Von Kampftruppen und Putztruppen

von Janis El-Bira

Berlin, 15. bis 16. August 2015. Das vermeintlich sperrige 24-Stunden-Format feiert im heißen Berliner Theatersommer weiterhin fröhliche Urständ. Keine acht Wochen ist es her, dass Jan Fabre im Rahmen des "Foreign Affairs"-Festivals sein ziemlich monströses Antike-Panoptikum "Mount Olympus" auf ein großenteils enthusiasmiertes Publikum niedergehen ließ. Ein selbstgewisses Spektakel alter Schule war das, dessen perfekt assemblierte Materialfülle sich vermutlich auch vor einem gänzlich leeren Zuschauerraum unbeeindruckt aus- und wieder eingefaltet hätte.

Rumstehen gilt nicht

"24h durcheinander" des Berliner Künstlerduos deufert&plischke (Kattrin Deufert und Thomas Plischke) hat dagegen mit derlei Erhabenheitswuchterei auf den ersten Blick tatsächlich nur die tages- und nachtfüllende Länge gemein. Die im Rahmen von "Tanz im August" nahezu sämtliche Räume des Hebbel am Ufer bespielende Produktion kehrt stattdessen die Verhältnisse von vornherein um und macht das Publikum nicht bloß zum vollwertigen Partner, sondern gleich zum Protagonisten.

24hDurcheinander3 560 Simone Steiner uBastelstunden im HAU beim "Tanz im August" mit "24 h durcheinander" von deufert&plischke
© Simone Steiner

So läuft man zu Beginn mit weißen iPod-Kopfhörern in den Ohren durch das von allen Stuhlreihen befreite Parkett, betrachtet einander als Zuschauerin und Darsteller in einem und hört zunächst recht viel Programmatisches. Denn unser aller Theater, diese bemooste Bretterbude, es soll mal wieder schöner, besser, klüger, offener und inklusiver werden.

Im freundlichen Pluralismus von deufert&plischke bedeutet das, dass alle Anwesenden tatkräftig mit anpacken sollen, um sich von den ausgehöhlten Formen starren Repräsentationstheaters zu emanzipieren. Zaudern ist Betrug am Kollektiv und wer sich bei den folgenden Attraktion allzu teilnahmslos-schluffig am Rand die Beine in den Bauch steht, wird von den jungen Mitarbeiterinnen sogleich wieder an Freundes Hand ins bess're Theaterland geführt: "Wouldn't you like to join us?"

Emsiges Treiben am harmlosesten Ort der Welt

Also macht man mit, wenn im Zuge eines "communal dance" im Hinterhof des Hebbel Theaters jeder unbemerkt einem festen Partner hinterherlaufen und auf ein Zeichen hin dessen Bewegungen imitieren soll. Man lässt sich auf die unvermeidlichen Privatismen ein, wenn eine personalisierte Berliner Straßenkarte gemalt oder alle ihr liebstes Theatererlebnis auf kleine Zettel schreiben und irgendwo im Haus verstecken sollen.

Nach gut anderthalb Stunden wird es am ersten Abend dann ernst mit dem "Durcheinander". Es gilt, sich zu entscheiden: Man kann wahlweise an einem neuen Vorhang für die HAU-Bühne mit gestalten, über das fehlende Ende von Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aron" diskutieren, an einer Hausführung teilnehmen oder Kassetten mit Grußbotschaften bespielen. In der Opernrunde hält der Pianist und Dirigent Alain Franco mitten auf der Hauptbühne am Flügel einen gelehrten Vortrag über die Autonomie der Klänge und die Grenzen der Zwölftonmusik. Das Publikum beteiligt sich rege durch Aufzeigen wie im Uni-Seminar.

24hDurcheinander2 560 Simone Steiner uMit hohem Wuselfaktor: "24h durcheinander" von deufert&plischke beim "Tanz im August" in Berlin
© Simone Steiner

Mit großer theatraler Geste hebt sich zwischendurch plötzlich der Vorhang und gibt den Blick auf den Zuschauerraum frei, wo emsig Bastelnde um den am Boden aufgespannten neuen Vorhang kreisen. Doch es schleicht sich hier keine Erhabenheit durch die Vordertür ein: Der edle Moment ist, wie sich später herausstellt, eine Demonstration für die im Rang sitzenden Teilnehmer an der Gebäudeführung – und weht zudem etwas frische Luft in den stickig-heißen Bühnenraum. Draußen lässt sich indes eine Besucherin kurzerhand selbst in den mittlerweile bunt bestickten Stoff einnähen. Ihre Begleiter legen sich für ein paar Selfies dazu. Vom Rang aus betrachtet ist dort unten im Parkett, wo alle krabbeln, tuscheln, nähen, inzwischen der wahrscheinlich harmloseste Ort der Welt.

Das Manifest des "Neuen Epischen Theaters"

Weil aber ein ganz echtes "Durcheinander" ohne Oben und Unten trotzdem nichts ist, womit man in Wahrheit über längere Zeit zu tun haben möchte, liegt überall im Haus ein rot eingebundenes Manifest aus. Die Theaterwissenschaftler Helene Varopoulou und Hans-Thies Lehmann haben darin einen offenen Brief an Bertolt Brecht verfasst und werben eindringlich für ein "Neues Episches Theater", das als "NET" der gesamten Produktion Identifikation und theoretischen Überbau geben soll. Von "kleineren Räumen" und "geräumigeren Gedanken" spricht die "Wunschliste" der Autoren, von "klügeren Spielern", "längeren Zeiten" und "Künstlern, die mehr am gesellschaftlichen Leben als an ihrem Selbst interessiert sind". Da gerät "24h durcheinander" unversehens doch wieder in die Nähe zu "Mount Olympus", indem auch hier die Annahme einer hehren, aber transformationsbedürftigen Vergangenheit zur Arbeitshypothese wird.

Dass Fabres Rekurs auf die Antike dabei blutvoller, saftiger und natürlich viel "fertiger" daherkommt, versteht sich fast von selbst. deufert&plischkes im Grunde sympathischeres "24h durcheinander"-Theater bleibt aber auch entlang seiner selbstgesetzten Ansprüche im Ungefähren stecken. Ist dieses offene Kunsthaus der parallelen Workshops, Vorträge, Wanderungen und Werkeleien nun schon selbst das "Neue Epische Theater" oder sind das hier doch eher die Präliminarien zu etwas Kommendem? Auch die späten Stunden der Nacht brachten dahingehend keine Klarheit, begannen dafür aber, die ersten Einheit vom frühen Abend für neueingetroffene Besucher zu wiederholen. Zeit, reuelos zunächst einmal den Absprung zu suchen.

Am Morgen danach: Ein Shiitake-Pilz erklärt das Theater

Der nächste Tag bringt neue Frische: Offenbar war am Morgen kollektives Großreinemachen angesagt. Bettlaken sind quer über die Bühne gespannt, die Stoffe noch klamm. Putzutensilien aller Art stehen in einer Ecke, dazwischen Zettel mit Shakespeares zeitlosem Raumpfleger-Slogan der Lady Macbeth: "Out, damned spot!"

24h durcheinander 560 Simone Steiner u"Out, damned spot!" Reinemachen im HAU beim "Tanz im August" mit "24 h durcheinander" von deufert&plischke
© Simone Steiner

Da nach wie vor Wiederholungen vorheriger Beschäftigungsangebote laufen, ergibt sich Gelegenheit, bisher Verpasstes nachzuholen: Der Hausrundgang führt mit Grubenlampen auf der Stirn hoch zum Schnürboden, hinunter in den Keller und unter die Drehbühne. Es riecht nach Waschmittel, Requisitenmoder und kaltem Schweiß. Im ersten Stock geben zwei Wissenschaftlerinnen mit einem mitgebrachten Shiitake-Pilz Theaterkunde für Fortgeschrittene: Die rhizomatische Pilzwucherung ähnele dem "Neuen Epischen Theater", die hierarchische Baumstruktur hingegen dem ollen, affirmativen Realismus. Gewagt.

Brechts Lob der Selbstzündung

Zum Abschluss lesen dann Helene Varopoulou und Hans-Thies Lehmann auf der Bühne in verteilten Rollen noch einmal ihren Brief an Bert Brecht vor. Lehmann geißelt auf Nachfrage mit einiger Lust das Berliner Ensemble, dann spricht Brecht selbst vom Band über die flexiblen, kleinen "Kampftruppen" eines neuen Theaters, die durch "Selbstzündung" überall entstehen könnten.

Das ist toll, hat aber doch mit dem durchweg sonnigen Gemüt von "24h durcheinander" seltsam wenig gemein, wo unsere "Kampftruppe" einem in der Regel tödlichen Trugschluss zum Opfer fiel: Dass alle gleichberechtigt an einer Sache mitwirken, heißt weder, dass alle das Gleiche, noch dass alle einfach irgendwas tun sollten. Dazwischen aber findet "24h durcheinander" trotz schöner Einzelerlebnisse keine rechte Balance und keinen übergreifenden Bogen.

So gebiert das weitgehende Verlassen auf die sich permanent einbringenden Zuschauer manches Mal eher das Bild eines wenig feldtauglichen, versprengten Haufens: Grobmotorisch und geschlagen mit zwei linken Händen und beschränktem Einfallsreichtum, fremdeln wir Ungelernten auf der Bühne doch mehr mit uns selbst, als mit allen Theaterfragen dieser Welt.

 

24h durcheinander
von deufert&plischke
Uraufführung
Konzept: deufert&plischke, Technische Leitung: Andreas Harder, Produktionsleitung: Barbara Greiner.
Von und mit: Jozefien Beckers, Lisa Blöchle, Kattrin Deufert, Xenia Taniko Dwertmann, Thorsten Eibeler, Josephine Findeisen, Alain Franco, Barbara Greiner, Andreas Harder, Renen Itzhaki, Roni Katz, Daniela Kaufman, Julek Kreutzer, Hans-Thies Lehmann, Carrie McIlwain, Cinira Macedo, Rima Najdi, Sandra Noeth, Ilya Noé, Julia Plawgo, Thomas Plischke, Imma Scarpato, Kareth Schaffer, Cecilie Ullerup Schmidt, Éva Rozália Tankó, Claudia Tomasi, Helene Varopoulou, Yair Vardi, Stefanie Wenner, Arkadi Zaides.
Dauer: 24 Stunden, Pausen nach Belieben

www.deufertandplischke.net
www.tanzfabrik-berlin.de
www.hebbel-am-ufer.de

 

 

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