroggen, Anny Siting Yang, Kian Weichert (Miguel Dymarczyck, Lilly Matschonschek) Ukrainischer Chor Free Voice (Anatolii Landar, Oleksii Ievdokimov, Mykhailo Lytvynenko)
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.berlinerfestspiele.de

 

Mehr über die Performance-Künstlerin Angélica Liddell finden Sie im nachtkritik.de-Lexikon.

 
Kritikenrundschau

Liddells "Umdeutung vom Mythos der geschändeten Lucretia" findet Sandra Luzina vom Tagesspiegel (2.7.2015) "nicht nur befremdlich, sondern auch höchst ärgerlich". Es sei die Rede von einer "sanften Vergewaltigung"; Lucretia erkenne bei Liddell, "dass ihr Peiniger sie als Einziger je geliebt" habe. "Solche schwülstigen Frauenfantasien sind kaum auszuhalten", so Luzina. "Die Bühnenmesse mit ihrer Melange aus Katholizismus, Kitsch und Performance-Entgrenzung rutscht ins Lächerliche ab."

 

mehr nachtkritiken