Frau Clavigo verlässt Herrn Marie

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 27. Juli 2015. Trauerspiel? Ja, das schon noch, auch wenn am Beginn (und am Ende!) alle mit roten Clownsnasen daherkommen und die meisten Szenen vor einem Vorhang im Zirkusdesign spielen. Wenn dieser Vorhang angeblasen wird, wölbt er sich nach vorne. Es sieht so aus, als ob in diesem Theater viel Luft ist.

Damit haben wir schon einige Stichwörter beisammen für diese Aufführung dezidiert "nach" Goethe, wie sie sich Stephan Kimmig, die Pop-Experimentatorin Pollyester (Polly Lapkovskaja) und das Ensemble vom Deutschen Theater Berlin im kreativ-lustvollen Teamwork für die Salzburger Festspiele ausgedacht haben. Viel Zirkus. Viel Luft.

Karrierebastlerin und Heulsuserich

Fast alle Geschlechter sind vertauscht in dieser Geschichte des Sitzengelassen-Werdens um der Karriere willen. "Von Männern ist das jetzt doch schon genug durchgekaut worden, das kann doch nicht mehr interessieren", so Kimmig dieser Tage in einem Vorabgespräch in Salzburg. Susanne Wolff ist also "die" Clavigo und Marcel Kohler bläst als "der" Marie Trübsal. Dieser Unglücksritter von der schlacksigen Gestalt, der seine Mitspielerinnen um zwei bis drei Köpfe überragt, wird von charismatischen Damen in Hosenrollen gegen "die" böse Clavigo verteidigt: nach außen von Kathleen Morgeneyer als "die" Beaumarchais (Maries Bruder), und, fürs Herz, von Franziska Machens (Buenco). Einzig Clavigos Vertrauter Carlos (Moritz Grove) darf Mann bleiben, als eine Art Beobachter, Kommentator und Chronist von außen.

Man geht aus dem Theater mit der Erkenntnis, dass es um die Gleichberechtigung doch deutlich besser bestellt sein muss, als immer gesagt wird. Wenig kratzt einen die Travestie. Ist halt mal die Frau die Karrierebastlerin, bleibt diesmal halt ein Heulsuserich auf der Strecke. Der Geschlechtertausch bringt keinen inhaltlichen und erstaunlich wenig emotionalen Mehrwert, auch wenn Susanne Wolff ihren Clavigo mit ausreichend Zwischentönen des Zauderns und des Selbstzweifels ausstattet. Wie tief- und hintergründig sie doch dreinschaut!

Fehlt nur noch Facebook

Aufschlussreicher ist da schon die Pop-Komponente. Stephan Kimmigs zweiter Ansatz geht nämlich in die Richtung, dass heutzutage ein Jeder und eine Jede gefordert ist, sich ständig zu definieren, Rollenbilder festzulegen und durchzuhalten. "Mir geht in der Welt nichts über mich", sagt Goethes Clavigo (manches vom Originaltext ist ja doch übrig) und beschreibt damit heutige Seins- und Überlebensstrategie. Eigenartig, dass keine der Clavigo-Protagonistinnen ihre Befindlichkeiten auf Facebook postet.

Alle Figuren leben, überleben in der Medienwelt und beziehen aus der allzeit greifbaren Musik ihr Wesen. Sie werden auch von ihr marginalisiert. Jede Stimmungslage wird mit passenden Tönen und Texten aus der bunten Welt der Popmusik beantwortet. Man schlüpft in tönende Larven, die, weil vertraut, Rudimente von Sicherheit geben. Dieser Aspekt der zum Fetisch erhobenen Selbsttäuschung ist einprägsam herausgearbeitet, und die Musik-Designerin Pollyester, die den Schauspielerinnen immer Mikrophone und Loop-Techniken anbietet, schafft ein klingendes Environment, in dem sich die Figuren schier bombastisch selbst überhöhen und deshalb ins Bodenlose stolpern. Das ist ein starker Spiegel unserer Zeit.

Dahinter bleibt – ein deutliches Manko der Inszenierung – Goethes Text doch eher unterbelichtet, "Clavigo" auf den Plot reduziert und zwischen den vielen burlesken Einschüben und deftigen Musiknummern reichlich lieblos hergesagt. So etwas wie ein konstruktives Spannungsfeld zwischen historisch-literarischer Vorlage und Pop-Gegenwart stellt sich nicht ein. Wenig produktive Reibung, von einem gemeinsamen Pulsschlag ganz zu schweigen. In der clownesken Überhöhung gelangt das Ensemble zur Hochform. Wenn's hingegen an den Originaltext geht, ist jäh aller Schwung draußen.

Clavigo2 560 Moritz Grove Franziska Machens Susanne Wolff Marcel Kohler c Arno Declair uAlles lustig oder was? Im Hintergrund: Susanne Wolffs Clavigo im potentiellen Fluchtgefährt, daneben Marcel Kohler als verlassene Marie. Mit Clownsnasen: Moritz Grove (Carlos) und Franziska Machens (Buenco). © Arno Declair

Fetisch Öffentlichkeit

Markantes Ausstattungsstück ist ein halb aufgeblasener, liegender Heißluftballon, Rückzugsort für Clavigo und Marie bei ihrem klärenden Gespräch, das doch zu nichts führt. Auch dort werden sie verfolgt mit der Handkamera, weil Öffentlichkeit eben auch ein solcher Fetisch unserer Zeit ist. Das Schlimmste, was Clavigo passiert, ist diese mediale Öffentlichkeit, während er auf Beaumarchais' Drängen Abbitte leistet für die Untreue an Marie. Zuletzt sind wieder die Clownsnasen dran, der Gasballon ist aufgerichtet, aber er hebt nicht ab. Kein Liebestod wie bei Goethe, eher ein tödliches Kleben am bodennahen, ver-inszenierten Leben. Ziemlich heutig und unlustig, aber betriebsam.

Die Publikumsreaktion im Salzburger Landestheater war herzhaft gespalten. Viele haben lautstark positiv kund getan, dass sie die Sache verstanden zu haben glauben. An Buhrufen für Stephan Kimmig fehlte es auch nicht. Und in wie vielen Reihen mag sich überhaupt keine Hand zum Beifall gerührt haben?

 

Clavigo
nach Johann Wolfgang Goethe
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Eva-Maria Bauer, Kostüme: Johanna Pfau, Musik: Pollyester, Video: Julian Krubasik, Lambert Strehlke, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Susanne Wolff, Moritz Grove, Kathleen Morgeneyer, Marcel Kohler, Franziska Machens
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.atwww.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen (29.7.2015) ist äußerst erzürnt und schäumt typisch stadelmaiersch gegen die Regie-Gewalt, die "diesem kleinen großen Stück" in den letzten Jahren angetan worden sei. In Salzburg erlebe man "den Gipfel dieser öden, unsäglich langeweilenden, unterirdisch verblödelten Tobsüchtigkeit und Rübenrauscherei". Die Schauspieler seien "samt und sonders nicht rezensierbar", da sie alle "an diesem Abend ihren Beruf schwänzen", und "der Name des Regisseurs", einer "der üblichen Theaterfolter-Routiniers mit (...) eher beschränkten Gedankengaben", tue "nichts zur abschreckenden Sache". Zum Bühnengeschehen könne man sich "sicher vieles denken, was die da droben auf der Bühne sich nicht gedacht haben, aber vom Publikum im Parkett erwarten, dass dieses es sich schon denken wird. Zum Beispiel, dass Männer auch Frauen sein können", was ja "gerade Saison-Mode" sei. Man könne sich aber auch "fragen: Gibt es in Berlin und Salzburg eine Dramaturgie, irgendeine Instanz, die ihre paar Goethe-Tassen noch im Schrank hat? Oder gar eine Intendanz, die solcher aufgeblasenen Willkür, solcher Verhohnepiepelung (um nicht ein stärkeres Wort zu verwenden) wehrt? Oder auch anders gefragt: Wozu bezahlen die Leute ihre sündhaft teuren Festspielkarten? Und wofür kriegen die da droben ihre Subventionen? Der Punkt ist ja schon lange erreicht, aber jetzt ist er so greifbar, dass man sagen muss: Es reicht."

In der Süddeutschen Zeitung schreibt Christine Dössel von einer "enttäuschend mageren Schauspiel-Agenda" und einem "Sparprogramm" der diesjährigen Festspiele. Stephan Kimmig werfe sich mit "Clavigo" "jungspundig ins Zeug, den Goethe-Text improvisierend, pop-ironisierend und multimedial frisierend wie ein Stürmer und Dränger im zweiten Frühling." Das sei "zunächst ganz furchtbar. Alles, was im performativen Anti-Bürgerlichkeitstheater immer schon Abscheu auslöste, wird hier ungeniert unlustig aufgefahren". Im weitesten Sinn kreise die Inszenierung um "Leben und Kunst, Kunst und Karriere", "mit Rückbezügen auf den literarischen 'Popstar' Goethe einerseits und Anklängen an moderne Stars aus der Pop- und Kunstwelt andererseits". In dieser "kunstzirzensischen Performance" gebe es "durchaus poetische Momente, in denen ein Schmerz aufflammt, eine Suche nach wahrem künstlerischem Ausdruck. Insgesamt aber gibt sich der Abend viel zu cool, um wahr(haftig) zu sein. Alles so gewollt hier. So performativ hingetrimmt." Die Gender-Gegenbesetzung gehe "in Ordnung und prinzipiell auf. Auch wenn es inhaltlich nicht viel zur Erhellung beiträgt."

Goethes "genialischer Scharteke aus dem Sturm- und Drangjahr 1774" werde "offenbar nicht mehr über den Weg getraut", nimmt Ronald Pohl vom Standard (28.7.2015) an. Der Regisseur und seine "spielfreudige Schar" stellten sich quer. "Die Ergebnisse des Kleiderwechsels" und die Tatsache, dass hier "der Frau die ganze Last der Täterschaft zugemutet" werde, "sind leider Gottes von geringem Ertrag." Die Inszenierung dünke sich "über die alten Anwandlungen bürgerlicher Empfindsamkeit erhaben", erhebe "die Rolle des Künstlers/der Künstlerin 'zum Diskussionsgegenstand' und mache sich "reichlich ungefragt zum Anwalt der Frauenemanzipation." Der Regisseur und sein "wie aufgezogenes Ensemble nehmen bei der Dramaturgie des Nummernkabaretts Zuflucht. (...) Ein Häuflein Emotionalclowns dünkt sich über die Arbeitsergebnisse der Vorweimarer Klassik furchtbar erhaben" und "Goethes Text bockt und wehrt sich".

Leider sei der Heißluftballon auch Symbol für die Inszenierung als solche, so Norbert Mayer von der Presse (29.7.2015): "Pappnasen-Theater mit gekünstelten Verfremdungen. Passagen mit lieblos deklamierten Originaltexten sind wenig inspiriert, Versuche der Transformation ins Gegenwärtige wirken aufreizend aufgesetzt. Selbstverliebt schickt Kimmig Goethe auf den Egotrip, aber eher mit unbeholfener Kraft denn mit Genialität. Die Botschaften sind hohl bei diesem Jahrmarktsfest voll eitlem Weltschmerz." In dieser "seltsamen Genderfarce" spielten alle "beherzt, aber auch mit Herzenskälte." Doch wozu "die Verfremdung, das Kasperltheater, die schrägen Perücken und Reifröcke?", fragt der Kritiker. Und weiß es nicht. "Allerlei aktuelles Beiwerk nervt." Da solle wohl "jeder Konsument (...) merken, dass Künstler es auch heute schwer haben, berühmt zu werden, und noch viel schwerer, berühmt zu bleiben."

Kimmig erweitere Goethes "individuellen Geschichte", so eine kaum milder gestimmte Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (29.7.2015): "Es geht ins ganz Allgemeine – die Kunst; der Kunstbetrieb; die Künstlerinnen und die Künstler". Ironie und Zitat erwiesen sich als zentrale Mittel "der Verunsicherung, aber doch vor allem der Banalisierung von allem, was zu sehen ist und geredet wird." Das "augenscheinlich Waghalsige" dieser Verweise-Schlacht sei am Ende jedoch "womöglich einfach nur vage". Dabei sei die Erkenntnis in Sachen Kunst / Künstler*in, letztlich "eine Binsenweisheit: Kunst ist eine ganz besondere Angelegenheit. Man muss sie akzeptieren (...). Ernst und Kritik sind nicht am Platze". Mit dem Geschlechtertausch bediene Kimmig außerdem "seinerseits eine beliebte Fantasie", gehe Clavigo unterm Strich doch nicht als Künstlerin, sondern "als blöde Kuh durch, die egoistisch auf ihre Karriere aus ist und den zarten Marie verzehrend schofelig behandelt." So bringe die "vorgebliche Vermeidung müder Klischees (...) wieder andere Klischees" hervor, die "noch abgeschmackter" seien. "Zumal der Mann-Mann Carlos" als "Strippenzieher den Frauen an Konzept und Konsequenz klar überlegen ist."

Die Welt (29.7.2015) hat ihren Kunstmarkt(!)-Redakteur Marcus Woeller als Urlaubsvertretung nach Salzburg geschickt. Und der hat den Ausflug, im Gegensatz zu den theaterkritischen Kollegen, durchaus genossen. Kimmig habe "dem Stück den Staub aus den Kostümen geklopft" und "Clavigo" "in die Gegenwart geholt." Wo könnte schließlich "ein Spiel um Karrieristen, Freiheitsdrang und Ich-Bezogenheit besser stattfinden als auf dem Feld der Kunst?" Die "charmant burschikose" Susanne Wolff wisse diese Clavigo "bestens zu verkaufen. Als schickes Model, das wie Lady Gaga über die Bühne fegt." Die "altmodische Blutrache" deute Kimmig "in zeitgemäßes Stalking um" und inszeniere das Stück als "Ich-Festspiele": "Statt Dialogen führt er Monologe auf. Hier ist jeder nur mit sich beschäftigt, in einsamen Performances gefangen. Auf diesem Kunstmarkt der Eitelkeiten steht nicht mehr das Artefakt im Vordergrund, sondern die Ökonomisierung der Aufmerksamkeit für dessen Schöpfer – egal, ob er etwas schafft oder nicht." Dabei sei der Kunstbetrieb, "der sich hier so überspitzt darstellt", eigentlich "nur eine Folie für die Realität. Wir sind eine Gesellschaft von Selbstoptimierern geworden.

Die hier eingesetzten Mittel von Straßen- und Bretteltheater – rote Nasen, witzige Frisuren oder Pantomime – wirken seltsam aufgesetzt auf Julia Danielczyk von den Salzburger Nachrichten (29.7.2015) seltsam aufgesetzt. "Denn die Komik der Clowns funktioniert über groteske Körperlichkeit und Improvisation, die mittels Präzision ein Bild von Leichtigkeit und Spontaneität erzeugt, nicht aber über die gezielte Wiederholung läppischer Einfälle." Auch Stephan Kimmigs Verständnis der Figuren als Grenzgänger "zwischen intimer Privatheit und glamouröser Öffentlichkeit" basiert aus Sicht dieser Kritikerin "auf oberflächlichen Vorstellungen voller Sensationskitsch und platter Gags, die bloß auf Effekte abzielen."

"Es ist, als benutze diese Inszenierung Goethes 'Clavigo' nur als Trampolin, um sich in bewusst ungezielten Luftsprungversuchen einem modernen Kunstbegriff und dem dazugehörigen Künstler anzunähern", so Sven Riclefs in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (28.7.2015). Dessen Egozentrismus und Selbstbespiegelungswahn sieht er allerdings denjenigen aus Goethes fernen Zeiten erstaunlich nah stehen. Auch entwickelt die Inszenierung aus seiner Sicht einen eigentümlichen Reiz, der noch lange nachklingt."

Es ist, als stünden die Schauspieler unter dem Zwang, wie Max Frischs bodenlose Romanfigur immerzu "Ich bin nicht Stiller", beziehungsweise "Ich bin nicht Clavigo" oder "Ich bin nicht Goethe", zu sagen - als müsste das im Theater noch jemand sagen," schreibt Peter Kümmel in der Zeit (30.7.2015). Zu Beginn träten die Schauspieler als Clowns auf, "und so kann die ganze Inszenierung gelesen werden: Clowns spielen Schauspieler, die "Clavigo" dekonstruieren". Man wisse gar nicht mehr, "wie viele Anführungszeichen man setzen soll, so sehr nimmt das Theater sich hier selbst auseinander und ins ironische Verhör."

Elmar Krekeler schreibt in der Welt (14.11.2015): Wer einigermaßen gute Ohren gehabt habe, "konnte selbst in Berlin noch hören, wie Kimmigs Hundertminutenversion des Fünfakters durchfiel an der Salzach. " Lustig. Salzburg sei vielleicht nicht "der richtige Ort gewesen für die Selbstverwirklichungsgroteske, die Kimmig aus Goethes vorher sorgfältig zertrümmertem Stück gemacht hatte". Nun sei die Heimholung erfolgt "ins geistige Heimatschutzgebiet all jener Inszenierungsgimmicks, deren Musterbuch Kimmigs "Clavigo" ist". Texte würden durch "Verzerrer gejagt", drehten "Loopings in der Luft", verkicherten im Schnürboden. Es werde "gesungen". Clavigo spreche ein "ganz prima Englisch". "Hin und wieder geschieht minutenlang Goethe." Wer in weniger als zwei Stunden alles sehen wolle, "was Pollesch und Castorf und zwei, drei andere Berliner so mit Stücken machen", für den sei "Clavigo" ein "Muss". Dass hier der "moderne Selbstüberhöhungs- und Künstlerirrsinn verspiegelt, ironisiert werden soll", wisse man nach "ungefähr fünf Minuten".

 

 

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