Trieb-Spektakel mit doppeltem Boden

von Steffen Becker

Worms, 31. Juli 2015. In der alten Kaiserpfalz hat man keine Kosten und Mühen gescheut, frischen Glanz auszustrahlen. Der Filmproduzent Nico Hofmann tritt an als Intendant, Albert Ostermaier schreibt die Nibelungensaga um. Mario Adorf sitzt im Kuratorium und im Publikum – letzteres mit Joachim Krol, Henry Maske, Peter Altmaier, Roland Koch, Roberto Blanco, Harald Glööckler u.a. Gigantisch, dieses "Gemetzel", das bei den Nibelungenfestspielen vor dem Dom zu Worms angerichtet wird. Sieht man auch am Bühnenbild von Aleksandar Denić, der ja sonst oft mit Frank Castorf arbeitet: Zwei miteinander verbundene Türme, die aussehen wie die Belagerungsapparate aus Herr der Ringe, inklusive Totenschädel und Elfenbeinstoßzähnen. Dazu spielt eine Live-Band und der fernseherfahrene Regisseur Thomas Schadt überschreitet Genre-Grenzen, indem er wesentliche Teile der Siegfried-Sage durch eine Tanzcompagnie umsetzen lässt.

Gemetzel3 560 MarionBuehrle uAleksandar Denics gigantische Bühne © Marion Bührle

Angesichts dieser Fülle an Ausrufezeichen ist man als Zuschauer erstmal zu nichts anderem fähig als "Wow, Wow, Wow". Aber hält der Abend, was er an Außergewöhnlichkeit verspricht? Der Zugang klingt zunächst spannend. Autor Ostermaier erzählt die Geschichte aus Sicht von Ortlieb, dem Sohnes von Kriemhild und des Hunnenkönigs Etzel. Am Vorabend des blutigen Finales will das Kind verstehen, was vor sich geht, wer die Verwandten aus Burgund sind, warum die Mutter immerfort weint – und lässt sich die Vorgeschichte durch einen von Jack Sparrow inspirierten Narren (Maik Solbach) erzählen und von der Tanzcompagnie vorführen.

Hagens Beschützerinstinkt

Alina Levshins Ortlieb aber verliert sich schnell in überbetonter Naivität. Die Zwischenfragen des Kindes sollen zwar die moralischen Fragen der Ostermaier-Version des Nibelungenliedes offenlegen – "was ist ein Held", "muss ich lügen, um ein König zu sein". Die Darbietung gerät allerdings zu holzschnitzartig und deklamierend, um aus dem Perspektivwechsel dramaturgische Funken zu schlagen.

Wesentlich interessanter ist Ostermaiers Umdeutung der Figuren. Aus dem kalten Hagen wird bei ihm mit Max Urlacher ein Mann mit starken Emotionen. Mit einem ziemlich effekthascherischen Auftritt – auf Ketten-Quadbike, maskiert als Kreuzung aus Batman und Mad Max – erlangt er inkognito das Vertrauen Ortliebs. Aus dem Motiv heraus, Informationen über Kriemhilds Pläne zu erfahren, entwickelt er aber einen glaubwürdig dargestellten Beschützerinstinkt gegenüber ihrem Sohn – und einen Drang zur Rechtfertigung. In den Erzählungen über Siegfried scheint es Hagen ein Bedürfnis, die eigene Rolle als ausführendes Organ darzustellen. Allerdings nicht als Werkzeug von Staatsinteressen, sondern der wahren Wünsche von Kriemhild (ein zitternder Racheengel: Judith Rosmair).

Racheengel gegen Amazone

Die leidet bei Ostermaier und Regisseur Schadt an Alpträumen, denen sie sich auf einem Steg zwischen den Bühnentürmen stellen muss. In dieser Zwischenwelt trifft sie auf Hagen, der ihr den Mord an Siegfried als Ergebnis ihrer beiderseitigen unerfüllten Liebe darstellt: "der Leichnam ist unser Bett". In ähnlicher Mission erscheint ihr die Konkurrentin Brünhild (Catrin Striebeck als abgebrühte Amazone). Die verkündet, dass beide Frauen an Siegfrieds Tod Schuld sind, denn nur im Tod konnten sie sich der Liebe Siegfrieds sicher sein. Auch das eine krasse Umdeutung Ostermaiers - der nebenbei noch einbaut, dass nicht allein Brunhilde sich gerne von Siegfried vergewaltigen ließ, sondern auch deren eigentlicher Gatte, Kriemhilds Bruder König Gunter, bei diesem Vorgang nur Augen für den "Helden" hatte.

Gemetzel 560 MarionBuehrle uZickenkrieg auf der Bühnenbrücke: Catrin Striebecks Brünhild und Judith Rosmairs Kriemhild
© Marion Bührle

So projiziert jeder auf den selbst nicht auftretenden Siegfried Sehnsüchte, Ideale, Schwächen. Der "Held" kommt in Schadts Inszenierung noch schlechter weg als in Ostermaiers Text. Bei einem Tanz an Seilen lässt er einen blondierten Akrobaten Siegfrieds Kraft und Körperlichkeit durch beeindruckende Drehfiguren darstellen – und ihn anschließend beifallheischend vor dem Publikum entlangscharwenzeln: ein Fatzke, dem alles mühelos zufiel, weswegen ein Arbeiter wie Hagen ihn umso mehr hassen musste.

Blinde Liebe, bedingungsloser Hass

Was davon allerdings Haltung des Stücks oder vertanzte Visualisierung einer Haltung der erzählenden Person ist bleibt offen. Der Wechsel zwischen den Ebenen ist denn auch der Kern von "Gemetzel": Ostermaiers Stück bewegt sich zwischen Handlung und Imagination. Kriemhilds Träume gehen nahtlos über in ihre weiteren Schritte zur Vernichtung ihrer burgundischen Verwandtschaft. Auch beim Finale vermischen sich die Ebenen. Beim finalen Dinner der Mannen der Burgunder mit Hunnenkönig Etzel (rustikal: Markus Boysen) beginnt Ortlieb eine Farce mit Gesichtsmasken, die das Gemetzel spielerisch vorwegnimmt.

Was es der Regie ermöglicht, auf ausgedehnte Schlachtszenen mit Schwerterschwingen zu verzichten. Auch die Balletteinlagen entpuppen sich als die Inszenierung verdichtendes und entlastendes Element. Der berühmte Kampf der Königinnen Kriemhild und Brünhild um die Ranghöhe und den ersten Zutritt zum Wormser Dom gerät zu einem Tanz des Umkreisens und Augenzuhaltens – eine Anspielung auf die blinde Liebe zu Siegfried wie auf den bedingungslosen Hass, mit dem die Frauen ihre Ziele verfolgen. Das "Gemetzel" schafft es so in seinen guten Momenten Wows und subtile Elemente harmonisch zu verbinden. Ach ja, und am Ende sind übrigens nicht wie sonst alle tot: Kriemhild bekommt keinen Heldinnen-Tod, sondern muss einfach von der Bühne.

 

Gemetzel
von Albert Ostermeier
Regie: Thomas Schadt, Bühne: Aleksandar Denić, Choreografie: Ted StofferMusik: Jan Zehrfeld und das "Panzerballett".
Mit: Alina Levshin, Maik Solbach, Judith Rosmair, Catrin Striebeck, Markus Boysen, Heiko Pinkowski, Max Urlacher, Holger Kunkel, Gabriel Raab, Peter Becker, Tom Radisch, Marion Breckwoldt, Radu Cojocariu.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten,  eine Pause

www.nibelungenfestspiele.de

 

Mehr zu den Nibelungenfestspielen? 2014 zeigten sie born this way, 2013 born to die, 2011 Die Geschichte des Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß, 2010 Teufel, Gott und Kaiser, 2009 Das Leben des Siegfried. Bis zum vergangenen Jahr wurden die Nibelungenfestspiele von Dieter Wedel geleitet, der seine neue Intendanz bei den Bad Hersfelder Festspielen in diesem Jahr mit Shakespeares Komödie der Irrungen eröffnete.

 

Kritikenrundschau

Für Christian Gampert folgt in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk  (1.8.2015) die Verantaltung im Wesentlichen dem Motto "Wer viel auffährt, der viel gewinnt". Doch sei das Gegenteil der Fall. Dabei versuche Autor Albert Ostermeier zunächst sehr Ehrenwertes: "Er will die Nibelungen in ihrer psychosexuellen Verstrickung zeigen". Doch das wirkt auf den Kritiker "dramaturgisch hilflos und irgendwie pädagogisch". Zudem tendiere Ostermeier "zu schiefen Bildern, klischeehaften Assoziationen und sexuell aufgeladenen, aber meist pathetisch hohlen Sprachgesten". "'Blut schreit nach Blut', heißt es bei ihm, jaja, und Schwulst nach Schwulst." Auch könne Regisseur Thomas Schadt leider mit dem Star-Aufgebot an Schauspielern überhaupt nichts anfangen.

"Thomas Schadts Inszenierung kämpft permanent gegen die Gefahr des Zerfransens, den Verdunstens, des Versickerns", schreibt Eckhard Fuhr auf Welt.de (1.8.2015). Schadt habe sich außerdem vorgenommen, mit einem Minimum an Theaterblut auszukommen. "Es kommt tatsächlich nur in homöopathischen Dosen zum Einsatz". Albert Ostermaier habe "ein sehr schönes, geist- und perspektivenreiches Stück geschrieben, das sich perfekt als Schullektüre eignet, weil in ihm literarische Elementarmethoden vorgeführt werden. Aber taugt es für die Bühne, für die Freilichtbühne?" "Hölzern und verkopft" sei dieses Spektakel ausgefallen.

Judith von Sternburg (Frankfurter Rundschau, 3.8.2015) findet in Ostermaiers Stück eine "zum Teil starke, zum Teil bloß wortgewandte Lesart" der Nibelungen-Geschichte vor. "Man muss auch nicht lange warten, um zu begreifen, dass die eigentlichen erzählerischen Elemente des Abends an eine Tanzgruppe (...) abgegeben werden. Der Tanz ist nett anzusehen (...). Auf der Höhe der Situation bewegt er sich nicht" und scheint "im Schlussgefecht nur noch banal". Die interessanten Punkte setze Ostermaier nicht bei der Rolle des Kindes, sondern im begehrensverstrickten "Erwachsenengeflecht". Die Schauspieler "könnten das auch ohne Tanzeinlagen gewiss gut vermitteln". Und ausgerechnet bei einer "derart unpolitischen Interpretation" schleuse sich Brünhild "als Selbstmordattentäterin in spe" am Hunnenhof ein. "Im Zuviel geht am Ende das meiste unter, nur der Unterhaltungswert zappelt und hält sich über Wasser."

"Zugegeben, das ist erst mal alles recht beeindruckend", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (3.8.2015) angesichts der Dom- und Denić-Bühnenkulisse. Ostermaiers habe ein "gescheites, ziemlich anspruchsvolles Stück im halbhohen Ton" geschrieben, "das dem viel bearbeiteten Stoff tatsächlich neue Aspekte abzuringen und mit einiger Sprachpoesie beizukommen weiß". Die "Perspektive des fragenden Kindes" sei interessant, allerdings habe Alina Levshin "den immer gleichen, grundfröhlichen Kinderheldenton des amerikanischen Kinos – wie die Schauspieler hier über die Mikroports ohnehin alle sprechen, als würden sie einen US-Blockbuster synchronisieren." Dazu "reichlich kümmerlichen, krampfig-akrobatischen Pantomime- und Tanzeinlagen", die auf Dössel den "Eindruck der Laschheit und Geschmacksverirrung" machen. "Katzenjämmerlich" nervt sie auch die "überhaupt nicht dramentauglichen" Panzerballett-Live-Musik. Schadts Inszenierung finde "keinen eigenen Stil und keinen Zug, es fehlt ihr an Fokussierungen, an Intimität und Witz."

Ostermaier sprenge "die Figuren auf und definiert sie um", so Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen (3.8.2015), wobei die "Logik von Macht und Gewalt (...) durch die Logik des Begehrens" ersetzt werde. Das nun "müsste spielerisch erzählt werden, andeutend, nicht auftrumpfend". Stattdessen setze Schadt "auf grobe Effekte". Das "mit Abstand (...) Schrecklichste an diesem gründlich missratenen Abend: schlimmer noch als die albernen Kostüme, als die nervtötende Musik, als der lächerliche Aufzug von Gunter und seinen Brüdern (...), und sogar schlimmer noch als die wahrlich dumme Idee, Brünhild als Dschihad-Kämpferin auftreten zu lassen", seien allerdings die Tanzeinlagen. "Autor und Regisseur haben beide viel gewollt. Aber leider nicht dasselbe."

"Der Promi-Faktor sticht die Kunst aus" ist Volker Oesterreichs Kritik übertitelt in der Rhein-Neckar-Zeitung (3.8.2015). Als Kammerspiel möge Albert Ostermaiers "Gemetzel" einiges hermachen, wenn es psychologisch zugespitzt wird. Auf der großen Freiluftbühne verpuffe die Chose aber. Fazit: "Ja, der Promi- und Voyeurismus-Faktor ist groß in Worms. Schade nur, dass das künstlerische Niveau nicht mithalten kann."

 

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