Mutmaßungen über Neda

von Kaa Linder

Zürich, 19. August 2015. Etwas ist geschehen. In einem Studentinnenwohnheim in Teheran hat sich in der Nacht zum Jahreswechsel ein Mann aufgehalten. Für iranische Verhältnisse ist das ein Skandal. Allerdings gibt es für diesen unsittlichen, untragbaren und inakzeptablen Aufenthalt keine Zeugen, beziehungsweise keine offizielle Zeugin. Bloß ein Bericht an die Heimvorsteherin liegt vor. Der ist nicht unterzeichnet, versteht sich. Ihm ist zu entnehmen, dass jemand an besagtem Abend aus Nedas Zimmer Stimmen dringen gehört hat, auch eine Männerstimme. Es sei gelacht worden, wenn auch leise. Gesehen hat diesen jungen Mann niemand.

Bis diese spärliche Faktenlage erörtert ist, sind bereits zwanzig Theaterminuten vergangen. Denn Regisseur Amir Reza Koohestani erzählt in seinem neuen Stück "Hearing" – im Juli in Teheran uraufgeführt – keine lineare Geschichte, sondern fragmentiert anhand einer Verhörsituation die extremen Bedingungen, unter denen junge Iranerinnen und Iraner heute aufwachsen. Allein durch die Form des Verhörs wird sofort klar, wie rigide diese sind und – wie schwer zu ertragen.

Im Doppel-Verhör

Eine junge Frau tritt auf die leere Bühne, den Kopf dezent verhüllt, in Jeans und einem Rock, der ihre Knie bedeckt. Sie heißt Shamaneh und gibt Antwort auf nicht gestellte Fragen. Sagt Sätze wie "Frag doch mich, was du sie fragen willst." Die Heimvorsteherin (Mahin Sadri) hat Shamaneh vorgeladen, um sie über den Bericht auszufragen. Sie selbst sitzt mitten im Publikum und erst nach einem Set von Antworten hört man, welche Fragen sie stellt. Es sind die Fragen einer umfassenden Autorität, die weit größer ist als die Person der Heimvorsteherin. Die Fragen sind ungenau, manipulativ und werden in eindringlichem Ton vorgetragen. Aus ihnen spricht ein System, dem die Wahrheit – und der Schutz der verdächtigten Person – im Grunde egal ist. Es geht um Schikane, um Repression, um gezielte Einschüchterung der jungen Frauen. "Zum Glück hat man dir nur Schlüssel gegeben. Was, wenn du auch noch Macht hättest?", frotzelt Shamaneh, die schnell kapiert, dass sie einen schweren Stand hat. Denn offensichtlich hat sie bei aller Zurückhaltung genug gesagt, um Neda und sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen.

Hearing2 560 ZTSChristianAltorfer uIm Fokus der Kopf-Kamera: Shamaneh und Neda © Christian Altorfer

Das Verhör legt an Spannung zu, als Neda dazugerufen wird. Die beiden jungen Frauen werden nun von der Heimvorsteherin gegeneinander ausgespielt. Immer dieselben Fragen, repetitiv und ermüdend, eine Falle verweist auf die nächste. Dabei wird die konkrete Situation immer diffuser. Neda streitet nicht ab, einen Freund zu haben und sie streitet auch nicht ab, die Situation, in der sie steckt, zu durchschauen. "Das hier ist eine Festung", sagt sie selbstbewusst zur Heimvorsteherin. "Wenn du mir zeigst, wie hier ein Mann reinkommen soll, dann werde ich es noch heute Abend ausprobieren."

Ein Versteckspiel, das nichts ausspricht

In einem Zeitsprung erlebt die erwachsene Shamaneh, nunmehr in Pumps statt Sneakern, nochmals das gleiche Verhör. Da steht eine Frau, die mit Stolz die ewig gleichen Fragen pariert, und doch zum Mädchen degradiert wird. In einem weiteren Zeitsprung, viele Jahre später, treffen sich Neda und Shamaneh wieder. Neda ist in Schweden, hat Fahrradfahren gelernt und ihr Baby noch vor der Geburt verloren. Shamaneh wohnt in Teheran und erwartet das zweite Kind. Sie möchte sich bei Neda entschuldigen. Aber wofür? Was sind eigentlich die Fakten, wo beginnt die Fiktion, wer spricht darüber ein Urteil und mit welchen Folgen? Im Fall von Neda, die mit 28 Jahren Selbstmord begeht, sprechen die Fakten für sich.

Für Regisseur Amir Reza Koohestani ist die Frage größer, komplexer und universaler. Indem er die Autorität ins Publikum verlagert, macht er die Zuschauenden zu Komplizen. Seine Inszenierung verzichtet weitgehend auf Interaktion. Eine Head-Kamera, die von einer Spielerin zur anderen wechselt, gibt da kaum mehr Aufschluss (wenn auch nachvollziehbaren Eindruck der totalen Kontrolle). Die Schauspielerinnen konzentrieren sich ganz auf die schnellen, dichten Dialoge. Farsi klingt, rattert und dringt fast gesungen an das Ohr der Schweizer Zuschauerin. Diese ist mit der der Entzifferung der deutschen/englischen Übertitel derart beschäftigt, dass ihr der Blick auf die Bühne gänzlich abhandenkommt. Was sie sehr bedauert. Und was wiederum der durchaus berechtigten Frage Platz macht, wie wohl junge Iranerinnen dieses Verhör betrachten und aufnehmen. Denn, so viel ist klar: Amir Reza Koohestani präsentiert mit "Hearing" ein geschicktes Versteckspiel, das nichts ausspricht und doch alles sagt. In seiner Reduktion auf die Fragen, mit denen jungen Frauen im Iran das Hirn und das Herz zerlöchert werden, steckt eine geballte Ladung Aggression, Kraft und nachvollziehbare Kritik.

 

Hearing
von Mehr Theatre Group, Teheran
Text und Regie: Amir Reza Koohestani, Regieassistenz: Mohammad Reza Hosseinzadeh, Video und Technik: Ali Shirkhodaei, Musik Ankido Darash und Kasraa Paashaaie, Lichtdesign: Saba Kasmei, Kostüme und Reuisiten: Negar Nemati.
Mit: Mona Ahmadi, Ainaz Azarhoush, Elham Korda, Mahin Sadri.
Dauer: 1 Stunde 10 Minten, keine Pause

www.theaterspektakel.ch

 

Mehr zum Theater im und aus dem Iran finden Sie in unserem Lexikoneintrag.

 

Kritikenrundschau

Bei "Hearing" lasse Koohestani "alle Hemmungen von vornherein fallen" und führe "die enge Welt iranischer Frauen ganz ohne Kostümierung vor", so Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (21.8.2015). Das sei "ein vielschichtiges Seeing, ein böse raffiniertes, filmisch unterstütztes Spiel mit Perspektiven" und "die Entlarvung und Zurschaustellung des total kontrollierten Lebens der Iranerinnen". Der Autorregisseur zeige, "wie sich im Diskurs des Misstrauens und der Anklage alles dreht und wendet und ein neues Gesicht erhält. Und wie er das zeigt!" Dies sei "ein Highlight des Theater Spektakels" und mache deutlich, dass Koohestani "nicht nur ein Wort-, sondern eben auch ein toller Filmemacher und Filmkünstler ist."

Im Landboten (21.8.2015) aus Winterthur schreibt Stefan Busz: Koohestanis Stück stelle die Frage, "wie ein einzelnes Ereignis (...) unter Umständen über den Verlauf eines ganzen Lebens entscheiden kann." Die Zuschauer befänden sich "auf der gleichen Seite wie die Befragerin, die im Publikum sitzt", und doch könne man durch die aufgesetzten Kameras gelegentlich auch den Blickwinkel der Befragten einnehmen. Eine Mini-Kritik zum Schluss: "Wer dem Spiel der Schauspielerinnen folgte, verpasste die Übertitel".

 

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