Danach die ganze Welt

von Falk Schreiber

Hamburg, 3. Juli 2015. Mein Verhältnis zum Stadttheater hat zunächst einmal mit Sex zu tun. Ich bin in den Achtzigern in einer kleinen Stadt aufgewachsen, in Ulm, und was über kleine Städte zu sagen ist, sangen schon Lou Reed und John Cale: "When you're growing up in a small town/bad skin, bad eyes, gay and fatty/people look at you funny/when you're in a small town." ("Smalltown", in: Lou Reed/John Cale: "Songs for Drella", 1990) Will sagen: In kleinen Städten gibt es nichts zu wollen, ästhetisch und menschlich. Ob man nun schlechte Haut hat, schwul ist oder dicklich oder anderweitig nicht ins Raster passt. Das abendliche Entertainment der Sechzehnjährigen verantworteten (meist kirchliche) Jugendgruppen und Sportverein, na danke auch. Das Aufwachsen in einer Kleinstadt hätte die Hölle sein können, in den Achtzigern.

Kleinstadt-Einstiegsdroge

Hätte. Wäre da nicht die Institution Theater gewesen. Ich will nichts beschönigen: Das Ulmer Theater erfand in den Achtzigern, während der Intendanz Pavel Fiebers, das Genre nicht neu. Aber das musste es auch nicht. Wichtig war, dass das Stadttheater ein Ort war, wo man hingehen konnte (in meinem Fall: wenn man aus "ordentlichen" Verhältnissen stammte. Und eine Aufgabe für die Institution ist heute auf jeden Fall, sich für andere als eben jene ordentlichen, also bildungsbürgerlichen Verhältnisse zu öffnen).

Um dann dort Dinge zu erleben, die im kleinstädtischen Alltag keinen Platz hatten. Lust am Zweckfreien, Lust am Geschichtenerzählen. Den Blick auf die Welt durch die ästhetische Brille. Heterogene Verhältnisse. Nicht zuletzt deviante Sexualität. Sexualität ist das Thema, das Sechzehnjährige naturgemäß sehr interessiert, und, meine Güte, das war Schwaben, das waren die Achtziger, Homosexualität etwa war in der Öffentlichkeit schlicht nicht sichtbar. Außer in Künstlerkreisen.

Ulm Theater vom Mnsterturm 280 G8w uNicht von Max Bill, aber gehört fest zu Ulm:
das Stadttheater © G8w

Machen wir uns nichts vor: Künstlerkreise, das heißt in der Kleinstadt auch heute noch Stadttheater. Freie Szene, schön und gut, aber in der Regel gibt es keine freie Szene in der Kleinstadt (was nicht heißt, dass es keine Ausnahmen gibt, die diese Regel bestätigen) – schon in Hamburg ist die freie Szene extrem überschaubar, weil sehr viel auf Berlin zentriert ist. Die Behauptung, dass die freie Gruppen den Humus darstellen, auf dem die Stadttheaterkultur aufblühen kann, ist zumindest in Bezug auf den kleinstädtischen Raum Blödsinn, vielmehr bildet das Stadttheater eine Einstiegsdroge, und wenn man sich an die erstmal gewöhnt hat, dann kann man auch mal in die Metropole fahren, um sich mit der freien Szene auseinanderzusetzen. Aber wenn es kein Stadttheater gibt, dann kommt man überhaupt nicht auf so eine Idee.

Gegenseitige Solidarität

In Gießen, wo ich studierte, trug das Stadttheater das in Sandstein gemeißelte Motto "Ein Denkmal bürgerlichen Gemeinsinns". Wir Studenten verachteten dieses ganze Setting. Alles, was dort passierte, war uncoole Konvention, die spannenden Sachen fanden im akademischen Rahmen statt oder in den Großstädten, in Frankfurt, in Berlin, am Besten gleich im Ausland. Auf keinen Fall am Stadttheater Gießen. (Was nichts daran änderte, dass wir ohne Zögern unsere Seele verkauft hätten, für eine unterbezahlte Dramaturgieassistenz am verachteten Haus.)

Der nackte wahnsinnulm 560 Ilja mess uImmer noch Fenster zur Welt? Szenenbild aus der Ulmer Inszenierung "Der nackte Wahnsinn"
aus dem Jahr 2014 © Ilja Mess

In der Rückschau muss man sagen: Das Motto war nicht schlecht. Das Bürgertum leistet sich mit dem Stadttheater, zumindest wenn es gut gemacht wird, einen Gegenentwurf zum bürgerlichen Leben. Stadttheater, das heißt Verschenken von Ressourcen, Feier der Unmoral, Infragestellen von Gewissheiten. Zumindest könnte es das heißen, oft heißt es Mängelverwaltung, da braucht man nicht die Augen vor zu verschließen: Ein Stadttheater braucht eine Stadt, die es finanziell und ideell stützt. Mancherorts funktioniert das, in Bremen, wo Michael Börgerding das Theater zum Diskussionsraum für ein hedonistisches Lebensgefühl macht, in Dortmund, wo Kay Voges das Theater zu einer Stadt im Umbruch hin öffnet. Und oft funktioniert es eben nicht, in Städten, wo man dem Theater die Solidarität explizit verweigert, in Wuppertal, in Schleswig.

Anreiz für mehr

Die meisten Künstler, die in den Achtzigern am Ulmer Theater arbeiteten, kamen nicht freiwillig in die Kleinstadt. Entsprechend war die Auseinandersetzung mit ihnen auch eine Auseinandersetzung mit dem baldigen Wegziehen, Künstler zu kennen, hieß in der Kleinstadt, die Möglichkeit einer Welt jenseits der Schwäbischen Alb zu kennen. Das Stadttheater war auch ein Fenster nach draußen, in einer ansonsten fensterlosen Welt, und man konnte im Stadttheater erkennen, dass es da draußen schön war, interessant, reizvoll. "There's only one good thing about a small town“, sangen Reed und Cale, "You hate it and you know you'll have to leave".

 

schreiber falk kleinFalk Schreiber, geboren 1972 in Ulm. Studierte Politik und Literaturwissenschaft in Tübingen und Gießen. Seit 2001 Theater- und Kunstredakteur bei kulturnews und uMag, lebt in Hamburg. Schreibt regelmäßig für Theater heute und junge Welt, Mitbegründer des Bloggerkollektivs Les Flâneurs, von 2013 bis 15 Jurymitglied der Hamburger Kulturbehörde im Förderbereich Tanz.

 

 

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Kommentare  
Wider das Wegsparen in der Provinz: mangelnde Solidarität für Wuppertal
Lieber Herr Schreiber,
guter Beitrag. Ich finde nur, dass das Beispiel Wuppertal - wieder einmal - zu Unrecht bemüht wird. Warum? Ich hätte Sie während meiner Intendanz dort gerne einmal begrüßt. Sie waren aber nicht da - woher also die Behauptung, das Theater dort "funktioniere" nicht? Ich hatte immer den Eindruck, das das (trotz Solidaritätsentzug seitens der Stadtspitze) eigentlich der Fall ist. Und jetzt ist dort eine neue Truppe, die die gleiche Unterstützung verdient hat, die ich von der Presse (und vom Publikum!) erhalten habe. Bitte! Nicht immer nur negativ über dieses Theater schreiben!
Viele Grüße,
Christian von Treskow
Wider das Wegsparen in der Provinz: Antwort des Autors
Lieber Herr von Treskow,
Sie haben natürlich recht damit, dass die neue Truppe am Wuppertaler Theater Solidarität verdient hätte. Allerdings eben vor allem Solidarität seitens der Lokalpolitik - und weil das Theater diese nicht bekommt, funktioniert es eben nicht, die Qualität der aktuellen Arbeit hat da gar keinen Einfluss drauf. Ein Schauspielenesemble, das, nur mal als Beispiel, in eine lieblose Spielstätte wie das Theater am Engelsgarten gezwungen wird, kann dort noch so tolle Inszenierungen abliefern, es bleibt abgeschoben. Theater braucht Unterstützung durch die Politik, und dass diese Unterstützung durch die Wuppertaler Stadtspitze ausbleibt, ist ein Skandal - der auch benannt werden muss. Entsprechend verstehe ich den von Ihnen kritisierten Satz nicht als "negativ über das Theater schreiben", sondern als Anklage gegen eine verwerfliche Kulturpolitik.
Viele Grüße, Falk Schreiber
P.S. Ich war übrigens mehrfach zu Ihrer Zeit in Wuppertal im Theater, habe aber tatsächlich nie über Sie geschrieben. Hat sich nie ergeben - aber das ist auch nicht primär meine Aufgabe, das müssen die Kolleginnen und Kollegen vor Ort machen.
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