Wenn es hell in der Birne wird

von Wolfgang Behrens

Berlin, 3. September 2015. Die größte Zumutung hat man bereits nach gut 20 Minuten hinter sich – und damit vielleicht auch den interessantesten Teil des Abends. Kaum hat man den drei Performern gegenüber Platz genommen, die mit Akten und Laptop an schlichten Konferenztischen sitzen, da stellen die Schauspieler Moritz Grove und Özlem Cosen schon die Frage: "Wie viele Juden sind denn heute Abend gekommen? Können die bitte mal aufzeigen?" Sofort entsteht eine mulmige Stimmung. Warum soll man sich hier bekennen?

Sechs Personen zeigen schließlich auf. Es geht weiter mit den Fragen nach Muslimen (1), Christen (37) und Angehörigen anderer Religionen. Und dann mit inquisitorischen Nachfragen: "Der Mann dort mit Bart? Sind Sie nicht vielleicht auch ein Moslem?" "Sie haben zweimal aufgezeigt. Warum?" "Sie haben gar nicht aufgezeigt. Weshalb nicht?" Irritierenderweise senden die drei Performer keinerlei Ironiesignale, ganz sachlich geben sie sich und geschäftig. Und sofort beginnt die Diskussion, ein Zuschauer etwa erklärt, warum er nicht mitspielt: "Die Art, wie Sie gefragt haben, hat mir nicht gefallen."

Vermintes Gelände

"Götter" heißt der dreiteilige Abend über Glaubensfragen, zu dem das Deutsche Theater Berlin geladen hat (und mit dem es nebenbei sein nigelnagelneues, wirklich sehr schickes Probebühnenzentrum der Öffentlichkeit präsentiert). Und da am DT vor vier Tagen der "Nathan" Premiere hatte, stehen im ersten Teil "The Lost Ring" fünf kurze Auseinandersetzungen mit Lessings Ringparabel auf dem Programm.

Die von dem dänischen Künstler Nielsen verantwortete "Szene in der Gegenwart" jedenfalls führt dabei gleich zu Beginn ziemlich schmerzhaft vor, dass Glaubensfragen auch diesseits der scheinbar noch fernen Kriegsschauplätze ein vermintes Feld sind. Auf die religiöse Zuordnung der Zuschauer folgt eine Litanei der übelsten Klischees, die über die jeweiligen Religionen im Umlauf sind. Ein Zuschauer versucht einzugreifen: "Immerzu diese Klischees zu wiederholen, ist auch keine Lösung." Doch die Performer sind jetzt nicht mehr auf Diskussion eingestellt und ziehen ihr Ding durch, der Zuschauer verlässt aus Protest den Saal. Schließlich verliest Nielsen, maximal emotionslos und mit enigmatischer Miene, die "radikale Hasspredigt des Gottlosen", der diejenigen fürchtet, die Gott fürchten, und empfiehlt etwa den Christen an, "ihren eigenen Gottessohn in den Tod zu ficken."

The lost ring 560 ArnoDeclair uIst das Jesus? Nein, ein Schauspieler: Religionsquiz als Fernsehshow von Yannis Kalavrianos – "Who wants to be agreeable?", ein weiteres Kurzstück im Parcours "The Lost Ring"   © Arno Declair

Was diesen Auftakt so stark macht, ist, dass er gerade kein Einverständnis herzustellen versucht. Man mag sich auf die Seite des protestierenden Zuschauers schlagen – ich z.B. neige dazu –, zumindest aber tippt Nielsen die Religionsfrage nicht nur mal eben lustig an, sondern führt sofort an ihre Abgründe. Und da ist es nun mal nicht immer lustig. Danach haben es die anderen Teile von "The Lost Ring" erst einmal schwer, weil sie mit ihren meist kabarettistischen Ansätzen eigentlich nur an Oberflächen kratzen.

Wobei die Szene "Opfer" des Ungarn András Dömötör vom Katona József Theater in Budapest immerhin einen sehr bösen Witz anbietet. Katharina Schenk vom Jungen DT und der ungarische Schauspieler Lehel Kovács sollen die Opferung Isaaks durch Abraham nachspielen. Während sich Kovács als Isaak bereitmacht und dabei auf Englisch über die Gepflogenheiten des deutschen Theaters nachdenkt (nackt, brüllend, blutüberströmt), erklärt Schenk auf Deutsch, dass Kovács nicht wisse, dass er gleich wirklich geopfert werde, da dem Intendanten Ulrich Khuon im Traum ein brennender Busch erschienen sei, der das offenbart habe. Um ihre Karriere zu befördern, sei sie, Schenk, selbstverständlich zu dieser Tat bereit. Die irrwitzigen Doppelbödigkeiten, die die beiden aus dieser Situation herausholen, können durchaus an den wunderbaren Sarkasmus eines George Tabori erinnern.

Feier der Diversität

Nachdem man die fünf Szenen von "The Lost Ring" gemeinschaftlich erlebt hat, durchstreift man danach das Probenbühnenzentrum nach einem individualisierten "Götter"-Fahrplan. Dieser sieht noch den Besuch eines Bürgerchors vor, der – von Bernd Freytag glänzend und mit großem Sinn für chorische Spannungsbögen einstudiert – mit Björn Bickers "Urban Prayers" eine 20-minütige Feier der Diversität bietet. Im ständigen Selbstwiderspruch des Chores ("Wir glauben / Wir glauben nicht") entsteht ein buntes Bild vielstimmiger Harmonie, wie es Lessing gefallen haben könnte. Die Bosheiten Nielsens sind hier weit weg.

The lost ring Nielsen 560 ArnoDeclair hDer dänische Künstler Nielsen (links) mit Özlem Cosen und Moritz Grove  © Arno Declair

Schließlich führt der "Götter"-Parcours noch zu zwei (von zehn grundsätzlich möglichen) zehnminütigen Gesprächsbegegnungen mit Vertreter*innen unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Hier schlägt die Häppchen-Mentalität der ganzen Veranstaltung besonders erbarmungslos zu Buche, denn noch ehe man zu neuralgischen Punkten kommen könnte, wird man auch schon wieder aus dem Dialog herausgerissen. Zwei Antworten der erfrischend saloppen buddhistischen Nonne bleiben trotzdem hängen. "Was ist Erleuchtung?" "Wenn es hell in der Birne wird". Hab' ich's doch schon immer gewusst! "Kann man Ihre Religion beleidigen?" "Nö!" Letzteres ist wirklich, wirklich toll. Mag Nielsen sich also noch so lange vorstellen, Gottessöhne ficken zu lassen, es ist das im Grunde sein Problem, nicht das der Christen. Sein Karma, würde die Buddhistin sagen.

 

Götter
Ein Abend über Glaubensfrage in drei Teilen

The Lost Ring
Fünf Szenen von fünf Regisseurinnen und Regisseuren und zehn Schauspielerinnen und Schauspielern aus sechs Ländern
Ein Mitos21-Projekt des Deutschen Theaters in Kooperation mit Sforaris Theatre Company Athen, Katona Theater Budapest, Royal Theatre Copenhagen, Schauspiel Frankfurt, National Theatre London und Dramaten Stockholm.
Regie: András Dömötör, Alexander Eisenach, Yannis Kalavrianos, Elayce Ismail, Nielsen, Bühne und Kostüme: Veronika Witlandt, Projektleitung Christa Müller.
Mit: Özlem Cosen, Julia Dufvenius, Yorgos Glastras, Moritz Grove, Janna Horstmann, Yannis Kalavrianos, Lehel Kovács, Christian Kuchenbuch, Nielsen, Katharina Schenk, Asad Schwarz-Msesilamba, George Siena.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

Urban Prayers
Ein Chorstück von Björn Bicker
Chorleitung: Bernd Freytag, Künstlerische Mitarbeit: Karin Enzler, Projektleitung: Birgit Lengers.
Mit: Irene Baumann, Damianka Biatcheva, Finn Bielenberg, Ute Blom, Daniela Butsch, Till Drews, Christiane Dutack, Elena Sanchez Fernandez, Serge Fouha, Sarah Gohm, Iris Harnisch, Branko Janack, Arno Kleinofen, Sören Krajci, Freya Kreutzkam, Berit Künnecke, Carolin Löcher, Jochanah Mahnke, Birgit Markuse, Jennifer Mollenhauer, Johannes N. Müller, Joanna Merete Scharrel, Günter Schmidt, Theresa Scholz, Jürgen Schulz, Sarah Schulze-Tenberge, Hans Seibert, Rolf Sudhoff, Lotta Titze, Mia-Luna Titze, Raica Wackes, Bärbel Warneke, Jiyan Warneke, Sahsenem Warneke, Catherin Wehner, Waltraut Wollin, Alma Zausch, Malika Ziouech.
Dauer: 20 Minuten, keine Pause

Ten Believers
Begegnungen mit Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Glaubensrichtungen Projektleitung: Birgit Lengers, Assistenz: Lena Illek.
Mit: Osman Hadi Ahmad, Rajesh Chhabra, Moira Denzer, Thomas Eggensperger, Ulrich Engel, Christine Flegel, Anne Heimendahl, Lorenz Huber, Helena Klaus, Anagārika Kusaladhamma, Johannes Krug, Klaus Möllering, Dekel Perez, Manfred-Johannes Reher, Uta Schellenberger-Nicoubin, Petra-Beate Schildbach, Eva Schönherr, Helmut Schwarz-Schönherr, Samuel Murah Soares, Josh Weiner
Dauer: 20 Minuten, keine Pause

Gesamtdauer: 3 Stunden

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Simon Strauss, der "Götter" für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (5.9.2015) gesehen hat, ist, gelinde gesagt. enerviert: " Nein. Einfach nein. Man kann doch nicht hingehen und sagen, man spricht über Religion, und dann so tun, als wäre Kindergeburtstag. Man kann doch nicht ernsthaft einen Abend zu einem der brennendsten, gefährlichsten Themen dieser Tage veranstalten, und dann fällt einem nicht mehr dazu ein als eine Quizshow und ein bisschen spirituelles Speeddating." Eine Szene immerhin findet vor Strauss Gnade: "Nur einer will nicht so recht aufspringen auf den lahmen Quatsch-Comedy-Zug: Alexander Eisenach inszeniert ohne große Geste ein schlichtes Streitgespräch zwischen Gläubig und Ungläubig." Mehr gebe es nicht zu sehen "an diesem trüben Theaterabend."

"Götter" ist ein "launig-kauziges Programm zum übervollen Himmel", berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (5.9.2015) und wendet dann ein: Die "Erfahrung, je mehr über Religionen diskutiert wird, desto substanzloser werden die Gespräche, bestätigt sich im Großen und Ganzen auch an diesem Abend. Immerhin wurde die Lücke der Substanz oft mit Humor gefüllt." Panoramatisch wird das Programm von der Kritikerin in den Blick genommen und auf die These gebracht: "Wer nicht wie das deutsch-schwedische Ensemble von Alexander Eisenach in aller Naivität nach Grundkonstanten fragte (was ist Hoffnung?), der ironisierte besagte Glaubensmoden (...)".

 

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