Presseschau vom 14. August 2015 – Schon vor Eröffnung der Ruhrtriennale wird über den vermeintlichen Öffnungsgestus des Festivals debattiert
Sei umschlungen, Subproletariat!
Sei umschlungen, Subproletariat!
14. August 2015. Wenn heute Abend die Ruhrtriennale startet, dann hat sie die erste Debatte bereits hinter sich. Denn der stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken, Eyüp Yildiz, hat dem neuen Festival-Leiter Johan Simons vorgeworfen, für seine Eröffnungsinszenierung "Accattone" nach Pasolini (nachtkritik.de wird morgen berichten) die Zeche Lohberg bloß als "pittoreske Schachtkulisse" zu nutzen, "in der sich die Gesellschaft des Kulturspektakels für einen Sommer lang feiert, um dann weiterzuziehen."
In einem Artikel der tageszeitung (13.8.2015) von Eva Berger heißt es dazu weiter, Yildiz habe vor allem Zweifel "an der Glaubwürdigkeit des Mottos, unter das Simons die Triennale gestellt hat: Das 'Seid umschlungen' aus Schillers 'Ode an die Freude' soll als Umarmung und Einladung an alle, also gerade auch an kulturferne Bewohner des Ruhrgebiets, verstanden werden, sich auf die eher elitäre Kulturveranstaltung einzulassen. Auf diesen Öffnungsgestus reagierte Yildiz in seinem Zwischenruf skeptisch: 'Kein Lohberger hat ihn seitdem zu Gesicht bekommen.'"
Christiane Hoffmans hat für die Welt am Sonntag (9.8.2015) Yildiz und Simons zu einem Gespräch gewinnen können. Simons räumt darin in der Tat ein, er müsse "in Lohberg präsenter sein". Er sei froh, "dass endlich mal ein Politiker kritisch auf uns reagiert."
Kunst als Motor für Veränderung
Yildiz gibt sich in dem Gespräch "überzeugt, dass das Subproletariat eine immense Kraft hat. Diese Menschen, die unter wirtschaftlich und kulturell schlechtesten Bedingungen leben, befinden sich teils in einem delirium-ähnlichen Zustand. Man muss ihnen Mut geben, damit sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Die Hoffnungslosigkeit, die Lohberg im Griff hat, macht die jungen Menschen verführbar. (...) Doch die Kunst kann, wenn sie authentisch ist und nicht nach dem bürgerlichen Applaus schielt, die revolutionäre Kraft des Subproletariats entfachen."
Simons entgegnet darauf zwar, er habe "einen künstlerischen Auftrag, keinen politischen", doch wie Yildiz glaube auch er "an die Kraft der Kunst als Motor für Veränderung. Daher hoffe ich, dass auch die Lohberger in unsere Vorstellungen kommen." Auf Christine Hoffmans Nachfrage ("Glauben Sie tatsächlich, ein bisschen Pasolini oder Bach machen aus einem mutlosen Menschen einen kritischen Geist, der froh in die Zukunft blickt?") führt Simons weiter aus: "Das geht nicht eins zu eins. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Kunst Anstöße geben kann."
Dialogische Aktivitäten
Im bereits zitierten Artikel aus der tageszeitung wird berichtet, dass seit der "Yildiz’schen Protestnote die dialogischen Aktivitäten in Lohberg verstärkt" wurden. "Letzten Samstag lud Simons die Bewohner auf den Lohberger Marktplatz zum Gespräch, einzelne Probentermine wurden für Interessierte geöffnet. Und mit dem Vizebürgermeister hat sich ein reger Austausch über Lohberger Wirklichkeiten entwickelt, zur Eröffnungsdebatte wird er auf dem Podium sitzen." Ob sich der Dialog zwischen Simons und Yildiz, zwischen Kultur, Politik und Bevölkerung, tatsächlich von "den üblichen Beglückungsvokabeln und professioneller Salonrhetorik" wohltuend abhebt, wie es Dieter Nellen auf der Website der Ruhrbarone (11.8.2015) schreibt, wird sich dann erneut überprüfen lassen.
(wb)
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Aber!: was Simons sagt ist doch auch entscheidend. Mit den Mitteln der Kunst! Und wenn man sich den ACCATTONE ansieht, bemerkt man wie viel diese erstmal unpolitische Kunst über die geschlagene und bedrohte Region und ihre MENSCHEN sagen und erzählen kann. Gerade für die sozial schwachen zu sensibilisieren. Und das ohne diese ranschmeisserische Abbilden und thematisieren der vergangenen Kohle- und Zechezeit!
Diese Auffuhrung erzählt vom geschlagenen Menschen in Regionen wie Dinslaken wie kaum eine andere. An dem Ort die Inszenierung zu dem Thema der Region! Glückwunsch!
Ich bitte, genau zu lesen. Zuschauer hat nicht geschrieben, dass der Ruhrpottler an sich bildungs- und geldfern ist, sondern dass es die Bildungs- und Geldfernen unter ihnen nicht anspricht. Es gibt bildungs- und geldferne Ruhrpottler wie es bildungs- und geldferne Münchner gibt, und für die sind 20 Euro viel und ein Hochkulturfestival wie die Ruhrtriennale fremd. Und Accattone erzählt vom geschlagenen Menschen in der Region? Die Helden sind Zuhälter und Kleinkriminelle, die sich gleich anfangs über den Versuch ihres Kumpanen, arbeiten zu gehen, lustig machen. (Gotteslästerung werfen sie ihm sarkastisch vor). Sie schicken lieber Frauen auf den Strich, als selbst zu arbeiten, und sind darauf stolz. Arbeit wird erst gegen Ende kurz eine Option - und Horrorvision. Ich würde die Arbeitslosen im Ruhrgebiet nicht mit ein paar Zuhältern gleichsetzen wollen... Dafür gab es auf der Feier ein opulentes Buffett für die gutgekleideten Premierengäste. Austern gratis, das ist echte Sensibilisierung für die sozial Schwachen...
Herzlichst - ein zur Zeit in der Türkei weilender Ex-Dinslakener
Aber über die geschlagenen Menschen erzählt der Abend etwas. Ja, es sind italienische Verhältnisse in den 50er Jahren, die Figuren Zuhälter, Kleinkrimminelle und Arbeitsunwillige, aber was sie mit den sozial (und bildungsfernen) der Region vereint ist Ihre empfundene Verlorenheit, Hoffnungslosigkeit und Zukunftslosigkeit. Dafür werden die, die das Geld haben und sich diese Inszenierung ansehen sensibilisiert. Das trägt weiter in die Gesellschaft und gibt Anstösse, wie Simons sagt.
Im Übrigen bin ich nicht der Meinung dass die Ruhrtriennalle die "bildungsfernen und geldfernen" nur aufgrund der zu hohen Eintrittspreise nicht anspreche. Auch da wird Simons und Yildiz vereinfacht. Das Problem ist doch viel tiefer, dass eben auch die anderen "Hochkulturinstitutionen" es nicht schaffen diese Gruppen inhaltlich anzusprechen und für sich zu interessieren. Das liegt nicht nur an den Preisen. Und grad da könnte Accattone eine Ausnahme sein. Durch die sensibilisierung für die von der regierenden MehrheitsGesellschaft bereits aufgegebenen.
europaweit die größte Dichte an Theatern? Aber welche Qualität? Das Schauspiel Bochum spielt überregional oder weltweit eine große Rolle? Wann war das? Die Ruhrfestspiele nehmen eine Spitzenposition ein?
Auf dem Teppich bleiben mein Lieber.
tameur
dieses festivalgereise hat doch nichts mehr mit dem Ort zu tun, sondern nur noch mit, der dann präsenten öffentlichkeit.
Sogenannte Kunst für Reisende.
Onanie im Hotel.
Die wahr Kunst liegt in der Provinz, in der Auseinandersetzung mit dem Menschen vor Ort, in der möglichen Identifikation.
Das ist inzwischen Avantgarde.
Der Rest ist gähnende 90iger-Jahre.