Nur ein feiger Tropf verzagt!

von Tim Schomacker

Bremen, 4. Juli 2015. Und dann gibt es da diesen unerwartet zerbrechlichen Moment, in dem ein ausgewiesener Nichtopernsänger auf der ganz großen Bühne steht, in seinem Rücken den Mozartapparat der Bremer Philharmoniker, und beginnt – konzentriert, verschwitzt im vagen blauen Kostüm und mit augenscheinlicher Sorge vor den ersten Tönen – Pedrillos Arie "Frisch zum Kampfe!" zu singen.

Hauke Heumanns zuvor so souveräne und selbstverständliche Bühnenstimme wirkt plötzlich dünn, wie gezeichnet von einer unmöglichen Aufgabe, vom Diktat des "Nur ein feiger Tropf verzagt!". Kurz danach wird Heumann, seit einem Jahrzehnt schon Teil der deutsch-ivorischen Recherche-/Performance-Unternehmung Gintersdorfer/Klaßen, über diesen "seinen" Pedrillo sagen, er sei ein "Mann, der lustig ist, weil er Angst hat". Er wird über die reale Angst – hier, in diesem Moment, vorm Singenmüssen – sprechen, die die Kunst-Angst der Opern-Rolle füttere. Und auch davon, dass nach zehn Jahren dieser Art Theaterarbeit, eine gewisse Authentizitätsmüdigkeit eintrete, gelegentlich. Eine Aussage, die natürlich selbst schon wieder einer kunstvollen Echtness-Strategie folgt.

Recherchekünstler in der Gefühlsfabrik Oper

Für ihre Annäherung an die Gefühlsfabrik Oper haben sich Gintersdorfer/Klaßen ungewohnte Mitstreiter gesucht. Mit dem Bremer Generalmusikdirektor Markus Poschner (er dirigiert die auf der Hinterbühne platzierten Bremer Philharmoniker), mit der Goldene-Zitronen-Zentralinstanz Ted Gaier (am ausladenden Musik- und Mischpulttisch überm zugebauten Orchestergraben) und mit dem ivorischen Sänger und Sängerdarsteller SKelly (in schwarzer Perücke irgendwo zwischen Mozart und Hendrix am mobilen Elektrobeat-Tischchen) gibt es gleich drei Verantwortliche für die diversen musikalischen Stränge von "Les robots ne connaissent pas le blues oder Die Entführung aus dem Serail".

LesRobots3 560 KnutKlassen u"Les Robots" in Bremen © Knut Klassen

Ebenfalls mit von der Partie sind der Bremer Haus-Opernregisseur Benedikt von Peter sowie je zwei Opernsängerinnen und Sänger aus Litauen, Südkorea, den Vereinigten Staaten und Baden-Württemberg. Die Darsteller*innen, die ja bei Gintersdorfer/Klaßen traditionell viel in den Probenprozess einbringen, garantieren die Vielstimmigkeit des Gesprächs über "Die Entführung aus dem Serail“. Über Europa und das Fremde. Über Aufklärung hier und dort, damals und heute. Über Geschlechter und ihre Rollen dies- und jenseits der Bühnenkante. Über Musik vor und nach der Einführung von Facebook, wie SKelly einmal über seine Beats hinweg bemerkt.

Publikum in Bewegung

Gewissermaßen die gesammelten Notizzettel dieser gemeinsamen Annäherungsanstrengung werden nun ins Bühnengeschehen eingespeist. In einer Folge einander mehr oder weniger wechselseitig beleuchtender Bilder, Monologe, Gespräche und Choreographien. Das Publikum ist dabei eingeladen, sich zu bewegen, immer wieder neue Positionen einzunehmen, sich selbst eine musikalische Mischung herzustellen. Was dem Zuschauer eine andere Selbsterfahrung ermöglicht und auch inhaltlich gut passt: weil es in der Kunst ja immer auch um uns als Publikum geht – im Machen (Ariensingen, zum Beispiel) wie im Reflektieren: Die Sopranistin Nicole Chevalier entwickelt aus einem Monolog über die gesangstechnische Kühle als Grundlage großer Kunst-Emotion eine hinreißende Version der Konstanze-Arie "Martern aller Arten", in der sie das Korsett eigener Singanweisungen offenlegt, das sie sonst als innere Orientierung ganz bei sich trägt: "sehr klein anfangen...", "jetzt den Umschwung..."

Momente wie diese, in denen mit einfachsten Mitteln größte Erkenntnisgewinne erzielt werden, zählen zu den Stärken der oft karg und schlicht anmutenden Gintersdorfer/Klaßen-Performances. Es sind Momente, in denen Kommentar, Form und Ereignis geschickt in eins geblendet und vielgestaltig erleb- und erfahrbar gehalten werden. Die eingangs erwähnte Heumann-Episode ist so ein Moment. Oder die zum Mitklatschen animierende und dabei geschickt ungemütliche touristische Fremdheitsreflexe triggernden Rumpelpopeinlage à la turca. Oder wenn der Sänger und Tänzer Franck Yao der Sängerin Nerita Pokvytytė improvisierte Bewegungsabläufe zum Nachahmen vorgibt für ihre Blonde-Arie.

Sexyness ohne Außenwelttransfer

Irgendwie aber zerfließt die gewohnte szenische Strenge im großen Raum, verebbt die Performance an den Gestaden der kulturgeschichtlich so selbstbewussten Großform Oper. Vielleicht lag die Stärke früherer Gintersdorfer/Klaßen in Bremen darin, dass ihre Bezugspunkte vom Internationalen Strafgerichtshof bis zu Fragen nach afrikanischer Psychoanalyse nicht selbst schon Bühne waren. So dass etwas außerhalb des eigenen Terrains erkundet werden musste.

In dieser Mozart-Adaption bleiben bei aller Kurzweil der Szenenfolge, bei aller musikzentrierten Sexyness des Abends doch zu viele Fragen – ja eben nicht nur offen, sondern ungefragt. Den behaupteten Transport des "Serail"-Stoffs in gegenwärtige Weltlagen schafft "Les Robots..." zu wenig.

 

Les robots ne connaissent pas le blues oder Die Entführung aus dem Serail
von Ted Gaier, Gintersdorfer/Klaßen, Benedikt von Peter und Markus Poschner
mit Musik von Wolfgang Amadeus Mozart
Regie: Monika Gintersdorfer, Benedikt von Peter, Ausstattung: Knut Klaßen, Musikalische Leitung: Markus Poschner, Komposition und Sounddesign: Ted Gaier, Licht: Christopher Moos, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Mit: Bremer Philharmoniker, Nicole Chevalier, Gotta Depri, Ted Gaier, Hauke Heumann, Hyojong Kim, Nerita Pokvytytė, Eric Parfait Francis Taregue alias SKelly, Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star, Patrick Zielke.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de



Kritikenrundschau

"Ziel ist es, Mozarts Singspiel neu zu betrachten – ohne sich selbst zu ernst zu nehmen und ohne Mozart zu demontieren." Und Mozarts Evergreen "hält das erstaunlich gut aus", schreibt Anke Dürr auf Spiegel Online (6.7.2015). „Im Lauf des Abends bekommt das Ganze immer mehr den Charakter eines sehr fröhlichen Workshops – intelligentes Metatheater, bei dem nicht nur das Stück, sondern der ganze Opernbetrieb hinterfragt wird."

"Ein nachdenklicher Abend und pralles Theater zugleich“ ist diese Inszenierung für Ute Schalz-Laurenze von der Kreiszeitung (6.7.2015). Es gäbe darin "viele Ideen und Fragen auf einmal, vielleicht zu viel für einen Abend. Das Publikum jedenfalls hat keine Chance, einer eben gehörten Idee nachzugehen, es geht Schlag auf Schlag in einem derart kurzweiligen Tempo, dass im Nu die zweieinviertel Stunden ohne Pause herum sind." In den Selbstbefragungen der Inszenierung passiere "etwas Unglaubliches: die allzu bekannte Musik Mozarts gewinnt durch die afrikanische Kunst eine neue Frische, und die Gesangs- sowie Tanzkunst der Afrikaner wird durch die Musik Mozarts wunderbar herausgestellt."

Von einem erfrischenden Theatererlebnis berichtet Iris Hetscher für den Weser Kurier (6.7.2015). In der Aktualisierung des kanonischen Stoffes werde "gekonnt die Banalisierungs-Klippe umschifft". Einziges Manko des Abends für die Kritikerin: "Das Stück soll in Bremen nicht mehr zu sehen sein, sondern demnächst nur noch in Hamburg und Berlin. Schade."

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