Projektionen im Tunnel

von Wolfgang Behrens

Bayreuth, 25. Juli 2015. Eine "Handlung" hat Richard Wagner "Tristan und Isolde" im Untertitel genannt. Wüsste man nicht, dass Wagner mit Selbstironie nicht allzuviel am Hut hatte, könnte man das für eine solche halten, so auffällig ist der Mangel an äußerer Intrige im "Tristan" – nicht die geringste Schwierigkeit übrigens für die Regisseur*innen dieses Werks.

Mit mangelnder Intrige indes hat man bei den Bayreuther Festspielen selten Probleme: Was das Musikdrama an äußerer Handlung nicht hergibt, dafür sorgt man am besten selbst. Und so durfte man sich auch im Vorfeld der diesjährigen "Tristan"-Premiere, für die die Hausherrin und nebenberufliche Urenkelin Katharina Wagner verantwortlich zeichnete, wieder an einigen Kabalen laben. Da war von (echtem oder vermeintlichem) Schwesternzwist zu hören, weil Eva Wagner-Pasquier die Co-Leitung der Festspiele drangibt – oder drangeben muss? In den Medien flüsterte man sich gar böse und möglichst laut das Wort "Hausverbot" zu.

TristanundIsolde1 560 Enrico Nawrath uMetallspiralen im Gefängnishof, wo der König das ehebrecherische Liebespaar festsetzt
© Enrico Nawrath

Katalytische Entfesselung

Da wurden plötzlich neue Posten aus dem Boden gestampft, und Christian Thielemann fand sich als Musikdirektor der Festspiele (samt eigenem Parkplatzschild) inthronisiert. Schnell wähnte die öffentliche Meinung, das sei nichts als ein Trostpflaster für den entgangenen Chefposten bei den Berliner Philharmonikern. Und dann ging auch noch vier Wochen vor der Premiere die Isolde von der Fahne – oder wurde gegangen?

Wenn Bayreuth überhaupt so etwas wie Normalität kennt, dann war die nun über die Bühne gegangene Premiere die Rückkehr zu einer solchen – jetzt jedenfalls kann man sich endlich wieder auf die eigentliche "Handlung", auf "Tristan und Isolde", konzentrieren. Und hier ist Katharina Wagner durchaus beherzt zu Werke gegangen, indem sie auch noch die wenigen Handlungspflöcke des Stücks herausgerissen hat: Entscheidende Wendepunkte des Dramas werden schlicht vorweggenommen, auf dass die zugrundeliegende psychische Verfasstheit von vornherein offen zutage trete. Der Trank etwa, der Tristan und Isoldes todessüchtige Liebe katalytisch entfesselt, ist hier nicht vonnöten: Von Beginn an rasen die beiden wie Magneten aufeinander zu und können – in dem an Grafiken von M.C. Escher gemahnenden Treppenlabyrinth des ersten Aufzugs – nur mühsam von ihren Getreuen Brangäne und Kurwenal zurückgehalten werden, augenblicklich übereinander herzufallen. Den Trank werden sie sich später hin- und herreichen und schließlich nicht trinken, sondern verschütten. Geknutscht hatten sie da eh schon.

Hemmungslos selbstzerstörerische Liebe

Auch die Schuld Tristans und Isoldes – ihrer beider Treubruch an König Marke – muss hier nicht offenbar werden, sie ist es von Anfang an. Die große Liebesszene des zweiten Aufzugs findet so mitnichten heimlich statt, sondern auf einer Art Gefängnishof, den Wächter von oben mit Verfolgern ausleuchten. Brangäne und Kurwenal sind – mitgegangen, mitgefangen – gleich mit kaserniert, zu entdecken gibt es da für König Marke und Gefolge nicht mehr viel. Am Ende des Duetts öffnen sich Tristan und Isolde zudem – mithilfe der seltsamen Metallspiralen des Gefängnishofes, die vielleicht Folterwerkzeuge sein sollen, aber (leider) fatal an Fahrradständer erinnern – die Pulsadern. Die tödlichen Wunden, an denen sie im dritten Aufzug sterben könnten, fügen sie sich so selbst zu, und es erscheint einigermaßen inkonsequent, dass Tristan trotzdem noch zwei Dolchstiche von seinem einstigen Freund und jetzigen Verräter Melot erhält – es ist dies ein überflüssiges Relikt der ursprünglichen äußeren Intrige.

Katharina Wagners Absicht ist es wohl, weitgehend befreit vom ohnehin schmalen Plot, in die nachtseitige, hemmungslos selbstzerstörerische Liebe von Tristan und Isolde hineinzuleuchten. Daher ist es auf der Bühne auch meist sehr duster, nur mit König Marke erscheint jeweils der gleißende Tag, der weder Liebe noch Geheimnis kennt. Dieser Marke ist übrigens einfach nur fies, und eine bittere Pointe der Inszenierung ist es, dass er Isolde zuletzt nicht ihrem Liebestod überlässt, sondern sie in seine grausame, dem lieblosen Leben zugewandte Tagwelt zurückzieht.

TristanundIsolde2 560 Enrico Nawrath uAlles tot!  © Enrico Nawrath

Kein Klang ruht

Tatsächlich glücken Katharina Wagner und ihrem Bühnenbildner-Team Frank Philipp Schlößmann und Matthias Lippert einige eindringliche Bilder: Zu den Zeilen "O sink hernieder, Nacht der Liebe" sehen sich die beiden Liebenden in einer faszinierenden Projektion jeweils in einem Tunnel, wie er bei Nahtoderfahrungen beschrieben wird, langsam ins Nichts und zugleich in die Vereinigung sinken. Das ist schön. Und in den Fiebervisionen Tristans im dritten Aufzug werden auf der nachtschwarzen Bühne immer wieder pyramidenförmige Gelasse mit schimärischen Isolde-Figuren herausgeleuchtet – die dann plötzlich ihren Kopf verlieren oder als leere Hülle in sich zusammensacken. Auch das ist schön und sogar ein bisschen gruselig. Insgesamt aber fehlt der Aufführung eine verbindende künstlerische Vision, eine Metapher, die über die einzelnen Einfälle hinweg tragen würde. Die tollsten Bayreuther Inszenierungen der letzten Jahre – Schlingensiefs "Parsifal", Neuenfels' "Lohengrin", Castorfs "Ring" – waren große künstlerische Würfe, bei denen der Teufel des Misslingens vielleicht in einigen Details saß. Katharina Wagners "Tristan" hingegen besteht aus vielen kleinen Würfen, ein großes Gelingen aber will sich nicht einstellen.

Letzteres immerhin tönt uns aus dem unsichtbaren Orchestergraben entgegen. Christian Thielemann entwickelt die Partitur ganz aus der Linie, jeder Akkord entpuppt sich als das Zusammenschießen melodischer Verläufe, kein Klang ruht, alles strebt weiter und ist in sich belebt. Es entsteht so ein ungemein flüssiges, zugleich äußerst durchhörbares Klangbild, das sich nie in prangendes Getöse flüchtet – dieses Dirigat ist die größte Leistung des Abends. Ob Thielemanns Intentionen bei den Sänger*innen durchweg gut aufgehoben sind, mag indes bezweifelt werden. Wobei das Niveau schon sehr hoch ist (was man in Bayreuth in den vergangenen Jahren auch schon anders erlebt hat): Georg Zeppenfeld als bös-gebieterischer Marke schöpft beeindruckend aus satten Tiefen, Iain Paterson liefert einen klangschönen Kurwenal ab, und Stephen Gould meistert die regelrecht mörderische Tristan-Partie anscheinend mühelos und bis zuletzt mit einnehmender Kantabilität (als Darsteller hingegen kommt er von eingefahrenen Tenorgesten nicht los).

Die Buhs der Parkplatzneider

Ausgerechnet mit der Isolde der Einspringerin Evelyn Herlitzius – dem Vernehmen nach sogar auf Thielemanns Betreiben hin verpflichtet – gerät indes das musikalische Konzept der Aufführung ins Wanken. Herlitzius ist eine der Sängerinnen, für die das Attribut "hochdramatisch" erfunden wurde, mit unglaublichem Ausdruckswillen wirft sie sich in die Partie. So wenig scheut sie das Risiko, dass mitunter – um es mit Paul Hindemith zu sagen – Tonschönheit zur Nebensache wird: So großartig ihre Stimme in allen Lagen trägt, so schneidend wird sie in der Höhe. Einer expressiven Darstellung kommt das sogar entgegen, mit dem auf melodische Fülle setzenden Dirigat Thielemanns aber verträgt sich das nicht immer. Am Ende wird sie trotzdem bejubelt – wie alle Beteiligten. Sogar Katharina Wagner, deren "Meistersinger" die eingefleischten Wagnerianer noch aufs Heftigste befehdet hatten, wurde verschont (sie zeigte sich bescheiden im Team). Nur Thielemann musste ein paar versprengte Buhs einstecken – es werden die Parkplatz-Neider des neuen Musikdirektors gewesen sein.

 

Tristan und Isolde
von Richard Wagner
Inszenierung: Katharina Wagner, Musikalische Leitung: Christian Thielemann, Bühne: Frank Philipp Schlößmann, Matthias Lippert, Kostüm: Thomas Kaiser, Dramaturgie: Daniel Weber, Licht: Reinhard Traub, Chorleitung: Eberhard Friedrich.
Mit: Stephen Gould, Georg Zeppenfeld, Evelyn Herlitzius, Iain Paterson, Raimund Nolte, Christa Mayer, Tansel Akzeybek, Kay Stiefermann, Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele.
Dauer: 6 Stunden, zwei Pausen

www.bayreuther-festspiele.de

 

Kritikenrundschau

Von einer "eigenwilligen Mischung von gleichnishafter Szenerie und bisweilen drastisch-plakativer Aktion" spricht Christian Wildhagen in der Neuen Zürcher Zeitung (27.7.2015). Katharina Wagners Sicht auf das Jahrhundertwerk ihres Urgroßvaters sei überspitzt, "aber im Prätentiösen durchaus profiliert". Die musikalische Deutung durch Christian Thielemann wird ebenfalls gelobt: "Die Tempi sind, namentlich im ersten Akt, ungemein fliessend geworden, auch die Agogik wirkt organischer; der hörbar bis in feinste Details durchgearbeitete Orchesterpart klingt trotz der im Bayreuther Graben notwendigen dynamischen Akzentuierung luzide, warm und ungewöhnlich transparent."

Das Beste, was Eleonore Büning von der FAZ (27.7.2015) über diese Inszenierung sagen kann, ist: "Sie ist mehrheitsfähig. Kein Sofa in dieser Republik, von der aus man sich diesen früh-müden 'Tristan' am 7. August, wenn 3Sat landesweit live aus dem Festspielhaus überträgt, nicht gemütlich reinziehen könnte." Christian Thielemann, seinen Musikern und Sängern, obliege an diesem Abend fast allein die Aufgabe, "die uralte Mär von den Königskindern zu erzählen, die nicht zueinander kommen können, und zwar in allen tonmalerischen Einzelheiten, inklusive Seegang und Zaubertrank, Ritterehrverlust und Vasallenverrat". An diesem Premierenabend zur Eröffnung der Festspiele zeigt sich der Dirigent aus Sicht dieser Kritikerin "vom ersten, pianissimo-bebenden Auftakt der Einleitung an in Spitzenform."

Dieser "Tristan" ist für Manuel Brug von der Tageszeitung Die Welt (27.7.2015) auch eine bewusstseinserweiternde Hörgeschichte im Kopf. Musik und Szene ergänzen sich für ihn in ihrem Aufmerksamkeitsanspruch. "Das herrlich dezente, doch immer sich Klangraum verschaffende Festspielorchester scheint von den hier so bedeutenden Oboen- und Englischhornstimmen, dem dunklen Hörnerchor wie eingeschalt, bebt und atmet in faszinierender, nie hitziger, gar dämonisch-destruktiver Klangmagie. Das ist so intellektuell wie intuitiv. Man lauscht einer zartbitteren Melancholie der totalen Resignation." An der Inszenierung aber müsse "noch vehement weitergearbeitet werden", so der Kritiker. "Es liegt jetzt allein in Katharina Wagners Hand, ob sich diese ungewöhnliche, mutige, dann einbrechende, musikalisch als schwarzer Diamant funkelnde Produktion optimieren lässt."

"Staatstragend seriös", findet Reinhard Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (27.7.2015) Katharina Wagners "götterdämmerungsdunkle Festspieleröffnung". Die Regisseurin gleiche "ihre Liebe zu Regietheater und Provokation" mit den Ansprüchen konservativer Opernfreunde ab. "Also dirigiert Christian Thielemann, also präsentiert sich dieser 'Tristan' vordergründig als Sängeroper, also verzichtet Katharina auf all das, was einem Regisseur garantiert Buhstürme liefern würde". Sie gebe sich zwar bis zur Langeweile zugeknöpft, "aber sie hat den 'Tristan' dezent – das war früher keine ihrer Stärken – gewissermaßen durch den Fleischwolf des Feminismus gedreht." Die beiden Frauenrollen Isolde und Bangräne empfindet er als die stimmigsten und schönsten.

Die Energien, die Thielemann nicht nur aus melodischen oder rhythmischen Figuren, sondern auch aus dem Widerstreit farblicher Nuancierungen freischlägt, verleihen der Aufführung aus Sicht von Wilhelm Sinkowicz von der österreichischen Tageszeitung Die Presse (27.7.2015) "eminente Dynamik, in den kräftig pulsierenden Passagen wie auch in jenen Augenblicken, da die Zeit stillzustehen scheint." Thielemann, "der kongeniale Wagner-Interpret", spüre die Problemstellung in der Musik "und löst sie mit sicherem Instinkt auf: Die Botschaft wird – etwa wenn am Ende des ersten Aufzugs Außen- und Innenwelt schmerzlich aufeinanderprallen – für den Hörer sinnfällig." "Solch tiefer musikalischer Deutungskunst kann, machen wir uns nichts vor, kein Regisseur heutzutage auch nur annähernd Adäquates entgegensetzen. Auch Katharina Wagner nicht. Sie versucht aber immerhin, einen monophonen Erzählstrang von Anfang bis zum Ende der Vorstellung durchzuziehen."

"Sehr überzeugend" ist für Hans-Klaus Jungheinrich in der Frankfurter Rundschau (28.7.2015) die Außer-Kraft-Setzung des Liebestranks "als dramaturgischer Helfer" durch Katharina Wagner. Man werde ihre Inszenierung vor allem ob dieses "mutig behandelten Trankmotivs als Wurf verbuchen können." Dabei habe sich "der Zentralakt als auf verstörende Weise besonders aufregend" gezeigt, während der dritte Akt "optisch" ein wenig abfalle und erst mit dem Auftritt Markes "rüttelnd wird". Der bringe Isolde "um ihren transzendentalen Triumph", was "eine Banalisierung der Haupt-Idee des Werkes, den motivischen Tod des Liebestodes" bewirke. Ein "'starker' Eingriff", aber "wohl ein mehr anekdotischer als essentiell-bedeutender. Die ästhetischen Kosten dieses Effekts sind (zu) hoch. Verdorbene Philosophie." Die Personenregie sei allerdings stets gekonnt und konzentriert und "gesungen wurde vortrefflich." "Katharina Wagner dürfte – mit ihren beiden, voneinander völlig unabhängigen Haupt-Regieeinfällen – die Wagnerfreunde jeder Couleur für lange gehörig aufgestöbert haben."

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